Wozu Paradoxien?

Auf dem Weg zur paradoxiefähigen Organisation und Führung

Vor knapp 30 Jahren postulierte Charles Handy das Zeitalter von Paradoxien. Komplexität und Voraussetzungsreichtum – wie uns nicht zuletzt die Klimakrise, die COVID-19 Pandemie oder der Krieg in der Ukraine vor Augen führen – konfrontieren heute Gesellschaft, Organisationen und jede*n Einzelne*n mit widersprüchlichen Situationen. Widersprüchliche Erwartungen in Organisation, z. B. dass das Alte bewahrt und das Neue entwickelt wird, dass Menschen befähigt und gleichzeitig kontrolliert werden, hocheffizient gearbeitet und gleichzeitig Raum und Zeit für Innovation geschaffen wird, Kreativität und Unterschiedlichkeit gefördert und gleichzeitig eine kohäsive Kultur geschaffen wird, treten in disruptiven Zeiten deutlicher zutage. Diese und andere Widersprüchlichkeiten in den Blick zu nehmen und einen produktiven Umgang damit zu entwickeln, wird durch eine Paradoxienperspektive auf organisationale Phänomene ermöglicht und ist unser Thema.

Organisationale Paradoxien, in der Literatur oft definiert als interdependente, widersprüchliche und andauernde Elemente (Smith & Lewis, 2011), können von individueller bis zur global gesellschaftlichen Ebene sichtbar werden: So sieht sich der Einzelne widersprüchlichen Erfolgsvorstellungen gegenüber, z. B. der Gleichzeitigkeit von effizienter, gegenwartsbezogener Aufgabenerfüllung und flexiblem, kreativem Lernen für Morgen. Auf der Ebene von Gruppen geht es z. B. darum, dass Personen möglichst individuell und eigenständig sein wollen und gleichzeitig ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit haben. Auf Ebene der Gesamtorganisation stehen sich oft Spannungsfelder aus Teil und Ganzem gegenüber, wenn beispielsweise die Zielvorstellungen oder Arbeitsweisen des einen Bereichs nicht mit denen anderer Bereiche oder der Gesamtorganisation kongruent sind, der lokale Teilerfolg nicht den Gesamterfolg nach sich zieht. Oder wenn Organisationen im Bildungs-, Gesundheits-, Wissenschafts- oder Wirtschaftsbereich zunehmend Erwartungen ihrer Anspruchsgruppen ernst nehmen, neben wirtschaftlichen Zielen auch andere, mitunter konfliktäre Zwecke zu verfolgen. Derartige so genannte hybride oder pluralistische Organisationen sind inhärent widersprüchlich – eben paradox. Sie spiegeln grundlegende gesellschaftliche Spannungsfelder wie Klimawandel, Pandemien, soziale Ungleichheit wider, sind häufig widersprüchlich, komplex und bringen beim Lösungsversuch oft unbeabsichtigte und mitunter sogar gegenteilige Folgen hervor.

Luescher & Lewis (2008) bringen es auf den Punkt, wenn sie behaupten, dass das Problem nicht das Problem ist, sondern die Art wie wir darüber denken. Mit anderen Worten geht es insbesondere für Führungskräfte darum, sich selbst mit den unauflösbaren Widersprüchen in deren jeweiligen Kontext anzufreunden. Gerade in Organisationen aber reicht eine individuelle paradoxe Haltung zu Paradoxien – ein so genanntes paradoxical mindset (Miron-Spektor et al., 2017) – nicht aus, weil Führung zunehmend zu einer gemeinschaftlichen Aufgabe wird. Es geht darum, Plattformen zu etablieren, um die Situation und die eigenen Beiträge zu reflektieren, gemeinsam Paradoxien in den Blick zu nehmen, einen Umgang damit zu finden und diese Einsichten in experimentellen Schritten über geeignete Routinen, Prozesse und Strukturen in Organisationen zu verankern – wohlwissend, dass Paradoxien nicht verschwinden und damit eine immer wiederkehrende Bearbeitung erfordern.

Paradoxien treten insbesondere unter den Bedingungen von Ressourcenknappheit, Pluralismus und Veränderung auf. Ressourcenknappheit produziert Entscheidungsnotwendigkeit, gerade weil man beispielsweise nicht logisch eindeutig klären kann, welche Alternative besser ist. Pluralistische Kontexte bringen eine Vielfalt von Verständnissen, Interessen und Vorgehensweisen mit sich, die für sich genommen vernünftig, zusammengenommen aber oft absurd, widersprüchlich oder wechselseitig ausschließend erscheinen. Veränderung führt zur Infragestellung bisheriger Praxis, der damit verbundenen Verständnisse, Ziele und Interessen angesichts einer ungewissen Zukunft, von der man erwartet, dass es anders wird, aber nicht weiß, ob es besser wird.

Verständnisse von Paradoxien

Der Blick auf Paradoxien in Organisationen – in Form von Stabilität und Veränderung, Gegenwart und Zukunft, Zentralisierung und Dezentralisierungen, wirtschaftlicher und sozialer Zwecke, Wettbewerb und Kooperation, lokales und globales Agieren – richtet sich auf die Ungereimtheiten, die Dynamik, das Unklare von Organisationen. Der Blick durch die paradoxale Brille fokussiert den Kern wozu es Führungskräfte in Organisationen braucht, nämlich das (rational) Unentscheidbare zu entscheiden. Dazu müssen solche widersprüchlichen, unlösbaren Spannungsfelder auf Ebene von Individuen, Gruppen oder Organisationen rekonstruiert und beschreibbar gemacht werden. Auf dieser Basis können dann Organisationen, Teams und Einzelakteure mit Paradoxien produktiv umgehen. Denn Paradoxien können lähmen oder zum kreativen Handeln einladen, zu Teufelskreisen oder positiven Entwicklungsdynamiken – vicious oder virtuous cycles – führen, und sich strukturell oder kulturell über die Zeit fortsetzen. In der Literatur finden sich drei unterschiedliche Verständnisse von organisationalen Paradoxien.

 

Widersprüchliche Erwartungen

Spannungsfelder wie das gleichzeitige Verfolgen von Effizienz und Innovation oder von Wettbewerb und Kooperation sind Beispiele für das Verständnis von Paradoxien als widersprüchliche Erwartungen. Ein Hauptteil der Literatur folgt diesem Verständnis und untersucht auf welche Art und Weise die Akteure damit produktiv umgehen oder auch nicht (Putnam, Fairhurst & Banghart, 2016). Abbildung 1 zeigt beispielhaft einige dieser Spannungsfelder.

«Paradoxien treten insbesondere unter Ressourcenknappheit, Pluralismus und Veränderung auf.»

Das Beleuchten derartige Spannungsfelder dient der Komplexitätssteigerung, weil deutlich wird, dass die jeweiligen Elemente sich gegenseitig bedingen. Dazu drei Beispiele: 1) Wandel braucht Stabilität und Stabilität braucht Wandel. 2) Gerade weil Organisationen fortlaufend arbeiten und ihrerseits komplex sind, ändern sie sich nur von selbst, aber eben genau deshalb auch nicht (im beabsichtigten Sinne). 3) Entscheidungen (wie z. B. in der Pandemie) müssen sowohl schnell und von einzelnen sowie breit abgestützt und akzeptiert getroffen werden, um erfolgreich Wirkung zu entfalten. Auch wissen viele Führungskräfte bewusst oder unbewusst, dass sie die Steuerung einer Organisation verantworten, die sich aber nicht im trivialen Sinne steuern oder gar beherrschen lässt. Das ist vor allem bei hybriden oder pluralistischen Organisationen der Fall, deren Mitglieder sich an den unterschiedlichen Zwecken orientieren, die sich zu manchen Zeiten diametral gegenüberstehen.

«Der ironische Ausgang hebt hervor, dass das Andere bereits im Einen mit angelegt ist.»

Der Fokus auf einzelne solcher Paradoxien dient zudem der Komplexitätsreduktion. Er hilft, eine zunächst unübersichtliche Handlungssituation auf wenige Spannungsfelder zu reduzieren. Insofern kann es hilfreich sein, eine zunächst unübersichtliche Handlungssituation nach den unterschiedlichen Erwartungen zu hinterfragen, um möglichen Paradoxien auf die Spur zu kommen, wenn sich zeigen lässt, welche davon unerlässlich sind. Natürlich können Organisationen mit mehreren derartigen Spannungsfeldern konfrontiert sein (und sind es in der Regel auch), die sich ggf. gegenseitig verstärken oder ausgleichend wirken, was aber von der jeweiligen Situation abhängt (Sheep, Fairhurst & Khazanchi, 2017).

Ironischer Ausgang

Während das erste Verständnis die Erwartungen an eine Situation fokussiert, hebt das zweite Verständnis die Handlungsfolgen hervor. Seit der Antike kennt man das Ikarus-Paradoxon und mit Joseph Hellers (1994) gleichnamigem Roman auch Catch-22. Beide kennzeichnen einen ironischen Ausgang, weil statt der intendierten Wirkung das Gegenteil eintritt. Bei Joseph Heller geht es darum, sich als Soldat als verrückt einstufen zu lassen, um weiteren Kampfhandlungen zu entgehen, wobei der Vorgang selbst dazu führt, dass man als normal und damit kampfähig klassifiziert wird. In Organisationen ist ein bekanntes Beispiel die Paradoxie des Erfolgs (Miller, 1993). Sie beschreibt, dass – ganz im Sinne des immer höher fliegenden Ikarus – anhaltender Erfolg das Risiko des Misserfolgs birgt, wenn sich die Akteure zunehmend auf ihr Erfolgsrezept verlassen. «Never change a winning team», verkennt in diesem Sinne, dass die Umwelt sich ändert, also der Gegner sich an die eigene Spielweise anpasst. Vielleicht liegt hier auch der Grund dafür, dass bei vergangenen Weltmeisterschaften (2010, 2014, 2018) der jeweilige amtierende Weltmeister im folgenden Finalturnier früh ausschied. Die Perspektive des ironischen Ausgangs hebt hervor, dass das Andere (z. B. der Misserfolg) bereits im Einen (z. B. dem Erfolg) mit angelegt ist. Forschung in dieser weniger bekannten Richtung fragt beispielsweise danach, wie trotz der bekannten Erfolgsrezepte die Akteure in Organisationen den Blick auf mögliche Alternativen offenhalten und ihre Sensibilität für Veränderungen in der organisationalen Umwelt aufrechterhalten. Ziel ist es dabei, möglichst vorausschauend Veränderungen anzugehen, bevor es zu spät ist oder einschneidende Kriseninterventionen nötig werden.

Paradoxale Operationen

Ein drittes Verständnis, das Luhmanns Theorie sozialer Systeme und Günther Ortmann vertiefen, ist jenes der paradoxalen Operation. Demnach sind Entscheidungen bei genauer Betrachtung stets paradox: Eine Entscheidung setzt echte Alternativen voraus, sonst wäre es keine Entscheidung. Durch die Wahl einer Alternative entsteht aber das Gegenteil: weil eine Alternative gewählt wurde, gelten die übrigen Alternativen als schlechter. Mit anderen Worten impliziert die Operation des Entscheidens die Bedingung ihrer Möglichkeit, die Alternativen, die zugleich keine Alternativen und somit die Bedingung ihrer Unmöglichkeit sind. Gegen eine Alternative kann man sich nur entscheiden, wenn es eine bessere Alternative gibt, aber eine schlechtere Alternative ist keine Alternative. Deshalb sind Entscheidungen gleichzeitig festlegend (durch die Wahl einer Alternative) und kontingent (weil die anderen Alternativen jetzt, später, am gleichen oder einem anderen Ort hätten gewählt werden können). Forschungen in dieser Richtung beschäftigen sich beispielsweise damit, wie Organisationen und ihre Akteure die Paradoxie des Entscheidens ausblenden und einblenden, in andere Zeiten und Orte verschieben oder durch die Verschiebung an Einzelpersonen auslagern, die die anstehende Frage dann entscheiden und so die Organisation von der Paradoxie entlasten.

Alle drei Verständnisse von Paradoxien können Führungskräfte, Mitarbeitende und Berater*innen darin unterstützen, das Bild einer vorliegenden Handlungssituation zu schärfen. Je nach Verständnis treten unterschiedliche Aspekte hervor – Erwartungen, Handlungsfolgen, Entscheidungen – die wiederum miteinander kombiniert werden können, um sich so ein reichhaltiges Bild von einer ansonsten komplexen, unübersichtlichen und dynamischen Handlungssituation zu erarbeiten. Für den Umgang mit Paradoxien bzw. deren Management haben sich einige grundlegende Zugänge entwickelt, die im folgenden Abschnitt behandelt werden.

Umgang mit Paradoxien: von der Lösung zur Entfaltung

Anders als Probleme – die Auswahl zwischen zwei ansprechenden Pizzen lässt sich durch eine entsprechende Wahl lösen – kann man Paradoxien nicht zum Verschwinden bringen. Es geht im Umgang mit Paradoxien darum, sie zu entfalten, weil sich widersprüchliche Erwartungen, ironische Ausgänge oder paradoxe Operationen nicht auflösen lassen. Sie verschwinden nicht, sondern tauchen immer wieder auf, womöglich an einem anderen anderen Ort in der Organisation oder auch zu einer anderen Zeit. Statt also Paradoxien zu lösen, geht es um ihre Entfaltung. Entfaltungsansätze reichen vom Ignorieren, über den Fokus auf ein Element statt des anderen, der Suche nach verbindenden Synergien bis hin zur schrittweisen Erweiterung des Kontextes, in dem eine Paradoxie eingebettet ist (Putnam et al., 2016). Die grundlegenden Entfaltungsansätze umfassen etwa ein Entweder-oder bei dem eine Seite einer Paradoxie gegenüber der anderen priorisiert wird. Beispiele wären die Verstaatlichung gesellschaftlich relevanter Leistungen, um sie einem wirtschaftlichen Zweck zu entziehen oder im Unternehmenskontext die Steigerung von Entwicklungsinitiativen auf Kosten des aktuellen Geschäfts. Prinzipiell nimmt bei der Fokussierung des einen der Zug und damit die Spannung hin zum anderen Pol zu. Beispielsweise leidet die Effizienz bei verstaatlichten Unternehmen oder der Wunsch nach Stabilität steigert die Unruhe in Organisationen, ohne dass Entwicklungsinitiativen ihre geplante Wirkung im Arbeitsalltag entfalten.

«Anders als Probleme kann man Paradoxien nicht zum Verschwinden bringen.»

Ein weiterer Entfaltungsansatz ist das Sowohl-als-auch, bei dem beide Seiten gleichzeitig verfolgt werden. Ambidextrie beschreibt z. B. die Fähigkeit von Organisationen, sowohl effizient als auch innovativ zu sein. Beides kann beispielsweise durch Trennung von Abteilungen (räumlich), zeitlich wechselndem Fokus zwischen Erforschen und Nutzen, oder dem situativen Entwickeln neuer Optionen beim Nutzen bestehender Möglichkeiten erreicht werden. Sowohl-als-auch-Ansätze erfordern von den Mitgliedern ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz. Es besteht das Risiko, dass eine fortlaufend immer wieder anders entscheidende Führung – mal die eine, dann die andere Seite oder beide Seiten dieser Paradoxie – zu Orientierungs- und Legitimitätsverlusten führt. Einen dritten Ansatz zur Entfaltung stellt das Mehr-als dar, bei dem ein drittes Element wie etwa eine neue Perspektive oder Reflexionsräume eingeführt werden, um den (erlebten) Spannungsfeldern Raum zur Artikulation als Voraussetzung für deren Bearbeitung zu bieten. Beispielsweise kann die Einführung einer Prozessperspektive dabei helfen, die Wertschöpfung als gemeinschaftlichen Bezugspunkt für die weiteren Entwicklungen zu verstehen oder ein verändertes organisationales Selbstverständnis zu entwickeln. Dieser Ansatz erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion, um sich als Teil der Situation und sowohl als Teil der Lösung als auch des Problems zu verstehen. Diese Entfaltungsansätze sind bereits aus der indischen Rechtslogik als Tetralemma bekannt, wonach Richter sich für die eine oder die andere Partei, für eine Entscheidung zu (un-)gunsten beider oder keine von beiden entscheiden, z. B. indem sie die Klage abweisen. Das Tetralemma eröffnet den Blick für weitere Entfaltungsmöglichkeiten wie übersehene Verbindungen oder Vereinbarkeiten zwischen dem Einen und dem Anderen (beides), die Erweiterung des Kontextes der Paradoxie bis hin zu einem «all das nicht, aber auch das nicht». Es kann damit genutzt werden, um innovativ und bislang vermeintlich übersehene Perspektiven und Entfaltungsmöglichkeiten zu entwickeln.

 

Für Organisationen können die entsprechenden Zugänge zu Paradoxien wie in Abbildung 2 dargestellt werden. Die skizzierten Formen zum Umgang mit Paradoxien sind überaus kontextabhängig. Je nach Geschichte, Kultur und Zukunftsausrichtung bestehen für diese Zugänge unterschiedliche Möglichkeiten und Grenzen. Zudem schließen sich die Zugänge nicht unbedingt aus. Beispielsweise zeigte sich während der COVID-19 Pandemie in Krankenhäusern, dass diese zunächst einen Wechsel zwischen ihrem Normalbetrieb und dem Pandemiebetrieb verfolgten. Ein solches Entweder-oder erschien gerade im Frühjahr 2020 angemessen aufgrund der Ungewissheit zum Infektionsgeschehen sowie der Notwendigkeit, möglichst schnell die entsprechenden Kapazitäten bereitzustellen. Mit zunehmender Dauer der Pandemie verfolgten Krankenhäuser zunehmend parallel Pandemie- und Normalbetrieb. Letztlich haben alle Patient*innen Anspruch auf Behandlung und diese lässt sich nicht unbegrenzt aufschieben. Daher wurde von einem Entweder-oder in ein Sowohl-als-auch gewechselt, wobei auch dies mit allgemein sichtbaren Nebenwirkungen einherging, insbesondere einem zunehmendem Personalausfall.

Voraussetzungen einer Paradoxiefähigkeit

Das hier vorgestellte Paradoxieverständnis sowie die Formen der Paradoxieentfaltung deuten bereits auf die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Umgang mit Paradoxien hin. Sie zeigen, dass die Entwicklung einer Fähigkeit mit Paradoxien umzugehen  ein überaus anspruchsvoller Prozess ist, der quer durch die Organisation verläuft. Für Einzelakteure und insbesondere Führungskräfte geht es darum, eine Haltung – also ein paradoxes Mindset – zu Paradoxien zu entwickeln. Dazu gehört, Widersprüchlichkeiten auszuhalten, sie als Bestandteil der Handlungssituation zu begreifen und neben den meist augenfälligen Spannungsfeldern auch ihre wechselseitige Abhängigkeit in den Blick zu nehmen. Genauso gehört zu einer solchen Haltung ein gehöriges Maß an Kreativität, um je nach Situation einen passenden Zugang für den nächsten Schritt im Umgang mit Paradoxien zu entwickeln. Auf der Ebene von Teams und Organisationen ist eine gelingende Kommunikation eine zentrale Voraussetzung für die Stärkung von Paradoxiefähigkeit. Es geht dabei insbesondere um verankerte, strukturierte und geführte Reflexions- und Experimentierräume, in denen sich die Team- oder Organisationmitglieder zu Paradoxien austauschen und mögliche Schritte im Umgang mit den erlebten Spannungsfeldern erarbeiten. An dieser Stelle können externe Beratende in der Moderation und bei der Fokussierung auf die Spannungsfelder unterstützen, wobei sie dabei wie alle übrigen Beteiligten zwar in eigener Rolle aber eben auch Teil von Problem und Lösung werden. Derartige Haltungen und Kommunikationsräume müssen in der Organisation verankert, von Führung und Kultur honoriert und in die bestehenden Routinen und Abläufe eingearbeitet werden. Andernfalls besteht die Gefahr, sich selbst mit einer widersprüchlichen Botschaft ein Bein zu stellen – ganz nach dem Motto: «wasch mich, aber mach mich nicht nass».
Gelingt der Aufbau der individuellen, team- und organisationsbezogenen Paradoxiefähigkeit über die entsprechende Reflexion und Experimentierpraxis leistet sie einen Beitrag für eine vorausschauende Selbsterneuerung im Umgang mit den derzeitigen grand oder tough challenges. Natürlich lässt sich nicht alles, was uns zunächst seltsam oder unverständlich erscheinen mag, als Paradoxie beschreiben. Insofern ist die Entwicklung von Paradoxiefähigkeit auch nur eine Erweiterung des Repertoires an Perspektiven, die wiederum eine Basis für die Entwicklung möglicher Ansatzpunkte im Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit bietet. Statt Paralyse lädt die Paradoxieperspektive zum Handeln ein, denn: «Das Gleiche lässt uns in Ruhe. Es ist der Widerspruch, der uns produktiv macht» (Johann Wolfgang von Goethe).

 

Prof. Dr. Harald Tuckermann
Universität St. Gallen/Schweiz

Prof. Dr. Thomas Schumacher
ZOE-Redakteur, Prof. für Organisation und Führung, Kath. Hochschule Freiburg, Lehrbeauftragter Univ. St. Gallen, Partner osb-international, Wien

Dr. Marc Krautzberger
Lecturer Strategy, University of Edinburgh

 

Literatur

• Farjoun, M. (2017). Contradictions, Dialectics, and Paradoxes. In A. Langley, & H. Tsoukas (Eds.), The Sage Handbook of Process Organization Studies, 1 ed.: 87-109. Sage.
• Handy, C. (1994). The Age of Paradox. Harvard Business School Press.
• Heller, J. (1994). Catch-22. Vintage Books.
• Luescher, L., S. & Lewis, M. 2008. Organizational change and managerial sensemaking: Working through paradox. Academy of Management Journal, 51: 221-240.
• Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Opladen.
• Miller, D. (1993). The Architecture of Simplicity. Academy of Management Review, 18(1): 116-138.
• Miron-Spektor, E., Ingram, A., Keller, J., Smith, W. K. & Lewis, M. W. (2017). Microfoundations of organizational paradox: the problem is how we think about the problem. Academy of Management Journal, forthcoming: 1-50.
• Putnam, L. L., Fairhurst, G. T. & Banghart, S. (2016). Contradictions, dialectics and paradoxes in organizations: a constitutive approach. Academy of Management Annals, 10(1): 1-107.
• Sheep, M. L., Fairhurst, G. T. & Khazanchi, S. (2017). Knots in the Discourse of Innovation: Investigating Multiple Tensions in a Reacquired Spin-off. Organization Studies, 38(3-4): 463-488.
• Smith, W. K. & Lewis, M. W. (2011). Towards a theory of paradox: a dynamic equilibrium model of organizing. Academy of Management Review, 36(2): 381-401.
• Varga von Kibéd, M. & Sparrer. I. (2000). Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Carl-Auer.
• von Foerster, H. (1994). Wissen und Gewissen. Suhrkamp.


Editorial Ausgabe 1/23

Paradoxien erkennen und managen

«Genau, genau, sie sind eben widersprüchlich» – rief der CEO geradezu erleichtert im ca. 30-köpfigen Kreis seines Führungsteams und einiger Führungskräfte der nächsten Ebene aus. Was war passiert? Bei der Erarbeitung wesentlicher Anforderungskriterien für die anstehende Reorganisation hatte einer der Anwesenden kritisch angemerkt, dass es sich ja um teils widersprüchliche Anforderungen handele und man wohl kaum gleichzeitig die Effizienz steigern und für innovative Angebote sorgen könne. Mein Hinweis «herzlich Willkommen in der Wirklichkeit» führte erst zum Ausruf des CEO, dann entspann sich eine lebhafte Diskussion über die benannten widersprüchlichen Anforderungen und die eigene Entweder-oder-Perspektive.

Gegensätze wie jene von Effizienz und Innovation oder auch Stabilität und Wandel, Dezentralität und Zentralität oder kurz- und langfristigen Anforderungen treten in Organisationen zuneh­mend zutage. Mehr noch: Angesichts von Pluralität, Ressourcenknappheit und Veränderung nehmen die damit einhergehenden Spannungen zu. Dabei sind die zugrundeliegenden Paradoxien bisweilen schwierig zu erkennen.

Um es klar zu sagen: Paradoxien gehören zum Normalzustand und sind Teil jeder Organisation – keine vorübergehende Betriebsstörung, die es zu beseitigen gilt. Sie treten häufig da auf, wo Organisationsmitglieder versuchen, konkurrierenden Anforderungen gerecht zu werden. Das erfordert von Führung die Fähigkeit, Paradoxien sehenden Auges als interdependent, widersprüchlich und andauernd wahrzunehmen und zu bearbeiten, statt sie zu ignorieren, zu polarisieren, zu beschwichtigen oder darauf zu bestehen, dass sie gelöst werden müssten.

Im Schwerpunkt dieser Ausgabe schauen wir auf Spannungen in Krankenhäusern im Kontext der Pandemie, identifizieren das Paradoxien-Dreieck im VW-Dieselskandal und beschreiben die widersprüchlichen Herausforderungen interner Beratung. Wir sprechen mit Praktiker*innen und Forschenden über neue Erkenntnisse zu Paradoxien und liefern Ansätze und Instrumente zum wirksamen Umgang mit ihnen.

Die Paradoxien-Perspektive wird – so unsere Überzeugung – zunehmend wichtiger für uns und die Welt in der wir leben. Die OECD beschreibt 2018 in einem Bericht, dass der Umgang mit Spannungen und Dilemmata eine der kritischen Kompetenzen ist, um die Zukunft zu gestalten und Gesellschaft zu verändern. Wir laden Sie ein, sich mutig die Paradoxien-Brille aufzusetzen. Aber Vorsicht! Die «verschärfte» Sicht auf das widersprüchliche bunte Leben in Organisationen birgt Chance und Risiko zugleich.

Herzlich, Ihr

Thomas Schumacher


Next Generation Leadership

Abkehr von unzeitgemäßen Führungsmythen

Ein Gespenst geht um in deutschen Führungsetagen: Generationenwechsel. Es steigt eine Altersgruppe in Führungspositionen auf, die so ganz anders zu sein scheint als die (noch) dominierenden Baby Boomer. Unsere Erfahrung – gerade an der Unternehmensspitze – zeigt, dass «das Problem» aber oft nicht die nun nachfolgende Generation X/Y von Führungskräften ist. Es ist vielmehr die Generation der Baby Boomer, die sich jetzt selbst transformieren muss. Denn diese Generation ist es, die geprägt von alten Mythen der Führung – unhinterfragten Erfolgsmodellen – ihren Weg bis ganz nach oben gemacht hat.

Der Befund ist beunruhigend: Deutschland droht mit dem Generationenwechsel eine «Führungslücke» – ein Auseinanderklaffen des Bedarfs an Führung und der Bereitschaft zur Führung. Mit jüngeren Vertreter*innen der Generation X (Jg. 1965-1979) und der Generation Y (Jg. 1980-2001) steigen Mitglieder von Alterskohorten in Führungspositionen auf, die an ihrer Rolle als Führungskraft (ver-)zweifeln.

Generation Y – die Führungsmüden?

Die Bertelsmann Stiftung hat in ihrem Führungskräfte Radar 2020 eine Diagnose gestellt, die die Führungsspitzen vieler Deutscher Unternehmen beunruhigen sollte: 43,8 Prozent aller Führungskräfte der Generation Y haben Zweifel an der eigenen Führungsrolle (Abbildung 1). Dieser Zweifel ist Ausdruck tiefer Unsicherheit: Werde ich meinen eigenen Ansprüchen an Führung gerecht? Kann ich nicht als Geführte/r statt als Führende/r mehr beitragen? Bin ich sicher, dass mir Führung liegt? Empfinde ich meine Führungsverantwortung als Belastung? Viele der Jüngeren beantworten diese Fragen für sich negativ. Auch das Manager Barometer 2020-2021 der Personalberatung Odgers Berndtson zeigt kritische Befunde: Besonders stark rückläufig gegenüber den Vorjahren sind für die Generation Y Motivatoren wie «Freude an der Führungsarbeit» (45,6%; –5,1 pP) und «Einflussnahme/Gestaltungswille/Macht» (31,3%; – 14,4 pP).

Die Bertelsmann-Studie konstatiert, dass das Bild von Führungskräften, die einfach «stark» zu sein und «Druck standzuhalten» haben, nicht mehr zeitgemäß sei. Und warnt vor «Führungsmüdigkeit»: Zu viele jüngere Führungskräfte könnte ihr Zweifel dazu bewegen, prominenten Vorbildern nachzueifern – und «einfach aussteigen». Dies hat auch organisationale Ursachen wie mangelnde Klarheit in der Unternehmensstrategie und in den spezifischen Zielen bzw. Aufgaben der jungen Führungskräfte: komplexe operative Prozesse, die als Bürokratie empfunden werden; eine mangelnde Balance zwischen der geforderten hohen Identifikation mit dem Unternehmen und der persönlichen Work-Life-Balance. Und offenbar gelingt es oberen Führungskräften der Generation Baby Boomer und älterer Vertreter*innen der Generation X nicht, gelebte Werte und eine vertrauensvolle, wertschätzende Unternehmenskultur zu schaffen, die Sinnhaftigkeit der (Führungs-) Aufgabe zu vermitteln und die jüngeren Führungskräfte entsprechend ihrer persönlichen Stärken und Begabungen einzusetzen und weiterzuentwickeln. Diese Diagnose mag auf den ersten Blick naheliegend erscheinen – aber sie greift aus unserer Sicht zu kurz.

Die Frage der Verantwortung

Wir wagen eine deutlich radikalere Hypothese: Es herrscht ein eklatanter Mangel an positiven Vorbildern für das, was zeitgemäßes Führen heute bedeuten muss – gerade an der Unternehmensspitze. Das Phänomen der Führungsmüdigkeit ist nicht primär ein Problem der Generation Y. Im Gegenteil: Es sind die Baby Boomer und ältere Vertreter*innen der Generation X – gerade jene in Spitzenpositionen – die trotz aller Lippenbekenntnisse zu neuen Führungs-«techniken» und «New Work» noch zu oft ein überholtes Verständnis von Führung vorleben. Die Klage über die vermeintlich übertriebene Sinnsuche, Selbstbezogenheit, mangelnde Leistungsbereitschaft und geringe Resilienz der «Snowflakes» ist de facto Ausdruck einer Arbeitsverweigerung der Baby Boomer. Denn ihre adaptive Aufgabe wäre es, selbstreflektiv eigene Erfolgsmodelle fundamental in Frage zu stellen und sich persönlich zu inspirierenden Rollenvorbildern für die nachfolgenden Generationen weiterzuentwickeln. Nur so können «Next Generation Leaders» Führungs-Kraft entwickeln, um Deutschlands Unternehmen erfolgreich in die Zukunft zu navigieren. Die Generation der heute (noch) führenden Baby Boomer ist in der Pflicht zur «Selbst-Transformation» – und zur Überwindung ihrer überkommenen Mythen der Führung.

Die Baby Boomer und ihre Mythen

Welche Erfahrungen und Glaubenssätze haben die Baby Boomer geprägt, die heute die Top-Etagen der deutschen Wirtschaft bestimmen? Was haben diese Manager*innen während ihres Aufstiegs an die Führungsspitze in den 1990er und 2000er Jahren verinnerlicht? Der geistige Vater erfolgreichen Managements dieser Zeit war der im März 2020 verstorbene Jack Welch. Welch war 1981 bis 2001 Vorstandsvorsitzender des US-amerikanischen Industriegiganten General Electric. Er war der wirkmächtigste jener heroischen CEOs der 1980er und 1990er Jahre, die wie Popstars gefeiert wurden. Seine Überzeugung: «Business is a game, and winning that game is a total blast.» Für ihn, so schreiben Thomas Gryta und Ted Mann in ihrem Buch «Lights Out», «confrontation was his steady state». Der kometenhafte Aufstieg von GE nährte Jack Welchs Nimbus: Von 1980 bis 2000 stieg der Aktienkurs um mehr als das Vierzigfache. Selbst nach dem beispiellosen Absturz von GE blieb der Einfluss von Welchs Gedankengut ungebrochen – bis heute. Er war eine Heldenfigur – Führungskräfte unterschiedlichster Unternehmen pilgerten zum GE Training Center nach Crotonville, um zumindest ein wenig teilzuhaben an den berühmt-berüchtigten internen Trainings. Es begegnen uns bei vielen Klienten Top Manager*innen, die – so Ex-GE-ler selbstironisch – «in Crotonville gechipt worden sind»: Sie haben das Managen in schnellen Routinen, das Siegen, das Heldenhafte, das vermeintlich Angstfreie und das rationale Managen zutiefst verinnerlicht. Management nach den Methoden von GE definiert für viele Führungskräfte noch immer den Goldstandard. Diese Generation, die in den 1980er und 1990er Jahren studierte und ihre ersten Schritte ins Management machte, steht heute – über 30 Jahre später – an der Spitze vieler Unternehmen. Ist das nicht übertrieben? Nein, ist es nicht. In unseren Beratungsprozessen können wir immer wieder die gleichen Dynamiken und Verhaltensweisen in Vorständen und Geschäftsführungen beobachten, die sich als wiederkehrende typische Muster gezeigt haben. Diesen Mustern sind wir intensiver auf den Grund gegangen und haben in zahlreichen Gesprächen die dahinterliegenden Glaubenssätze erforscht. Die eindeutigsten Muster, die wir bei der Mehrzahl heutiger Top-Manager*innen wiederfanden, haben wir zu sieben Mythen verdichtet. Sie stellen in der Essenz das nach wie vor herrschende Führungsverständnis im Top Management dar. Diese «Mythen der Führung», denen zu viele Manager*innen unwillkürlich folgen, gelten nach wie vor als die Erfolgswährung in den Führungsetagen der Wirtschaft und sind Garanten einer erfolgreichen Karriere. Mythen sind dabei keineswegs neurotische Gebilde, sondern Schutzschilde gegen eine ungeschützt nicht zu ertragende Realität. Je komplexer die Welt, desto mehr halten viele Manager*innen an unhinterfragten Glaubenssätzen fest, die ihr Selbst-Narrativ stabilisieren. Aber unser Befund ist eindeutig: Diese Mythen der Führung sind gefährlich. Sie bringen dysfunktionale Verhaltensmuster hervor. So geben die Top Manager-Generation der Baby Boomer und manche ältere Vertreter*innen der Generation X ein nicht mehr zeitgemäßes Vorbild für nachfolgende Führungsgenerationen. Schon John F. Kennedy erkannte die Gefahr von Mythen: «The great enemy of truth is very often not the lie – deliberate, contrived and dishonest – but the myth – persistent, persuasive and unrealistic. Too often we hold fast to the cliches of our forebears.»
Führungsmythen sind vielen Führungskräften zur unhinterfragten Wahrheit geworden. Denn sie bieten ein Versprechen für genau das, was Führende am meisten brauchen: ein Wirksamkeitsversprechen. Aber ein trügerisches – denn Mythen geben Führung einen limitierenden Rahmen vor. Mythen sind Denk-, Sprech- und Verhaltensgebote. Sie ersetzen die eigene aktive Denkarbeit und den produktiven Zweifel am eigenen Handeln.

Sieben Mythen der Führung als Erfolgswährung im Top Management

Um in einer sich radikal verändernden Welt wirksam zu sein, müssen heutige Top Manager*innen den Mut haben, die Mythen der Führung zu durchbrechen. Erst dann können sie Führung neu denken und gestalten. Welche Mythen also leiten die Generation heutiger Top Manager*innen? Und welche Folgen haben diese in der konkreten Führungsarbeit?

1. Der Aktions-Mythos
… mit der Devise «Im Zweifel handeln – sofort» verengt den Blick des Managers auf Probleme, die schnell mit seinen Routinen zu lösen sind. Unter ständigem Handlungsdruck löst er Probleme «technisch»: routiniert im Rahmen gewohnter Strukturen, Prozesse und Systeme. Immer dann aber, wenn adaptive Herausforderungen auftreten, wenn also tief verwurzelte Überzeugungen infrage gestellt werden müssen, greifen technische Lösungsroutinen zu kurz. Jede Konfliktsituation, jedes Veränderungsprojekt hat mit solchen adaptiven Herausforderungen zu kämpfen. Die Beteiligten müssen ihre Loyalitäten neu ausrichten, Verlustängste und Unsicherheiten überwinden, Einstellungen hinterfragen und neue Verhaltensweisen erlernen. Diese adaptiven Probleme nimmt der Manager im Aktionsmodus meist nicht wahr, weil sie außerhalb seines Fokus liegen – oder er interpretiert diese Probleme extrem verkürzt. Das am weitesten verbreitete Führungsversagen entsteht daraus, dass Führungsverantwortliche versuchen, «technische» Symptom-Lösungen auf «adaptive» Herausforderungen anzuwenden. Führen jenseits des Aktions-Mythos beginnt also nicht mit schnellem «Ent»-scheiden, sondern mit dem «Unter»-scheiden: Was sind die adaptiven Elemente eines Problems – und was sind seine technischen Elemente? Manager*innen müssen dem Impuls zu handeln widerstehen und mehr Zeit in die Problem-Diagnose und die angemessene Lösungsfindung investieren.

«Mythen bieten ein Versprechen für genau das, was Führende am meisten brauchen: ein Wirksamkeitsversprechen.»

2. Der Sieger-Mythos
… mit dem verbreiteten Credo «Ich muss gewinnen, immer» reduziert die Welt vieler Top Manager*innen auf zwei Sphären: «Ich Selbst» und «die Anderen». Trotz aller Bekenntnisse zu Teamplay und Zusammenarbeit denken viele Baby Boomer dichotomisch: Der Zweite ist der erste Verlierer. Manager*innen, die dem Sieger-Mythos folgen, haben sich im Laufe ihrer Karriere mit Energie, Entschlossenheit und Siegeswillen gegen alle
Konkurrenten durchgesetzt. Ihr Glaube, auch gegen ihre Teammitglieder gewinnen zu müssen, verhindert echte Kollaboration. Deshalb treffen wir in unserer Arbeit häufig auf dysfunktionale «Pseudo-Teams» an der Unternehmensspitze. Die kollektive Intelligenz der Manager*innen bleibt dabei weit hinter den Möglichkeiten zurück. Das sind keine Teams, sondern eine Gruppe von individualistischen Siegern. Hinzu kommt: Manager*innen, die dem Sieger-Mythos folgen, agieren im Mindset eines «endlichen Spiels». Das endliche Spiel hat den Sieg eines Spielers zum Ziel – es geht darum, «Erster» zu sein. Der Ehrgeiz richtet sich darauf, Meisterspieler zu sein, der immer gewinnt – ein Alleswisser («Know it all»). Wirtschaft aber ist ein «unendliches Spiel»: Es gibt keinen klaren Sieger. Wichtigstes Ziel ist, im Spiel zu bleiben. Ein Manager, der im Mindset eines unendlichen Spiels agiert, muss sich permanent an verändernde Bedingungen anpassen. Der unendliche Spieler ist daher ein Alleslerner («Learn it all»), der auf Unvorhergesehenes und Komplexität vorbereitet ist. Führen jenseits des Sieger-Mythos beginnt also mit einer Veränderung im Kopf: vom Alleswisser im endlichen Spiel zum Alleslerner und seinem besten Beitrag für das unendliche Spiel.

3. Der Antwort-Mythos
… mit der Devise «Ich muss die Antwort wissen» lässt Top Manager*innen glauben, dass stets schnell eine Antwort parat zu haben ein Zeichen von Führungskompetenz ist. Fragen zu stellen dagegen schadet der Reputation, ist ein Zeichen von Schwäche. Das gilt ganz besonders in den obersten Führungsebenen. Impression Management – den Eindruck der Unangreifbarkeit zu wahren – ist einer der Gründe, warum sich gerade dort dieser Mythos so hartnäckig hält. Das beliebte inquisitorische Fragen – gerne auch als «Challengen» verharmlost – ist das genaue Gegenteil von inspirierendem Fragen. Die Frage ist in diesem Fall oft kein Instrument der Führung, sondern der Über-Führung. Adaptive Fragen – transformativer oder reflexiver Natur – aber sind das entscheidende Instrument des Erfolgs in einer hochkomplexen Welt. Transformative Fragen zwingen zum «infrage stellen» der eigenen Werte, Denkroutinen und mentalen Modelle. Ziel ist, neue Fakten, Perspektiven und Interpretationen zu gewinnen und so neue Handlungsoptionen im strategischen «äußeren Spiel» am Markt zu erschließen. Reflexive Fragen hingegen, wie Edgar Schein sie versteht, zielen auf das «innere Spiel», nicht auf das WAS, sondern auf das WIE. Reflexives Fragen wird im Management noch weniger praktiziert als transformatives Fragen. Denn reflexive Fragen machen implizite, fundamentale Annahmen transparent und ziehen sie in Zweifel. Führen jenseits des Antwort-Mythos beginnt also mit der mutigen Entwicklung der großen adaptiven Fragen auf der Suche nach neuen Perspektiven.

4. Der Helden-Mythos
… mit der Devise «Ich muss selbstgewiss und überlegen auftreten» steigert die Selbstüberschätzung des eigenen Wissens, der eigenen Leistungsfähigkeit und Bedeutung. Die Versuchung, den eigenen Beitrag in der Lösung von Problemen zu überschätzen, ist groß an der Unternehmensspitze – und das hat Folgen. Weil viele Manager*innen systematisch den eigenen Erfolg oder die Qualität der eigenen Führungsarbeit überhöhen, ist es dringend notwendig, dass sie sich selbst hinterfragen. Doch genau das verhindert der Helden-Mythos, denn: Ein Held macht keine Fehler. Wenn Selbstbewusstsein in Selbstüberschätzung umschlägt, wird es zur Waffe gegen andere – aber letztendlich auch gegen sich selbst. Mitstreiter resignieren oder gehen auf Vermeidungskurs. Ein Vorstandsmitglied hat es so formuliert: «Ich werfe mich doch nicht vor den Zug – was glauben Sie was passiert, wenn ich meinem CEO widerspreche? Ich werde abgebügelt.» Demotivation und das Gefühl, nichts ändern zu können, wirken ansteckend. Die Folgen sind schnell konkret spürbar: Es wird einsam um den «Selbstüberschätzer». Weil er die kollektive Leistungsfähigkeit der Führungsmannschaft nicht nutzt und sich selbst zum Nadelöhr macht, steigt seine Arbeitslast – und so fühlt er sich noch unentbehrlicher und bestätigt. Es ist ein Teufelskreis. Führen jenseits des Helden-Mythos beginnt also damit, Selbstüberschätzung zu vermeiden und einen «Beginners Mind» zu kultivieren: sich selbst als Lern-Experiment zu verstehen und aus der Komfortzone gehen – und Sinn über Ego zu stellen, um Followership für die Sache, nicht die eigene Person zu schaffen.

5. Der Angst-Mythos
… mit der Devise «Ich kenne keine Angst» ist der hinterhältigste unter den Führungsmythen. Denn jeder Mensch hat Ängste – und Manager*innen sind Menschen. In der Zwickmühle zwischen Mythos und Realität bleibt dem Manager scheinbar nur ein Ausweg: seine Ängste zu verdrängen. Manager*innen, die diesem Mythos folgen, haben ihre Ängste so «erfolgreich» aus ihrem Bewusstsein verbannt, dass sie überzeugt sind, über ihrer Angst zu stehen. Selbst dann, wenn diese Ängste für ihr Umfeld deutlich sichtbar sind – wie die Angst «nicht abzuliefern», die Angst vor Kontrollverlust, die Angst zu scheitern. Der Angst-Mythos lässt sie glauben, dass Ängste zuzulassen Schwäche bedeutet. Doch das Gegenteil ist der Fall: Wer tieferliegende Ängste unterdrückt, leugnet oder nicht anerkennt, schwächt nicht nur die eigene Führungsarbeit. Er schwächt auch die Organisation. Manager*innen mit verdrängten Ängsten erzeugen Kulturen der Angst. Risiken werden vermieden, Probleme werden vertuscht, Verantwortung wird gescheut oder permanent nach oben delegiert. Der implizite Verhaltenskodex lautet: Nur nicht den Chef verärgern und keine Fehler machen, um nicht Position und Anerkennung zu riskieren. Das Gegenmodell zur Angst-Kultur ist eine Kultur der psychologischen Sicherheit: eine Kultur, in der jeder offen seine Meinung sagen, Fehler zugeben und Fragen stellen darf – ohne Angst haben zu müssen, herabgewürdigt zu werden. In einer Kultur der psychologischen Sicherheit ist Offenheit nicht nur erlaubt, sie wird erwartet. Führen jenseits des Angst-Mythos beginnt also damit, den eigenen Ängsten bewusst zu begegnen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und Distanz zu schaffen. Und die Angst als das zu entdecken, was sie auch sein kann: ein Lehrer – oder wie Gerald Hüther es formuliert, ein «großer Modellierer».

6. Der Mythos der starken Hand
… mit der Devise «Ich darf keine Schwäche zeigen» perpetuiert das klassische Bild der Führungskraft, die vorangeht, gerade in Zeiten der Unsicherheit. In solchen Zeiten, so der Glaubenssatz, vertrauen Mitarbeitende auf klare Führung: Sichtbare Stärke, Handlungswillen, Durchsetzungskraft und auch klare Dominanz sind gefordert. Verletzlichkeit wird zwar gerne als höchste Führungskompetenz gepredigt, aber tatsächlich gilt sie in der Druckkammer des Managements nicht als Erfolgswährung. «Daring Leaders» nennt Brené Brown jene Führungskräfte, die bereit sind, diesen Mythos zu durchbrechen und sich der verunsichernden Emotion der Verwundbarkeit bewusst zu stellen – «Führungskräfte, die etwas wagen». Diese gehen bewusst das Risiko ein, sich selbst als ganzer Mensch sichtbar und damit angreifbar zu machen. Sie legen die Rüstung der Unverwundbarkeit ab und signalisieren dem Gegenüber, von dessen Integrität und guten Absichten überzeugt zu sein. So wird Verwundbarkeit zum Treibsatz von Vertrauen, der wichtigsten Grundlage für jede Führungsarbeit – ganz besonders dort, wo Vertrauen besonders rar ist: in der Hochrisikozone an der Spitze von Unternehmen. Führen jenseits des Mythos der starken Hand beginnt damit, den eigenen Panzer der Unfehlbarkeit abzulegen – und sich den Zweifeln zu stellen, die damit verbunden sind. Das ist es, was in Zeiten von Ungewissheit, Komplexität und rasanter Veränderung dringend notwendig ist. Denn in diesen Zeiten ist nur eines sicher: Führende werden Fehler machen. Die Frage ist nicht ob, sondern wann.

«Der Heilige Gral des rationalen Managements existiert nicht.»

7. Der Mythos vom rationalen Manager
… mit der Devise «Emotionen sind nicht relevant» negiert eine biologische Tatsache: Menschen sind nicht «thinking machines, but feeling machines that think». So hat es Antonio Damasio, einer der Begründer der Neurowissenschaften, auf den Punkt gebracht. Manager*innen müssen anerkennen, dass ihre Emotionen weit mehr Einfluss auf ihre Ratio haben als umgekehrt. Das (Trug-)Bild jedoch, dass Manager*innen von sich selbst haben, ist, dass ihr eigenes Denksystem unabhängig von ihren Emotionen funktioniert. Noch immer klammert man sich an das Zerrbild, Manager*innen seien der Idealtypus des «homo oeconomicus», der rein rational nach objektiven Kosten- und Nutzen-Gesichtspunkten entscheidet. Und noch immer werden Management-Teams als rationale, regelbasierte Systeme betrachtet. Doch der Heilige Gral des rationalen Managements existiert nicht. Auch Manager*innen sind eben keine modellhaften «Econs», sondern «Humans» – wirkliche Menschen, die nicht rational sind und es auch gar nicht sein können. Es waren vor allem die Kognitionspsychologie und die Neurowissenschaften, die in den vergangenen 25 Jahren überzeugende Beweise dafür vorgelegt haben, dass Descartes irrte – und wir alle mit ihm: Nicht «weil ich denke, bin ich», sondern «auch weil ich fühle, bin ich». Führen jenseits des Mythos vom rationalen Manager beginnt damit, vom Bild des rationalen Selbst Abschied zu nehmen – nicht mit dem Ziel, den Emotionen die Kontrolle zu überlassen. Sondern mit dem Ziel, zu lernen, sich der eigenen Emotionen und der anderer bewusst zu werden, um diese wirksam managen zu können. Selbstbestimmt führen heißt zu erkennen, als Manager*in in einem permanenten Spannungsverhältnis zu leben – zwischen Emotio und Ratio.

«Es braucht Mut, sich von den eigenen Routinen in der Führung und von jedem einzelnen der Mythen zu verabschieden.»

Eine Revolution von oben

Es ist genau die heute an der Unternehmensspitze dominierende Generation – die Vorstände, Geschäftsführer*innen sowie HR- und Transformationsverantwortlichen –, die sich von den Mythen der Führung verabschieden und eine «Revolution von oben» vorantreiben muss, aber zu oft genau das Gegenteil tut. Natürlich ist die Arbeit an den oben genannten organisationalen Ursachen für die Führungsmüdigkeit der jüngeren Generationen unerlässlich. Hilfreich wären sicher auch die Institutionalisierung generationenübergreifender Reflexions- und Dialogformate wie zum Beispiel Reverse Mentoring. Entscheidend ist aus unserer Sicht aber die Entwicklung einer neuen Führungskultur im Top Management in Abkehr von den Mythen der Führung. Dies ist eine kollektive Aufgabe der Führungsspitzen – aber immer auch eine individuelle Aufgabe. Alles beginnt beim einzelnen Top Manager als Vorbild. Gerade sie werfen mit ihrem Verhalten einen Schatten in ihre Teams und in ihre gesamte Organisation – einen «Shadow of Leader». Manager*innen, die verantwortungsvoll handeln wollen, muss klar sein: Nicht nur ihre expliziten, bewussten Führungsimpulse, sondern alle im Alltag sichtbaren Verhaltensweisen prägen das Handeln auf den nächsten Führungsebenen. Für Manager*innen der Baby Boomer-Generation und älterer Vertreter*innen der Generation X bedeutet das, ihre Vorbildrolle bewusst wahrzunehmen, den eigenen Schatten zu reflektieren und alle Nebenwirkungen im Blick zu behalten. Doch auch wenn das Gros der Führungskräfte unbeirrt den Mythen der Führung folgt: Es gibt positive Beispiele. Vasant Narasimhan, CEO und – wie er sich selbst nennt – «unboss» des Pharmariesen Novartis, ist ein solches Beispiel. Oder Satya Nadella, CEO von Microsoft und einer der erfolgsreichsten Top Manager unserer Zeit. Er hat Microsoft in wenigen Jahren von einem strauchelnden Software-Dino zum globalen Marktführer in Cloud-basierten, AI-getriebenen Geschäftsmodellen transformiert. Nadella ist fast schon zur Ikone eines neuen Führungsstils geworden, der den Führungsmythen diametral entgegensteht. Sein Rezept? Bescheidenheit und Empathie als Person gepaart mit Unbescheidenheit im Anspruch an Innovation und Transformation im Unternehmen. Er setzt seine hohe Ambition mit leisen Tönen um und lenkt damit den Fokus auf die Sache statt auf seine Person.

 

Das macht Mut, ist aber zu wenig. Um Forderungen der nachwachsenden Führungskräftegenerationen zu bedienen und ein positives Vorbild für Führung zu sein, müssen Top Manager*innen konsequent an ihrer Führungshaltung und ihrem Führungsverhalten arbeiten. Drei Schritte haben sich in unserer Arbeit bewährt:
Schritt 1: Der Mythen-Check
«Confront the brutal facts» ist das oberste Gebot für die bewusste Abkehr von den Mythen. Das heißt, sich konsequent anhand konkreter Situationen im Führungsalltag die eigenen Denk- und Verhaltensroutinen vor Augen zu führen. Welche Glaubenssätze und typischen Denkroutinen treiben das eigene Führungsverhalten, gerade unter Druck? Ziel ist, sich anhand der sieben Mythen und ihrer Glaubenssätze die eigenen Routinen bewusst zu machen. Und das ist nicht nur eine Aufgabe für Führungskräfte – das ist auch eine permanente Aufgabe für die Arbeit als Coach: in der Selbstreflexion oder in der Arbeit zu zweit als Reflecting Team.
Schritt 2: Das Experimentieren
Die Unsicherheit auch unter Manager*innen ist groß. Das spüren wir täglich. So beklagte ein Vorstandsmitglied eines Finanzdienstleisters irritiert, wie sein Team auf seine Ideen zur Veränderung reagiert hat. Sein Ziel war es gewesen, eine Innovationszelle in der traditionellen Konzernwelt zu schaffen. Er hatte sich selbst und sein Team zum Vorreiter für neue, agile Führung gemacht – und erlebte die Verunsicherung seines Teams hautnah. Er wurde von seinen Führungskräften mit der harschen Frage konfrontiert: «Was ist denn dann noch unsere Aufgabe in der Führung, wenn wir unsere Expertise nicht mehr einbringen sollen und die Details anderen überlassen? Nur unsere Leute befähigen, Probleme aus dem Weg räumen und optimale Bedingungen für Erfolg schaffen? Das kann doch nicht alles sein!» Solche Bedenken sind kein Einzelfall – das Loslassen und die Abkehr von den Führungsmythen als Erfolgswährung sind ein schmerzlicher, aber lohnender Prozess (Abbildung 3). Diese bewusste Abkehr und die Überwindung der Mythen liefern damit zugleich ein Koordinatensystem für ein neues Führungsverständnis im Sinne von «Next Generation Leadership», um die anstehenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen zu meistern.
Schritt 3: Das Durchhalten
Sich von den Mythen loszusagen und der nachfolgenden Generation von Führungskräften ein Vorbild zu sein, ist ein schwieriger und langer Weg. Aber er lohnt sich. Auf den Punkt gebracht hat dies ein ehemaliger Klient, der uns kürzlich eine E-Mail schrieb. Er war gleich mehreren Mythen unbeirrt gefolgt und hatte durch kritische Selbstreflexion und Mut zum Experimentieren einen neuen Weg in seiner Führungsarbeit eingeschlagen: «Ja, ich habe es gewagt. Raus aus der Komfortzone und einen neuen Weg einschlagen. Wer jetzt aber denkt, das war nach zwei Monaten geschehen, der liegt vollkommen schief. Sowohl meine Führungsmannschaft, wie auch die Mitarbeiter fragten sich sichtlich «Was will er denn jetzt schon wieder?» Nach fast zwei Jahren intensiver Arbeit haben wir heute ein vollkommen neues Miteinander. Dies gilt für das tägliche Business, aber auch beim Blick nach vorne. Und gerade dieser wird heute sehr stark durch Mitarbeiter geprägt. Nach dem Motto «Können wir das mal ausprobieren?» Aber Vorsicht – nicht alle Vorgesetzten sind auf dem Weg der Erkenntnis schon so weit gelangt.»
Es braucht Mut, sich von den eigenen Routinen in der Führung und von jedem einzelnen der Mythen zu verabschieden. Und zugleich ermöglicht dieser Mut, sich als Führungskraft neu zu erfinden und der künftigen Generation von Top Manager*innen ein echtes Vorbild zu sein, nicht nur in der Führung, auch in der Veränderung.

 

Dr. Kai W. Dierke
Partner, DierkeHouben Leadership Advisors, Schweiz, und Lecturer an der HHL Leipzig Graduate School of Management

Dr. Anke Houben
Partner, DierkeHouben Leadership Advisors, Schweiz, Lecturer an der HHL Leipzig Graduate School of Management und Coach am INSEAD Global Leadership Centre

 

Literatur

• Dierke, K.W. & Houben, A. (2021). Die Sieben Mythen der Führung. Ein Neuanfang, DH Publishing.
• Dierke, K.W. & Houben, A. (2013). Gemeinsame Spitze. Wie Führung im Top-Team gelingt, Campus.
• Dierke & Houben. Der Führungs-Podcast. Überall wo es Podcasts gibt, kostenlos, donnerstags.
• Dierke, K.W. & Houben, A. (2016). Teaming an der Unternehmensspitze. Wirksam intervenieren in Top Management Teams, OrganisationsEntwicklung, Heft 1.
• Dierke, K.W., Houben, A., Winkler, B. & Meynhardt, T. (2014). Wie aus Alpha-Managern ein Team wird. Ein Expertengespräch mit Kai Dierke und Anke Houben über Coaching von Top-Management Teams, OrganisationsEntwicklung, Heft 4.
• Winkler, B. & Kets de Vries, M. (2013). Am Wendepunkt. Ein Expertengespräch mit Manfred Kets de Vries über die Veränderungskraft von Coaching, OrganisationsEntwicklung, Heft 3.


Editorial Ausgabe 4/22

Millennials als Change-Treiber

Mit einer Mischung aus Erstaunen, Bewunderung und Unverständnis beobachten Führungskräfte derzeit die Integration jüngerer Mitarbeitender in ihr Team. Mit den Millennials starten vielerorts gut ausgebildete und selbstbewusste digital Natives in den Arbeitsprozess. Aufgewachsen im Komfort einer infrastrukturell hochentwickelten Gesellschaft, treten sie mit der Erwartung in den Beruf ein, bei sinnstiftenden Aufgaben mitzuwirken, dafür systematisch angeleitet zu werden sowie zeitlich und örtlich flexibel arbeiten zu können. Diese Ansprüche sind für die Mehrzahl etablierter Führungskräfte und Kolleg*innen durchaus achvollziehbar, da sie auch deren Sehnsüchte von guter Arbeit reflektieren. Allerdings stoßen diese oft an ihre Grenzen, solche Arbeitsbedingungen für jüngere Teammitglieder zu schaffen und gleichzeitig die Verantwortung für den unternehmerischen Wertbeitrag zu tragen, der häufig letztlich doch von erfahreneren Kolleg*­­innen sichergestellt werden muss. Denn, so die Beobachtungen zahlreicher Führungskräfte, gerade die jüngeren Generationen seien – auch weil sie es sich angesichts des Fachkräftemangels leisten können – nicht mehr bereit, ihren Teil des ungeschriebenen Deals zu leisten: Ergebnisverantwortung zu übernehmen und – wenn es mal eng wird – sich zusätzlich zu engagieren.

Unterschiedliche Arbeitsweisen und -einstellungen zwischen den Generationen bieten den Nährboden für Spannungen und Vorurteile, die die Kollaboration zwischen den vier Generationen Babyboomer, Generation X, Y und Z, die derzeit zusammenarbeiten, er­schweren. Wie ein Virus kann die Lebens- und Arbeitseinstellung der Millennials auf andere Generationen überspringen und nicht nur Unternehmenskulturen verändern, sondern auch gesellschaft­liche Wandelprozesse antreiben. Denn nachkommende Generatio­nen tendieren dazu, die Themen anzugehen, die die vorherigen versäumt oder vernachlässigt haben. Und hier gibt es bekanntlich einige interlassenschaften mit dringendem Handlungsbedarf.

In dieser Ausgabe beleuchten wir daher u. a. mit Generationen­forscher*innen und weiteren Expert*innen aus unterschiedlich­s­ten Bereichen, welche Vorstellungen von Arbeit und Leben die Jüngeren prägen sowie was sich daraus jetzt schon an Veränderungen für Organisationen abzeichnet. Zugleich suchen wir or­ganisationale Antworten darauf, wie diese Generation mit ihren Talenten in den Arbeitsprozess integriert werden kann, damit sie ihr volles Potenzial entfalten und die anstehenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Transformationen meistern kann.

Mit einem hoffnungsvollen Blick in die Zukunft wünschen wir Ihnen eine anregende Lektüre.

Herzlich, Ihre
Dr. Brigitte Winkler


Alles richtig gemacht, nichts bewirkt

Eine kurze Anleitung zum Nichtnachhaltigsein

Stehen wir mit unserer Suche nach «dem» nachhaltigen Unternehmen bzw. «der» nachhaltigen Organisation vielleicht der wirklichen Nachhaltigkeit im Weg? Oder mit Paul Watzlawick gesprochen, jede Organisation kann nichtnachhaltig sein, eine Organisation nichtnachhaltig zu machen, will jedoch gelernt sein.

Vor rund vierzig Jahren, im Jahr 1983 schrieb der österreichische Psychologe Paul Watzlawick seine «Anleitung zum Unglücklichsein». Mit der Beschreibung einer Reihe von Alltagssituationen mit hohem persönlichem Wiedererkennungswert zeigt er seiner Leserschaft im Sinne von paradoxen Interventionen auf, wie es gelingen könnte, ein glücklicheres Leben zu führen.

Ebenfalls seit rund vierzig Jahren, spätestens jedoch mit der Veröffentlichung des Brundtland-Reports «Our Common Future» im Jahr 1987, wird in Politik und Gesellschaft breit diskutiert, wie eine nachhaltige Entwicklung gelingen könnte. Im Jahr 1993 – also ein Jahr nach der Verabschiedung der Agenda 21 mit der Verpflichtung aller UN-Mitgliedsstaaten zur nachhaltigen Entwicklung auf der sogenannten Rio-Konferenz – lud der Schweizer Forstverein aus Anlass seines 150-jährigen Bestehens eine bunte Schar Vertreter*innen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu einem Seminar unter dem Motto «Nachhaltigkeit als Grundlage menschlichen Handelns» in das Kurhaus Interlaken ein. Nach verschiedenen, einführenden Impulsreferaten wurden die Teilnehmenden in gemischte Kleingruppen aufgeteilt. Aufgabe war, zu beschreiben, was Nachhaltigkeit ausmacht. Das war insofern bemerkenswert, als dass die Forstwirtschaft gemeinhin als Erfinderin der Idee der Nachhaltigkeit gilt, also die Antworten kennt (bzw. kennen sollte).

Glück und Nachhaltigkeit haben viel gemeinsam – beide gelten als schwierig erreichbare, aber unbedingt anzustrebende Ideale; beide sind kein Ziel an sich, sondern beschreiben als Prinzipien, wie etwas erreicht werden soll, etwa ein glücklicheres Leben oder eine nachhaltigere Organisation. Vierzig Jahre Reflexion, höchste Zeit also, sich auf Basis der wissenschaftlichen Literatur und anhand Erfahrungen aus der Praxis an einer «Anleitung zum Nichtnachhaltigsein» für Organisationen zu versuchen:

1. Kommunikation ist alles: «Setzen Sie einen umfänglichen CSR-Prozess auf, dessen primäre Aufgabe es ist, im Jahresbericht der Organisation zu erscheinen.» Vielen Nachhaltigkeitsinitiativen in Organisationen ist gemein, dass sie Nachhaltigkeitsfragen vor allem auf das Außenverhältnis (und über die Mitarbeitenden auch im Innenverhältnis) zur sie umgebenden Zivilgesellschaft beziehen. Das ist insofern nachvollziehbar, als dass Nachhaltigkeitsthemen mit dem Entstehen einer Risikogesellschaft vor allem von außen durch Kritik von Umweltbewegungen oder Menschenrechtsorganisationen an Unternehmen und Organisation herangetragen wurden. Illustratives (und zumindest für große multinationale) Unternehmen alarmierendes Beispiel war die heftige und öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung zwischen Greenpeace und Shell um die Versenkung der Ölpattform Brent Spar im Jahr 1995 (Grolin 1998). Compliance mit tatsächlichen, kommunizierten oder auch nur vermuteten Regeln und Normen bedeutet entsprechend, den Stakeholdern deutlich zu machen, dass sich die Organisation den Herausforderungen der Zukunftsfähigkeit vollkommen bewusst ist. Nicht überraschend ist das Thema Nachhaltigkeit deshalb häufig in der Kommunikations-/CSR-Abteilung von Organisationen eingehängt. Wichtig ist schließlich, dass wir darüber reden?

«Wichtig ist schließlich, dass wir darüber reden?»

Gerade weil Nachhaltigkeitsstrategien auf ethischen Werten basieren, werden sie nicht gleichzeitig von allen Stakeholdern als ethisch empfunden werden können. Nachhaltigkeit ist ein Containerkonzept, mit dem ethischmoralische Präferenzen in Zielkonflikten offengelegt werden (Schanz 1996). Eine gelingende Stakeholder-Kommunikation ist für die Beurteilung der tatsächlichen Nachhaltigkeit einer Organisation nicht primär entscheidend. Im Gegenteil kann sie sogar zu verschiedenen Formen der Agnogenese, d. h. einer kulturell-organisatorisch erzeugten Unwissenheit bis hin zur vorsätzlichen Blindheit führen (Bovensiepen
& Pelkmans 2020). So wusste der Ölkonzern Total nachweislich schon seit 1971 von dem Potenzial seiner Produkte für eine katastrophale globale Erwärmung, begann dann in den 1980er Jahren sich umfassend über die Probleme zu informieren, um trotzdem Ende der 1980er Jahre Zweifel an den wissenschaftlichen Grundlagen der globalen Erwärmung zu schüren, und – als die Erkenntnisse der Klimawissenschaften in den späten 1990er Jahren unausweichlich waren – diese zwar öffentlich anzuerkennen, gleichzeitig aber alle Initiativen zu fördern, um Politiken zur effektiven Kontrolle der Nutzung fossiler Brennstoffe zu verhindern bzw. zumindest zu verzögern (Bonneuil, Choquet & Franta 2021). Die tatsächliche Nachhaltigkeit einer Organisation lässt sich nur an der Kommunikation der Entscheidungsträger ablesen, wieviel und welche Werte eine Strategie wahrscheinlich produzieren und wie viele und welche Werte sie zerstören wird – wer davon betroffen sein wird und wie – und warum man sich trotzdem für diese Strategie entscheidet
(Harrison & Wicks 2021).

2. Spieglein an der Wand: «Verweisen Sie auf die umfangreiche Nachhaltigkeitsberichterstattung und Auditierungen, denen sich Ihre Organisation nach möglichst vielen Standards unterzieht.» In Weiterentwicklung der Umweltberichterstattung haben sich in den letzten Jahren zahlreiche konkurrierende Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung von Organisationen und Unternehmen herausgebildet. Berichtssysteme, wie der Standard ISO 26000, die Sustainability Reporting Standards der Global Reporting Initiative und der Deutsche Nachhaltigkeitskodex haben elaborierte Kriterien und Kennzahlenlisten entwickelt, mit denen sich die Nachhaltigkeit von Unternehmen und Organisation einfach messen lässt. Transparente Datenerhebungsvorgaben und Auditierungen sollen die Glaubwürdigkeit sicherstellen und Vergleichbarkeit von Nachhaltigkeitsberichten ermöglichen. Die aktuell laufende Anpassung der seit 2017 bestehenden EU CSR-Richtline wird zukünftig erwartbar nicht nur große Unternehmen verpflichten, transparent ihre Nachhaltigkeitsaktivitäten in die Öffentlichkeit zu spiegeln. Schönheit liegt schließlich nicht nur im Auge des Betrachters?

Umfassende Analysen von Entwicklungen mit Bezug zur eigenen Organisation, gerade auch im Vergleich zu Mitbewerbern oder über die Zeit, sind die Voraussetzungen für jede Strategieentwicklung. Nachhaltigkeitsberichte geben im Kern jedoch nur Auskunft über den Grad der Nichtnachhaltigkeit in Bezug zu nachhaltigkeitsrelevanten Indikatoren, wie z. B. dem Ausstoß an Schadstoffen (Milne & Gray 2013). Die tatsächlichen auf Nachhaltigkeitskriterien ausgerichteten Strategien machen sich jedoch an den Strategischen Mindsets, d. h. der DNA von Organisationen fest (Ritter & Schanz 2021). Zwar fragen Standards der Nachhaltigkeitsberichterstattung nach der Offenlegung von Visionen und Strategien, allerdings in deskriptiver Form. Aussagen über die Nachhaltigkeit einer Organisation lassen sich daraus, wenn überhaupt, nur qualitativ ableiten.

3. Bottom-up Partizipation: «Organisieren Sie einen möglichst breiten Partizipations-Prozess mit Ihren Stakeholdern, um ein gemeinsames Nachhaltigkeitsverständnis für die Organisation zu entwickeln.»
Im Gegensatz zur Wahrnehmung im Alltag der meisten Menschen, spielen die Gefährdungen der natürlichen Umwelt in der professionellen Ausbildung und den beruflichen Erfahrungen von Mitgliedern des Top Managements von Organisation in der Regel keine Rolle. Das ändert sich erst in jüngster Zeit mit dem Einzug von speziellen Chief Sustainability Officers in die C-Suite (Peters, Romi & Sanchez 2019). Gleichzeitig haben die überzogene Steuerungseuphorie operativer Planungsansätze und der scheinbar fatalistische Steuerungspessimismus systemischer Managementansätze zu einer gewissen Ernüchterung geführt, was die hierarchische Festlegung von ethisch-moralischen Handlungsgrundsätzen in Organisationen betrifft. Im Einklang mit den allgemein in der Zivilgesellschaft zunehmend erhobenen Forderungen nach Beteiligungsprozessen, hat sich auch in Organisationen die Vorstellung durchgesetzt, dass ein wirklich tragfähiges Nachhaltigkeitsverständnis nur unter breiter Beteiligung der Stakeholder der Organisation, zumindest jedoch ihrer Mitglieder, bottom-up erarbeitet werden kann. Traditionell wird das Thema Nachhaltigkeit deshalb in der Unternehmenskommunikation oder auf den mittleren Organisationsebenen verankert (Raffael & Wörner 2021). Eine Treppe kehrt man schließlich auch von unten nach oben?

Stakeholderprozesse können hilfreich sein, um verschiedene Akteursperspektiven zu eruieren und um Glaubwürdigkeits- und Verständigungspotenziale einer Organisation aufzubauen. Untersuchungen zeigen jedoch, dass es für die Nachhaltigkeits-DNA einer Organisation nicht wirklich darauf ankommt, ob tatsächlich eine breite Partizipation aller Stakeholder stattfindet oder ob diese als Bottom-Up-Prozesse organisiert werden (Abbildung 1, Lozano & von Haartman 2018).

 

Nachhaltigkeit ist kein Sach-, sondern ein Formalziel und wird in der Essenz der Existenz (Purpose) einer Organisation reflektiert. Das jeweilige Nachhaltigkeitsverständnis muss dabei nicht zwangsläufig explizit formuliert sein. Es kann auch nur implizit die Absicht der Organisation ausdrücken, welche Werte geschaffen werden sollen, welche Leistungen dafür notwendig sind und welche Wirkungen für die Umwelt im weiteren Sinne damit verbunden sind. Klar ist jedoch, Purpose wurzelt in den «inspirierenden Überzeugungen und Verpflichtungen» der Führungsspitze einer Organisation, bei Unternehmen oft des Gründers oder Vorstandsvorsitzenden (George et al. 2021). Das Verständnis von Nachhaltigkeit ist nicht an eine CSR-Abteilung, und schon gar nicht an die Kommunikationsabteilung delegierbar.

4. Tripple-Bottom-Line: «Formulieren Sie als Ziel Ihrer Organisation den dauerhaften Ausgleich zwischen den ökonomischen, den ökologischen und den sozialen Wirkungen bzw. Leistungen.»
In Politik und Gesellschaft hat sich das Verständnis durchgesetzt, dass unter dem Begriff der Nachhaltigkeit ein dauerhafter Ausgleich zwischen den ökonomischen, den ökologischen und den sozialen Wirkungen bzw. Leistungen angestrebt wird.

Dem sogenannten «Tripple-Bottom-Line»-Ansatz folgend, zielen der Nachhaltigkeit verpflichtete Organisation entsprechend darauf ab, eine möglichst große Schnittmenge von Zielen aus den drei Säulen zu formulieren. Die Suche nach der Harmonie in der Integration der drei Zieldimensionen spiegelt sich auch in den Nachhaltigkeitsberichten und der Nachhaltigkeitskommunikation von Unternehmen. Nachhaltigkeit ist schließlich ein Harmonie- und kein Konfliktkonzept? Seinen Ursprung hat das Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit in den internationalen Verhandlungen Anfang der 1990er Jahre zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern zum Konzept der nachhaltigen Entwicklung (Purvis, Mao & Robinson 2019). Schon damals diente die Figur des «gleichzeitigen und gleichberechtigen Umsetzens von umweltbezogenen, wirtschaftlichen und sozialen Zielen» offensichtlich vor allem der rhetorischen Befriedung politischer Konflikte. Im Zuge der zunehmenden Sensibilisierung einer breiten Öffentlichkeit für globale Umwelt- und (später auch) Gerechtigkeitsfragen sowie der Kritik an den scheinbaren Beharrungskräften bestehender Institutionen und Strukturen, hat das Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit als Figur der rhetorischen Scheinharmonisierung zunehmend auch Eingang in die Diskussion um die Nachhaltigkeit von Organisationen gefunden. Von Seiten der Wissenschaft – vor allem aus den Bereichen des Schutzes und der Nutzung von natürlichen Ressourcen, in denen das Konzept der Nachhaltigkeit ursprünglich geprägt wurde – wurde schon früh darauf hingewiesen, dass sich ökologische, ökonomische und soziale  Ressourcen nur sehr bedingt gegeneinander aufwiegen und auch nicht unabhängig voneinander realisieren lassen. Konsequenterweise propagieren die Umweltsozialwissenschaften heute weit überwiegend das Konzept des Vorrangmodells einer «starken Nachhaltigkeit».

Naturressourcen und damit Naturkapital sind demnach nur sehr beschränkt durch Human- oder Sachkapital ersetzbar, entsprechend erfordern ökologische Belange Vorrang bei der Bewältigung von Zielkonflikten. Nur innerhalb ökologischer Leitplanken bestehen Spielräume für wirtschaftliche und soziale Entwicklung, ökologischen Belangen soll entsprechend Vorrang eingeräumt werden. Für Organisationen heißt dies, sich konsequent als «einhundertprozentige Tochterfirmen der Umwelt» zu definieren (Sterner 2014), und notwendige Zielkompromisse zu Lasten der natürlichen (und in einem zweiten Schritt der sozialen) Umwelt transparent zu begründen und Ansatzpunkte für ihre Beseitigung klar zu benennen.

5. Darauf kommt es nicht an: «Versichern Sie sich der Unbedeutendheit der Wirkungen Ihrer Organisation auf die Umwelten, indem Sie die Systemgrenzen entsprechend geschickt wählen.»
Eines der aktuell herausragenden Ziele in den Nachhaltigkeitsberichten von Unternehmen ist die Klimaneutralität. Als Standard hat sich durchgesetzt, nicht nur die Emissionen der eigenen Organisation (Scope 1), sondern auch die aus der Erzeugung von eingekaufter Energie (Scope 2), sowie aller übrigen Emissionen, die durch die Unternehmenstätigkeit verursacht werden, also z. B. bei Zulieferern, Dienstleistern, Mitarbeitern oder Endverbrauchern (Scope 3), zu bilanzieren. Ola Källenius, CEO der Mercedes-Benz Group, lässt sich in diesem Zusammenhang mit der Notwendigkeit vierdimensional zu denken zitieren: bezogen auf die Lieferantenkette, die eigene Produktion, das Produkt und dessen Nutzung bei den Kunden (Raffael & Wörner 2014). Das gilt auch für alle anderen Umweltwirkungen: je weiter man die Systemgrenzen in der Betrachtung zieht, desto relativ geringer werden die Auswirkungen der eigenen Organisation. Aus Sicht der Zulieferer des Zulieferers eines Zulieferers erscheinen die eigenen Umweltwirkungen im Vergleich zur gesamten Wertschöpfungskette vernachlässigbar. Selbst Organisationen und Unternehmen, die sich explizit zu einem starken Nachhaltigkeitsverständnis bekennen, betonen ihren relativen Beitrag zur Umweltzerstörung. Insofern liegt die große Vielzahl von KMU, also rund 99 Prozent der Unternehmen in Deutschland, richtig, wenn Nachhaltigkeitsfragen in den organisatorischen Handlungen keine (zentrale) Rolle spielen: der Flügelschlag eines Schmetterlings kann schließlich keinen Orkan auslösen?
Vierdimensional denken, ist im Kontext von Klimaneutralität sinnvoll, wenn es darum geht, Verantwortung für die Vermeidung bzw. Kompensation von klimaschädlichen Emissionen zu übernehmen. Ein starkes Nachhaltigkeitsverständnis zwingt jedoch nicht nur dazu, mehrdimensional zu denken, sondern vor allem in Systemen, d. h. die Wirkungen einer Organisation nicht nur in ihren Größenordnungen, sondern in Bezug zu den Dynamiken des Umsystems in Beziehung zu setzen. So ist z. B. der Ausstoß von Aerosolen am Boden gänzlich anders zu bewerten, als der Ausstoß von Aerosolen des Flugverkehrs in großen Höhen. Wirksame Nachhaltigkeitsstrategien erfordern Ursache-Wirkungsanalysen unter Einbeziehung von Skalen-und Verbundeffekte und die Berücksichtigung daraus möglicherweise resultierende Paradoxien im Systemverhalten, wie Rebound-Effekte (der «Wasserbetten-Effekt») (Santarius 2014). Aufgrund der großen Komplexität den eigenen Beitrag als irrelevant einzustufen und daher einfach Nichtzuhandeln ist der falsche Weg. Die Festlegung einer Nachhaltigkeitsstrategie für eine Organisation muss als permanenter Lernprozess gestaltet werden (Abbildung 3) – wie das Ansteuern eines Ziels an einem unendlichen Horizont; ist der Horizont erreicht, öffnet sich schon der nächste Horizont und erfordert jeweils eine Überprüfung und ggfs. das Nachjustieren des gewählten Kurses. Auch Kleinvieh macht Mist, und vielleicht sogar den entscheidenden.

6. Effizienzrendite: «Erhöhen Sie mit allen Mitteln die stofflichenergetische Effizienz der Produktions- und Betriebsprozesse Ihrer Organisation.»
Die Steigerung der Ressourceneffizienz in einer Organisation – weniger Ressourcenverbrauch, mehr Ertrag – ist eine wichtige Strategie für eine umweltschonende Nutzung von natürlichen Ressourcen. Sie verspricht sowohl in betriebswirtschaftlicher wie in ökologischer Perspektive vorteilhaft zu sein und gilt in der Wirtschaft deshalb als besonders anschlussfähig. Nicht nur, aber insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen, stellt die systematische Analyse und Optimierung der Produktions- und Betriebsprozesse im Hinblick auf den Verbrauch von Material und Energie oftmals ein wichtiger Einstieg in das Themenfeld der Nachhaltigkeit überhaupt dar (Löbbe et al. 2019). Effizienzstrategien sind unzweifelhaft Win-win-Lösungen, schließlich bestimmt der Verbrauch den Gebrauch?

«Der Fokus auf stoffliche und energetische Effizienz verstellt den Blick.»

Der Fokus auf stoffliche und energetische Effizienz, d. h. mengenorientierte Strategien, verstellt den Blick, dass andere Nachhaltigkeitsstrategien vielfach ein höheres Maß an nachhaltigem Problemlösungspotenzial haben. So zielen Konsistenzstrategien auf die Veränderung der Qualität der Stoff- und Energieströme ab, indem sie nach Technologien, Stoffen und Betriebsprozessen suchen, die umweltverträglicher sind und Stoffkreisläufe möglichst zirkulär gestalten. Ganz zu schweigen von Suffizienzstrategien, die Produktions- und Serviceprozesse hinsichtlich ihrer Notwendigkeit grundsätzlich hinterfragen und innovationsfördernde Weitung von Organisations- und Geschäftsmodellen befördern können (Maurer 2019). Einfach den alten Diesel-PKW durch ein CO2-effizienteres E-Auto zu ersetzen, macht noch keinen zwangsläufigen Unterschied für eine bessere Umwelt, je nachdem bewirkt es sogar das Gegenteil.

7. Es muss sich rechnen: «Gestalten Sie Ihre Organisations- und Produktionsprozesse so, dass möglichst viele Kosten externalisiert werden.»
Keine Unternehmung oder Organisation ist vermutlich grundsätzlich abgeneigt, ökologische und soziale Aspekte stärker in ihren Produktions- und Organisationsprozessen zu berücksichtigen. Die Erwartung beziehungsweise auch Erfahrung, dass die freiwillige Berücksichtigung von Umweltgütern und die damit verbundenen erhöhten betrieblichen Aufwendungen sich nicht über höhere Erträge aus den Märkten decken lassen, hält sie allerdings von einer tatsächlichen Umsetzung ab. Die betriebswirtschaftliche Verantwortung zwingt Unternehmen und Organisationen, sich mit ihren Geschäftsmodellen an den regulativen Mindestvorgaben zu orientieren und die Kosten für Umweltgüter zu externalisieren. Nur was einen Preis hat, hat schließlich einen Wert?

Was aber würde es kosten, wenn die Natur eine Rechnung stellen würde? Als erstes Unternehmen weltweit hat die Firma Puma im Jahr 2011 eine umfassende ökologische Gewinn- und Verlustrechnung entlang der gesamten Lieferkette veröffentlicht. Die Kering Group als Mutterkonzern und andere Unternehmen sind inzwischen gefolgt. Die methodischen Annahmen lassen sich immer noch kritisieren und unmittelbar höhere Erträge haben sich erwartungsgemäß auch nicht ergeben. Entscheidender Vorteil für die Organisationen ist jedoch die Wesentlichkeitsbestimmung der Nachhaltigkeitshandlungsfelder. Ohne wirkliches Verständnis der Wertschöpfung einer Organisation bleiben Nachhaltigkeitsmanagement rhetorischer Zuckerguss und Nachhaltigkeitsberichterstattung nichts anderes als eine «Ansammlung von Projektbeschreibungen, anekdotischen Erfolgen und Absichtserklärungen» (Gaggl 2021).

Schauen Sie über Ihre eigene Organisation und prüfen Sie, wo Sie schon heute erfolgreich die Anleitung bedienen.
Watzlawick schreibt am Ende seiner Anleitung zum Unglücklichsein: «Glaubten wir es nämlich, dann wüßten wir, daß wir nicht nur die Schöpfer unseres eigenen Unglücklichseins sind, sondern genausogut unsere Glücklichkeit selbst schaffen könnten» (Watzlawick 2003). Übertragen auf die Frage der Nachhaltigkeit von Organisationen könnte es daher wert sein, zu prüfen ob nicht gerade auch viele der gut gemeinten Aktivitäten und Ansätze eine nachhaltige Organisation zu gestalten, der Nachhaltigkeit der Organisation nachhaltig im Wege stehen.

Dabei besteht ein entscheidender Unterschied zwischen Glück und Nachhaltigkeit: Glück ist ein emotionales Gefühl, das man nicht erzwingen, sondern nur dessen Eintritt wahrscheinlich machen kann. Nachhaltigkeit dagegen ist als ethisches Prinzip nichts anderes als ein Anspruch an die Organisation selbst, dessen Niveau gezielt formuliert und konkret durchgesetzt werden kann. Die in der Praxis und Theorie entwickelten Modelle zur Bestimmung des Nachhaltigkeit-Reifegrads können helfen, das Anspruchsniveau der eigenen Organisation im Vergleich mit anderen und über die Zeit zu bestimmen (Correia et al. 2017). Sie entbinden die Organisation jedoch nicht von der individuellen Verantwortung, sich in der Komplexität von unvermeidlichen Trade-offs, Widersprüchen und Paradoxien inhaltlich konkret festzulegen und diese Festlegung diskursiv zu legitimieren.

Epilog
Bleibt noch die Frage, zu welchem Schluss die Teilnehmer*innen der Veranstaltung des Schweizer Forstvereins gekommen sind, was Nachhaltigkeit ausmacht. Das Ergebnis der Kleingruppenarbeit sollte jeweils zu einem Poster für die Diskussion im Rahmen einer Poster-Ausstellung ausgearbeitet werden. Während die allermeisten Gruppen elaborierte Poster mit unterschiedlichsten Definitionen und Kriterien von Nachhaltigkeit entwickelten, hatte eine Gruppe einen aus dem Waschraum des Kurhauses entwendeten Spiegel an ihrer Posterwand befestigt und daruntergeschrieben: «Was Nachhaltigkeit ausmacht? Eigentlich weißt Du es schon selbst am besten!» Oder mit Watzlawick geendet: «So hoffnungslos einfach ist die Lösung!»

 

Prof. Dr. Heiner Schanz
Professor für Environmental Governance, Inst. F. Umweltsozialwissenschaft und Geographie, Dekan Fakultät für Umwelt und Natürliche Ressourcen, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

 

Literatur

• Bonneuil, C., Choquet, P.-L. & Franta, B. (2021). Early warnings and emerging accountability: Total’s responses to global warming, 1971-2021. Global Environmental Change.
• Bovensiepen, J. & Pelkmans, M. (2020). Dynamics of wilful blindness: An introduction. Critique of Anthropology, 40(4).
• Correia, E., Carvalho, H., Azevedo, S. G. & Govindan, K. (2017). Maturity Models in Supply Chain Sustainability: A Systematic Literature Review. Sustainability, 9(1), 64.
• Gaggl, P. (2021). Nachhaltigkeitscontrolling: Wie nichtfinanzielle Informationen zum Werttreiber werden. In: R. Eschenbach, J. Baumüller, & H. Siller (Eds.), Funktions-Controlling: Praxishandbuch für Unternehmen, Non-Profit-Organisationen und die öffentliche Verwaltung. Springer Fachmedien.
• George, G., Haas, M. R., McGahan, A. M., Schillebeeckx, S. J. D. & Tracey, P. (2021). Purpose in the For-Profit Firm: A Review and Framework for Management Research. Journal of Management.
• Grolin, J. (1998). Corporate legitimacy in risk society: the case of Brent Spar. Business Strategy and the Environment, 7(4).
• Harrison, J. S. & Wicks, A. C. (2021). Harmful Stakeholder Strategies. Journal of Business Ethics, 169(3).
• Löbbe, S., König, W., Büttner, S. M. & Schneider, C. (2019). Entscheidung für Energieeffizienz: Auswirkungen von Kultur, Verhalten und Technikdiffusion in produzierenden KMU in BW. Reutlingen University.
• Lozano, R. & von Haartman, R. (2018). Reinforcing the Holistic Perspective of Sustainability: Analysis of the Importance of Sustainability Drivers in Organizations. Corporate Social Responsibility and Environmental Management, 25(4).
• Maurer, C. (2019). Unternehmerische Suffizienz, persönliches Glück und ökologische Verantwortung. In: P. Buchenau (Ed.), Chefsache Zukunft: Was Führungskräfte von morgen brauchen. Springer Fachmedien.
• Milne, M. & Gray, R. (2013). W(h)ither Ecology? The Triple Bottom Line, the Global Reporting Initiative, and Corporate Sustainability Reporting. Journal of Business Ethics, 118(1).
• Peters, G. F., Romi, A. M. & Sanchez, J. M. (2019). The Influence of Corporate Sustainability Officers on Performance. Journal of Business Ethics, 159(4).
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• Raffael, T. & Wörner, S. (2021). Von Haltung zu Handlung – Wie Deutschlands CEOs ihre Unternehmen auf Nachhaltigkeitskurs bringen, Futurist-Stiftung, Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, Bain & Company.
• Ritter, M. & Schanz, H. (2021). Carsharing Business Models’ Strategizing Mindsets Regarding Environmental Sustainability. Sustainability, 13(22).
• Santarius, T. (2014). Der Rebound-Effekt: ein blinder Fleck der sozial-ökologischen Gesellschaftstransformation. GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society, 23(2).
• Schanz, H. (1996). Forstliche Nachhaltigkeit – Sozialwissenschaftliche Analyse der Begriffsinhalte und Funktionen, Schriften aus dem Institut für Forstökonomie, Uni Freiburg.
• Sterner, M. (2014). Energiewende dahoam. In: Süddeutsche Zeitung vom 3. 3. 2014.
• Watzlawick, P. (2003). Anleitung zum Unglücklichsein. Piper.

 

 


Editorial Ausgabe 3/22

Mission Possible

Stellen Sie sich vor, Sie kommen abends an Ihrem Urlaubsort an, wachen am nächsten Morgen voller Vorfreude auf, öffnen die Fenster … und blicken auf einen riesigen Parkplatz. So ist es der US-Amerikanischen Sängerin Joni Mitchell 1969 auf ihrer Ha­waii-Reise ergangen. Sie tat darauf, was man als kreativer Mensch tut: Sie schrieb ein Lied. «Big Yellow Taxi» gilt als der erste Pop-Song, der Umweltschutz offen thematisiert: «Sie haben das Paradies gepflastert und einen Parkplatz daraus gemacht…».

Während wir noch immer die Potenziale und Herausforderungen einer digitalen Gesellschaft entdecken, stehen wir in der seit Jahren schwelenden ökologischen Krise mittlerweile an einem kritischen Wendepunkt. Anders als in der Digitalisierung, die in vergleichsweise kurzer Zeit mitunter radikale Veränderungen in Organisationen ausgelöst hat, ringen wir auch 50 Jahre nach der durch den Club of Rome veröffentlichten Studie «Die Grenzen des Wachstums» weiterhin um passende Antworten auf menschengemachte Umwelt- und Klimaveränderungen. Dabei sind die Beharrungskräfte, die einem kollektiven Handeln skeptisch gegenüberstehen, mindestens so kritisch wie die Krise selbst – die Knowing-Doing-Gap lässt grüßen.

Einer der Gründe hierfür ist, dass Antworten auf eine ökolo­gische Wende nur im Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft gefunden werden können. Diese nicht immer widerspruchsfreie Konstellation hat Martin Spilker für die ZOE analysiert. Dirk Mess­ner, Präsident des Umweltbundesamtes, fordert, dass Klimaschutz zum Geschäftsmodell und Klimaneutralität zu einem internationalen und exportfähigen Markenzeichen des Wirtschaftsstandorts Deutschland werden muss. Schon heute sehen Unterneh-men die Idee, einen Beitrag zu einer lebenswerten Welt zu schaffen, nicht mehr im Widerspruch zu erfolgreichem unternehme­rischem Handeln. Andrew Winston nennt dies «Netto-positiv». Yousef Hamoudah zeigt uns Chancen für ökologischen Wandel am Beispiel der Modebranche und Tom Bestgen gewährt entsprechende Einblicke in den Bausektor. Ihren Werkzeugkasten können Sie mit dem datenbasierten Nachhaltigkeitsmanagement von Eva Glanze erweitern. Und mit seiner Anleitung zum Nicht-nachhaltigsein wirft Heiner Schanz einen schonungslosen Blick auf die Irrungen und Wirrungen gelebter Organisationspraxis im Umgang mit Nachhaltigkeit.

Keine Frage: Organisationen übernehmen zunehmend Ver­antwortung für eine lebenswerte Welt nachkommender Generationen und beginnen sich mit Blick auf ökologischen Wandel neu aufzustellen. Dabei geht es nicht darum, Unmögliches zu ver­sprechen, sondern Mögliches zu tun.

Herzlichst, Ihr
Oliver Haas


Macht spielen

Mikropolitik gegen und für Geschlechtergerechtigkeit

Vor über 40 Jahren beschreibt Betty Harragan in ihrem Ratgeber «Games Mother never taught you. Spiele, die Mutter dir nie beibrachte» (1977) den Umgang mit männlichem Machtverhalten im Arbeitsleben als ernstes Spiel mit Regeln, die jeder Mensch beherrschen muss, der gewinnen will. Es ist dabei weder verharmlosend noch irreführend, von «Machtspielen» zu sprechen. Die Spielräume, die es zu nutzen gilt, haben nichts Verspieltes an sich, sondern sind Spiele im Sinn von Wettkämpfen, mit Gewinner*innen und Verlierer*innen. Das war damals so und ist heute immer noch so.

In Leitungsfunktionen haben wir es mit einem historisch relativ neuen Phänomen zu tun: der Konkurrenz zwischen Frauen und Männern um Positionen und Ressourcen. Lange Zeit waren Leitungsfunktionen für Frauen gänzlich tabu. Dann wurden sie zwar formal zugelassen, aber es war legitim, Frauen Führungsfähigkeiten abzusprechen. Erst seitdem Frauen gut ausgebildet sind und sich die gesellschaftlichen Werte hin zu mehr Egalität gewandelt haben, erscheint ihre geringe Teilhabe an Leitungspositionen als Skandal. Leitungspositionen sind in der Regel mit formalen Machtbefugnissen verknüpft. Jede Führungskraft macht jedoch die Erfahrung, dass Macht und Ohnmacht nahe beieinanderliegen, einem oft die Hände gebunden sind und formale Machtverhältnisse ausgehebelt werden.

Macht ist demnach nicht etwas, das Organisationsmitglieder haben, sondern etwas, das sie nach Maßgabe der Gegenmacht und der Widerstände, auf die sie treffen, in konkreten Situationen ausüben. Jedes Organisationsmitglied ist in ein Netzwerk von Beziehungen eingebunden, in dem es auf andere Mitglieder trifft, die alle mehr oder weniger zielstrebig mit dem Erwerb von Machtmitteln beschäftigt sind. Macht mag ungleich verteilt sein, aber sie ist immer verteilt.

Als Beziehungsphänomen wird Macht erst greifbar, wenn man die Ebene der Handlungen und damit der Machttaktiken betrachtet. Hier wird Macht konkret, sie wird aufgebaut, ausgebaut und genutzt, und dies ganz besonders auf Leitungsebenen. Auf der Handlungsebene wird der Aufbau und Einsatz von Macht als Mikropolitik bezeichnet. Mikropolitik heißt: Organisationsmitglieder bringen ihren Eigensinn ein und folgen nicht passiv der Unternehmenspolitik, sondern machen ihre eigene Innenpolitik oder «Tagespolitik». Die am Eigennutz orientierten Akteur*innen greifen auf eine umfangreiche Palette mikropolitischer Taktiken zurück: Informationen filtern, sich dumm stellen, Intrigen spinnen, aufs Abstellgleis schieben, eine Show abziehen, Sachzwänge schaffen, einschleimen, aussitzen, Seilschaften bilden. Oder wie es sachlicher in wissenschaftlichen Studien formuliert wird: Rationales Argumentieren, Hervorrufen von Begeisterung, einschmeichelndes Verhalten, Appelle an Loyalität und Freundschaft, Tauschgeschäfte, Koalitionsbildung, Druck und Rechtfertigungsstrategien. Solche Taktiken werden tagtäglich am Arbeitsplatz eingesetzt, ohne dass sie (immer) als solche erkannt werden. In der Perspektive von Macht und Mikropolitik sind Organisationen Arenen interessengeleiteter Interventionen und Aushandlungen.

Was bedeutet das für Frauen in Leitungsfunktionen? Zunächst handeln sie unter bestimmten Rahmenbedingungen, nämlich dass sie in der Regel gegenüber Männern in der Minderheit sind. Die Zahl der Frauen in Führungspositionen steigt langsam an, entspricht aber längst nicht ihrem Anteil an qualifizierten Arbeitskräften. Sie dringen als relativ «Neue» in eine klassische Männerdomäne ein, die lange, je nach Bereich und Branche, ohne Frauen ausgekommen ist und das auch nicht sonderlich bedauert hat. Die typische Führungskraft ist aber nicht nur zahlenmäßig meist ein Mann, sondern sie wird auch männlich stereotypisiert. D. h., männliche Stereotype wie Aktivität, Kompetenz, Durchsetzungsvermögen und Leistungsstreben überschneiden sich laut Studienergebnissen mit dem Bild vom idealen Manager, und zwar sehr stabil trotz neuer Anforderungen an «soft skills». Stereotyp maskuline Eigenschaften werden als erwünschter für einen guten Manager angesehen als stereotyp feminine Eigenschaften wie Empathie oder Beziehungsorientierung. Es herrscht nach wie vor das «think-manager-think-male-Phänomen».

Zwar wirken Geschlechterstereotype im Allgemeinen und das männliche Managerideal im Besonderen im modernen Gleichbehandlungs- und Führungsdiskurs ziemlich antiquiert, aber gerade deshalb müssen Frauen in Führungspositionen diese kennen und erkennen. Häufig werden die damit verbundenen Probleme nicht ernst genommen oder es wird versucht, mit Sachverstand und hervorragender Leistung von sich zu überzeugen. In der mikropolitischen Arena geht es aber nicht um Leistung, sondern um Eigeninteressen. Dies zu verschleiern und den Leistungsmythos aufrecht zu erhalten trägt dazu bei, dass Frauen häufig übermäßig viel Energie in ihre Leistung investieren, ohne dass sich der gewünschte Erfolg einstellt. Denn die neue Konkurrenz durch Frauen wird mit Hilfe von Stereotypisierungen abgewehrt. Direkter Ausschluss wäre heutzutage nicht mehr legitim. Der sog. interne Ausschluss von Frauen läuft subtil ab: Er bedeutet Ausschluss trotz Mitgliedschaft und zeigt sich beispielsweise darin, dass Frauen nicht über wichtige Dinge informiert werden. Informationen zurückzuhalten gehört zu den gängigen mikropolitischen Strategien. Oder die neue Kollegin wird nicht nach Feierabend mit in die Kneipe eingeladen, wo auch über Geschäftliches gesprochen wird. Auch sexualisierte Diskriminierung bedeutet Ausschluss durch Abwertung der professionellen Rolle der Frau. Solche Strategien nehmen möglicherweise in dem Maße zu, wie die Konkurrenz durch Frauen steigt. Deshalb sollten Frauen selbst mikropolitisch aktiv werden. Mikropolitik hat für Frauen aus dreierlei Gründen eine besondere Bedeutung: Erstens, Machtwille und Machtstreben sind nicht im weiblichen Geschlechterstereotyp enthalten, zweitens, die Minderheitenposition erfordert ein besonderes mikropolitisches Geschick, und drittens, etablierte Gruppierungen setzen ihrerseits Mikropolitik gegen die neue Konkurrenz ein, um ihre Machtpositionen zu sichern. Wenn Mikropolitik besagt, dass für alle Beteiligten Handlungsspielräume bestehen, sind Frauen keineswegs in der Opferrolle, sondern in der Lage, ins Geschehen einzugreifen und es gemäß ihren Zielen zu beeinflussen.

«Machtvoll» zu handeln heißt Optionen zu erkennen und zu nutzen sowie Taktiken zielgerichtet einzusetzen. Dies ist nicht der einzige Ansatz, um mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen, ist aber eine Möglichkeit, erfolgreich(er) in der mikropolitischen Arena zu agieren und sich nachhaltig innerhalb dieser Matrix aus Interessen, Koalitionen und Strategien zu platzieren.

Prof. Dr. Daniela Rastetter
Professorin für Personal und Gender an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg, Fachbereich Sozialökonomie

Literatur

• Cornils, D., Mucha, A. & Rastetter, D. (2014). Mikropolitisches Kompetenzmodell. Organisationsberatung, Supervision, Coaching, 21(1), 3-19.
• Krell, G., Rastetter, D. & Reichel, K. (2012) (Hg.). Geschlecht Macht Karriere in Organisationen. Analysen zur Chancengleichheit in Fach- und Führungspositionen. Edition sigma.
• Mucha, A. & Rastetter, D. (2012). Macht und Gender. Gruppendynamik und Organisationsberatung. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, 43(2), 173-188.
• Mucha, A. (2014). Die mikropolitische Situation von Frauen in technischen Berufen. Nomos.
• Neuberger, O. (2006). Mikropolitik und Moral in Organisationen. Herausforderung der Ordnung. Lucius + Lucius.
• Rastetter, D. & Jüngling, Ch. (2018). Frauen, Männer, Mikropolitik. Geschlecht und Macht in Organisationen. V&R.
• Schein, V. E., Mueller, R., Lituchy, T. & Liu, J. (1996). Think Manager – Think Male: A Global Phenomenon? Journal of Organisational Behavior, 17 (1), 33-41.


Wider die Gleichsetzung von Macht und Hierarchie

Macht in Organisationen hat ein schlechtes Image. Mit Macht in Verbindung gebrachte Begriffe klingen abschreckend: Intrigen, Grabenkämpfe, Cliquen- und Koalitionsbildung, Radfahren, nach oben buckeln und nach unten treten, Informationsfilter, Mauscheleien, Regimekritiker, trojanische Pferde, Konkurrenten ausstechen. Macht wird assoziiert mit Egoismus, Machiavellismus und Missbrauch.Entkleidet man den Machtbegriff von negativen Konnotationen, dann drückt er die Fähigkeit aus, bei anderen ein Verhalten zu erzeugen, das sie spontan nicht angenommen hätten (so die bekannte Bestimmung in Max Webers «Wirtschaft und Gesellschaft»).

Mit Macht etwas durchsetzen zu wollen, ist ein Phänomen, das man in Organisationen tagtäglich antrifft. Dennoch wird es selten offen thematisiert. Stattdessen trägt man die Konflikte, die aus dem Anspruch oder der Erwartung entstehen, andere mögen sich anpassen, gehorchen und unterwerfen, versteckt aus. In Machtbeziehungen werden Handlungsmöglichkeiten getauscht. Das sind die Fähigkeiten, für andere wichtige Probleme zu lösen oder Hilfe und Unterstützung zu verweigern (Friedberg, 1993, S. 117 f.). Dabei hängt die Macht von der Relevanz der Handlungsmöglichkeiten für andere und von der Autonomie und Nichtersetzbarkeit der Akteure ab. Eine Vertriebsmitarbeiterin, die einen privilegierten Zugang zu einem wichtigen Kunden hat, besitzt einen Trumpf, mit dem sie wuchern kann. Je weniger eine EDV-Expertin wegen ihrer detaillierten Kenntnisse eines in der Firma selbstgestrickten Programms zu ersetzen ist, desto stärker ist ihre Position gegenüber Personen, die von diesem Programm abhängig sind.

Dabei ist Macht eine Austauschbeziehung, die zwar asymmetrisch, aber stets wechselseitig ist. Eine Person oder Personengruppe kann die eigenen Auffassungen nur dann durchsetzen, wenn eine andere Person oder Personengruppe bereit ist, sich mit dieser in eine Beziehung einzulassen. Ein Meister kann nur anordnen, solange der Arbeitende ihm folgt. Sobald sich eine Person der Beziehung zum Beispiel durch Kündigung entzieht, ist die Austauschbeziehung und damit das Machtverhältnis zu Ende. Schon gewisse Verweigerungen, wie die, Überstunden zu arbeiten, kann den Meister in Bedrängnis bringen. Er wird seinen Leuten eine Kompensation, eine Gefälligkeit anbieten müssen. Aus einer Machtbeziehung ziehen also immer beide Seiten etwas. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es sich um einen fairen Austauschprozess handeln muss. Es verweist aber darauf, dass auch der vermeintlich Machtlose ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Machtbeziehung hat.

Die Rolle von Macht wird besonders in dramatischen Konfliktsituationen deutlich. Allerdings sind solche Konflikte in Machtbeziehungen eher die Ausnahme als die Regel. Machtbeziehungen basieren darauf, dass sie von den beteiligten Akteuren geteilt und mehr oder minder akzeptiert werden. Zwar lauert im Hintergrund immer die Drohung, dass man die Machtbeziehung eskalieren lassen kann; in der Regel ist die Machtbeziehung jedoch dadurch gekennzeichnet, dass sich beide Seiten in diese fügen und Sanktionen und Drohungen latent gehalten und nur vorsichtig angedeutet werden. Macht stützt sich auf die Kontrolle relevanter Unsicherheitszonen. Diese können ganz unterschiedlicher Natur sein. Hierarchen stützen ihren Einfluss darauf, formale organisatorische Regeln erlassen zu können, die das Aktionsfeld der Untergebenen einengen oder erweitern können. Experten, beispielsweise IT-Fachleute oder Marketingspezialisten, gewinnen ihre einflussreiche Stellung aus der Beherrschung von in der Organisation relevantem Sachwissen. Personen, die Relaisstellen zur Umwelt darstellen, ziehen Machtmöglichkeiten daraus, dass sie einen privilegierten Zugang zu Kunden, zentralen Zulieferern, Kooperationspartnern oder einflussreichen staatlichen Stellen haben. Gatekeeper, z. B. ein Sekretär oder eine persönliche Referentin, ziehen ihren Einfluss aus der Kontrolle wichtiger interner Kommunikationskanäle und Informationsquellen (Crozier & Friedberg, 1979).

Hierarchie begründet also nur eine Unsicherheitszone unter vielen und man begeht einen groben analytischen Fehler, wenn man Hierarchie mit Macht gleichsetzt. Sicherlich: Manager entscheiden nicht nur über Arbeitsprozesse oder Strategien mit, sondern als Vorgesetzte bestimmen sie auch maßgeblich über die Einstellung, Entlassung und Karriere ihrer Mitarbeitenden. Sie beherrschen damit eine zentrale Unsicherheitszone ihrer Mitarbeitenden – jedenfalls solange diese keine attraktiveren Alternativen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie können zugleich über weitere Unsicherheitszonen wie den Kontakt zur Umwelt oder Fachkenntnisse verfügen, aber nicht automatisch, quasi qua Amt. Häufig haben Untergebene sogar mehr Fachwissen als Vorgesetzte. Aufgrund des wachsenden Bedarfs an spezialisiertem Fachwissen
können Führungskräfte nicht mehr alle Themenfelder in ihrem Bereich übersehen und müssen zulassen, dass ihre Mitarbeitenden sachverständiger sind als sie. Auch die Kontakte nach außen sind nicht an der Spitze monopolisiert. Gerade in größeren Organisationen ist es nötig, dass die Organisationsspitze die Pflege der Außenkontakte delegiert. Die Führungskraft hat zudem nicht die Möglichkeit, alle Kommunikationen in der Organisation zu regulieren. Schon die häufige Klage von Führungskräften über vermeintlich falsche Gerüchte zeigt, dass Kommunikationen in Unternehmen ganz anders laufen, als es sich die Führungskräfte vorgestellt haben (Luhmann, 1971).

Oftmals findet man Situationen in Organisationen, in denen sich die Hierarchen nicht unbegrenzt durchsetzen können, weil ihre Untergebenen wichtige Unsicherheitszonen beherrschen. So können in Krankenhäusern die vermeintlichen «Götter in Weiß» trotz ihrer formalen Befugnisse die Abläufe nicht eindeutig bestimmen. Pflegekräfte beherrschen für Ärzte wichtige Unsicherheitszonen und können diese als Tauschgut einsetzen. So sind die Ärzte von den Pflegekräften abhängig, weil sie jeweils häufig nur kurz in den Stationen verweilen. So können Aushandlungsverhältnisse entstehen, in denen die Pflegenden die Bereitschaft zur Übernahme von größerer Verantwortung gegen stärkere Mitsprache bei der Patientenbetreuung eintauschen. Selbst in Gefängnissen sind die Gefangenen den Wärtern nicht hilflos ausgeliefert.
Zwar können diese Verfehlungen der Gefangenen melden und deren Bestrafung fordern, dies würde jedoch den Eindruck vermitteln, dass die Justizbeamten ihre Gefangenen nicht im Griff haben. Um dies zu vermeiden, entstehen Tauschbeziehungen, in denen die Wärter Regelverletzungen der Gefangenen durchgehen lassen, solange sie sich insgesamt kooperativ verhalten (vgl. Mechanic, 1962).

Die Machtentfaltung stößt jedoch auf Grenzen, weil es in der Regel ein gemeinsames Interesse an der Fortdauer des Spiels gibt. Im Hintergrund lauert immer die Drohung eines Akteurs, das Machtspiel und damit die Austauschbeziehung zu beenden. Daran haben die Akteure jedoch kein Interesse. Sie wollen etwas vom anderen, das sie zu so günstigen Bedingungen von niemand anderem bekommen können, oder sie haben keine Möglichkeit, das Machtspiel zu beenden, weil sie die andere Person nicht durch Entlassung aus der Organisation entfernen können. Trotz der Machtspiele wird eine Organisation in der Regel nicht zu einer Löwengrube, in der sich die Machtspielenden gegenseitig in einem darwinistischen Überlebenskampf bekriegen.

 

Prof. Dr. Stefan Kühl
Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und Senior Consultant bei Metaplan

Literatur

  • Crozier, M. & Friedberg, E. (1979). Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns. Athenäum Verlag, 40.
  • Friedberg, E. (1993). Le pouvoir et la règle. Éditions du Seuil.
  • Luhmann, N. (1971). Zweck – Herrschaft – System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers. In: ders. (Hrsg.): Politische Planung. Westdeutscher Verlag, 90-112, 99f.
  • Mechanic, D. (1962). Sources of Power of Lower Participants in Complex Organizations. In: Administrative Science Quarterly 7, 349-364.

Editorial Ausgabe 2/22

Heiße Kartoffel Change

Eine letzte Frage wäre da noch. Nach guten anderthalb Stunden Gespräch zum Weshalb und Warum des notwendigen Kulturwandels rückt mein Gegenüber endlich mit ihrem Anliegen raus: Was machen Sie eigentlich, wenn einige Personen im Vorstand den Change wollen, andere aber jetzt schon klar dagegen sind? Da hatten wir ausführlich beleuchtet, wie ganz konkret ein Kulturwandel funktioniert. Und ob das denn auch nachhaltig wirkt. Und welche Rahmenbedingungen es braucht, damit man endlich von dieser Kommandokultur wegkommt. Und überhaupt, alles duckt sich weg, wenn es um Eigeninitiative geht. Keine Fehlerkultur. Ganz furchtbar. Und jetzt das. Kurz vor Ende des Gesprächs und nach langem Hin und Her diese eigentliche, wesentliche Frage.

Wenn der Wandel zur heißen Kartoffel wird, ist die Verantwortung auf der Flucht. Der Prozess wird gern dann Berater*innen übereignet. Oder einem Stab. Oder engagierten internen Change Pro­fessionals. Das geht meist nur so lange gut, bis der kühle Wind der oberen Hierarchieebene durch die Flure weht. Spätestens dann sollte man sich als intern Verantwortliche/r warm anziehen.

In dieser Ausgabe der ZOE geht es um die Frage, wie Change-Prozesse am besten in das Machtgefüge der Or­ga­nisation eingebettet werden. Wie man sie schützt und dafür sorgt, dass eine Alli­anz der Willigen bei den Mächtigen auch dann erhal­ten bleibt, wenn unpopuläre Entscheidungen gefällt werden müssen.

Falko von Ameln erklärt in seinem Überblick, wie Macht in Or­ga­nisationen funktioniert und welche Bedeutung sie für Transformationsprozesse hat. Im Gespräch mit Fritz B. Simon erörtern wir, warum Macht im Change so häufig ausgeblendet wird. Er ent­kleidet naive Beraterfantasien und erinnert uns an die funk­tio­nal­e Seite von Macht und Hierarchie. Im Zusammenhang mit dem agilen Paradigma argumentieren Michael W. Busch und Karin Link ähnlich: Hierarchie als Prinzip wird wohl trotz grundlegend neuer Führungsrollen überleben. Wertvolles Erfahrungswissen von Change Professionals steht im Zentrum dieser Aus­gabe der OrganisationsEntwicklung: Sandra Vögel und Silke Fischer leiten in ihrer Fallstudie fünf Prin­zipien für den Umgang mit Macht in Transformationsprozessen ab. Ich freue mich, dass fünf Profis in unserer Interviewreihe «Machtkalkül» ihren persönlichen Zugang zur Machtfrage offenbaren. Wesentliche Aussage: Wenn Macht eine produktive Rolle in Veränderungsprozessen spielen soll, ist ein ausreichendes Bewusstsein über Macht und Mächtigkeit in der Organisation die Voraussetzung dafür. Und das schließt die Ge­stal­ter*innen des Wandels ein.

Viel Erfolg beim macht-bewussten Wandel.

Herzlichst, Ihr
Heiko Roehl


Lassen wir uns mitnehmen?!

Über eine notwendige Transformation der deutschen Managementphilosophie

Wo immer das Schiff der Veränderung in See sticht, sind dieser Tage dieselben Appelle zu vernehmen. Man müsse die Leute «mit ins Boot nehmen», sie «zum Mitziehen bringen», sie «dort abholen, wo sie stehen» und dabei «alle mitnehmen». Denn die Veränderung gelinge nur, «wenn wir alle mit dabeihaben».

So häufig diese Appelle bemüht werden, so selten scheinen sie reflektiert zu sein. Inwieweit helfen sie tatsächlich, das Schiff der Veränderung in den nächsten sicheren Hafen zu führen? Diese Reflexionslücke erscheint besonders problematisch, da die Veränderungsfähigkeit von Organisationen in besonderem Maße von der Digitalisierung und der sich anbahnenden Klima­katastrophe herausgefordert wird. Ist die Rede vom Mitnehmen eine leere Formel? Oder haben wir es bei der Unterscheidung in Mitnehmende und Mitzunehmende mit einer leistungsfähigen Unterscheidung zu tun?

Das schwierige Erbe der deutschen Managementphilosophie

Die Ursprünge dieser den deutschen Managementdiskurs so dominierenden Unterscheidung lassen sich spätestens in Erich Gutenbergs «Einführung in die Betriebswirtschaftslehre» aus dem Jahre 1958 finden. Darin beschreibt Gutenberg die Aufgabe der Leitung des Betriebs als ertragreiche Kombination der Ele­mentarfaktoren der menschlichen Arbeitsleistung, der Betriebs­mittel und der Werkstoffe unter Zuhilfenahme der Planung und der Organisation. Der Leitung kommt hier die Funktion eines dispositiven Faktors zu, welcher den Betrieb entlang seiner Vorentscheidungen zu ordnen hat. Nach Gutenberg haben wir es in Betrieben also einerseits mit dispositiven Entscheidern zu tun, und andererseits mit denjenigen, die ihre Arbeitsleistung anbieten, auf Betriebsmittel und Werkstoffe beziehbar machen und dafür durch dispositive Entscheidungen in Position gebracht werden. Hier die Schiffsbrücke, dort der Maschinenraum.

Die Rede vom Mitnehmen reproduziert bis heute diese grund­legende Unterscheidung von Organisationsmitgliedern in die­ jenigen, die vorne sind und wissen, was anzusteuern ist und sol­che, die für die Exekution dieses Kurses nötig sind. Auch wenn wir wohl liberaler geworden sind, und die Leitung in vielen Or­ganisationen vorübergehend auch von einzelnen Fachabtei­lungen eingenommen wird, hat sich an dieser grundlegenden Unterscheidung wenig geändert. Es wird weiterhin eine Unter­scheidung reproduziert, die bei genauerer Beobachtung durch ihre besticht: Wer zum Mitnehmen und Abholen aufruft und deren Wichtigkeit betont, unterstellt, dass er oder sie wisse, wo es hingehe und sich schon im Boot befinde, während dahinge­gen dem Rest zugeschrieben wird, relativ passiv, träge und wi­derständig zu sein und sich jedenfalls noch nicht an Bord zu befinden. Organisationale Veränderung wird so als ein asymme­trisches Geschehen konzeptualisiert, welches sich durch prin­zipiell differente Geschwindigkeiten und Aktivitätsniveaus auszeichnet, und genau diese Differenz zu bearbeiten hat.

Doch warum hält sich diese Unterscheidung so stabil, wenn der Verdacht doch naheliegt, dass sie eine äußerst problemati­sche Seite haben könnte? Was ist ihre Funktion?

Leistungen der Unterscheidung

Zum einen ermöglicht die Rede vom Mitnehmen in Verände­rungsprojekten, sich dafür zu sensibilisieren, dass ihr Erfolg in erheblichem Maße von Entscheidungen der Mitarbeitenden abhängt. Wanda Orlikowski (2000) hat auf die Bedeutung die­ser Entscheidungen in Bezug auf neue IT-­Systeme hingewie­sen, in deren Hand es liege, ob sich Arbeitspraxen nur anpassen oder auch tatsächlich transformieren. Dementsprechend ent­ wickelt sich um Veränderungsprojekte in vielen Betrieben eine rege Betriebsamkeit dazu, akzeptanzsteigernde Maßnahmen und «bessere» Kommunikation anzustrengen, die zahlreiche Agenturen und Beratungen beschäftigt halten.

Zum anderen kommt die Rede vom Mitnehmen einer mo­ralischen Kommunikation gleich, die gegen Kritik immunisiert. Wer offen kommuniziert, mitnehmen zu wollen, dem kann kaum widersprochen werden, so löblich und geachtet erscheint seine Intention. Man signalisiert, «den Menschen» im Blick zu haben und sichert sich damit schon für spätere Kritik am Ver­änderungsprojekt ab. Denn dann kann man hervorheben, dass man immer mitnehmen wollte.

So sehr sich die Rede vom Mitnehmen in diesem Sinne als funktional erweist, so zielsicher steuern in ihr fundierte Ver­ änderungsprojekte immer wieder dieselben problematischen Nebenfolgen an.

Probleme der Unterscheidung

Schein-Konsense: Erfolgreiche Absprachen im Management le­ben davon, dass sie ein synchronisiertes Handeln ermöglichen und zugleich Freiheitsgrade lassen, um auf lokale Gegebenhei­ten reagieren zu können. Bezüglich der Schlagworte wie Mitnehmen und Abholen zeigt sich vielerorts, dass sie als leere Signifikanten (Laclau, 2010) dienen. Durch ihren niedrigen Defini­tionsgrad wirken sie einerseits integrativ, indem sie die Bildung neuer Schein­Konsense ermöglichen. Jede*r scheint zu wissen, was Mitnehmen konkret bedeutet. Andererseits entstehen mit der Nutzung dieses leeren Signifikanten auch große Freiheits­ grade dafür, die Rede vom Mitnehmen mit ganz unterschiedli­chen Bedeutungsgehalten zu füllen. Der eine versteht unter Mitnehmen die gute Kommunikation fertig vorbereiteter Entschei­dungen. Die andere nimmt mit, indem sie Entscheidungen in Runden mit den von ihnen potenziell Betroffenen zur Disposi­tion stellt. Solche unterschiedlichen Auffassungen sind häufig in ein und demselben Betrieb zu finden. Dort treffen sie auf Belegschaften, die ein eigenes Verständnis dazu generieren, was es bedeutet, richtig mitzunehmen bzw. richtig mitgenommen zu werden. In der Folge bilden sich in Belegschaften nicht sel­ten zynische Haltungen heraus, da sich die gleichfalls vom Ma­nagement beeinflussten Erwartungen zum Mitnehmen bzw. zum Mitgenommenwerden nur in Teilen mit dem Handeln des Ma­nagements decken (vgl. Brunsson, 2003). Solche Zynismen kön­ nen Veränderungsprojekte wie ein Schatten begleiten.

«Die Rede vom Mitnehmen kommt einer moralischen Kommunikation gleich.»

Passivität: Nach Günther Ortmann (2021) sind die unseren Dis­kursen unterliegenden Fiktionen dafür entscheidend, welche «künftige Realität … durch ein So­tun­als­ob gerade hervorge­ bracht» wird. Diese Beobachtung spiegelt sich auch in der Re­de des Mitnehmens wieder. Denn wo Mitarbeitende vom Ma­nagement als Mitzunehmende und noch nicht im Boot der Ver­änderung befindliche Abzuholende adressiert werden, werden sie performativ tatsächlich zu jenen relativ passiven Mitarbei­ ter*innen, die mitgenommen werden wollen. Aus dem Kommu­nizieren und Handeln des Managements im Modus des Als-Ob (Ortmann, 2021) entsteht so die Realität, gegen die man eigent­lich anzugehen versucht. Denn in der Rede vom Mitnehmen und Abholen erfahren sich Mitarbeitende stärker als die, die sich außerhalb des Boots befinden, als solche, von denen Verände­rungsimpulse ausgehen und die bei der Kurssetzung gefragt sind. Dadurch werden auch all jene Kommunikationen ange­ regt, die das Management als Meckern beschreibt und in vielen Fällen zum Verzweifeln bringt. Die Passivität mancher Mitar­beitenden und die tatsächliche Notwendigkeit sie mitzuneh­men, ist mindestens so sehr die Folge der Rede über das Mit­nehmen wie ihr Ausgangspunkt.

Lernblockade: Wenn der Fokus in Veränderungsprojekten da­ rauf liegt, wie andere mitgenommen werden können, schrumpft zugleich das Potenzial, aus dem Misserfolg von Veränderungs­vorhaben zu lernen. Denn bei Misserfolgen liegt es dann nahe, entweder ein mangelhaftes Mitnehmen zu monieren oder aus­ gehend vom Befund, man habe doch alle mitgenommen, die Veränderungsfähigkeit und ­willigkeit der Mitzunehmenden in Zweifel zu ziehen. Anstatt also die grundlegenden Entschei­ dungen der Veränderung und ihr was zu hinterfragen oder die Unterscheidung in Mitnehmende und Mitzunehmende zu reflektieren, geraten die Personenhaftigkeit der Mitzunehmend en und die Form des Mitnehmens in den Fokus.

Angesichts dieser möglichen Nebenfolgen der Management­ philosophie des Mitnehmens stellt sich umso stärker die Frage, wie sich diese so transformieren lässt, dass sie bei der Gestal­tung der radikalen Umbrüche unserer Zeit eher helfen kann, als diese zu erschweren?

Gutenberg 2.0?

Bei Erich Gutenberg lässt sich die Grundlegung dieser proble­matischen Denkfigur genauso finden wie ein Ansatz für ihre Weiterentwicklung.  Schon  1958  konstatierte  Gutenberg,  dass neben den führenden Eigentümer*innen der Unternehmen häu­fig  auch  deren  Mitarbeitende  und  damit  Nicht­Eigentümer*­ innen Einfluss auf die Richtungsentscheidungen des Betriebs haben. Es muss deshalb schon mit Gutenberg an einer einfa­chen  Verortung  des  dispositiven  Faktors  gezweifelt  werden, und stattdessen eine betriebliche Willensbildung zu Führungs­entscheidungen unterstellt werden. Wir befinden uns – ob wir wollen oder nicht – in Verhältnissen, in denen von allen Seiten Führungsimpulse in Prozesse betrieblicher Willensbildung ein­ münden. Wenn die Hierarchie hierauf damit reagiert, dass sie diese Multipolarität im Sinne der Unterscheidung des Mitneh­ mens zu ordnen versucht, dann vereinfacht sie diese Verhält­nisse und fällt letztlich hinter Gutenberg und die Entwicklun­gen zu einer immer komplexeren Gesellschaft zurück. Dabei zwingt uns die Multipolarität der betrieblichen Willensbildung und  erst  recht  die  neu  einsickernde  Philosophie  der  Agilität (Schwaber & Sutherland, 2020) geradezu, die Frage des Mitneh­mens umzudrehen: Wie können sich die Hierarchie und auch andere Akteure, die die Funktion des dispositiven Faktors situa­tiv übernehmen, selbst mitnehmen lassen? Und von wem oder was muss man sich dann mitnehmen lassen?

Erst entlang solcher Fragen lassen sich Veränderungsprojek­te jeweils an den Umwelten ausrichten, um die es ihnen geht. So können Veränderungsprojekte am Kunden oder einer spezi­fischen Rolle in der eigenen Organisation orientiert werden, an­statt vor allem den Kontrollansprüchen der Hierarchie und ih­ ren Fiktionen zu genügen. Damit landen wir bei einer Paradoxie, für die uns die Kybernetik (Glanville, 1987) informieren kann: Wer in Organisationen planen und andere mitnehmen möchte, muss sich vor allem die Frage stellen, wie er sich von diesen An­deren (und welchen genau), mitnehmen lassen kann. Das Forschungsprojekt KILPaD, welches vom BMBF gefördert im Ver­ bund an der Universität Witten/Herdecke Kommunikation, In­ novation und Lernen in der Produktionsorganisation unter Bedingungen agiler Digitalisierung erforscht, zeigt: wer die Arbeitsinformationen in der Produktion digitalisieren möchte, muss sich von den Problembeschreibungen der Arbeitsvorbe­reitenden und Maschinenbediener*innen vor Ort mitnehmen lassen, anstatt sie zu bloßen Multiplikator*innen von Vorent­schiedenem zu machen. Andernfalls hat die Digitalisierung der Produktion kaum die Chance, in den mannigfaltigen Entschei­dungen der Produktion einen Unterschied zu machen.

Dass dem dispositiven Faktor in der Kombination der Ele­mentarfaktoren der Arbeitsleistung, Betriebsmittel und Werk­stoffe weiterhin eine wichtige Rolle zukommen wird, erscheint auch in unseren komplexen gesellschaftlichen Verhältnissen naheliegend. Eine Koordination der Kombination dieser Varia­blen ist weiterhin nötig, wenn man Kund*innen immer wie­ der aufs Neue zufriedenstellen möchte. Auch wenn sich dieser dispositive Faktor in Unternehmensorganisationen immer dy­namischer umverteilt, muss er stets im Blick halten, von wem er sich für den nachhaltigen Erfolg der Neu­Kombination der Elementarfaktoren mitnehmen lassen muss, um diese schluss­endlich mitnehmen zu können. In der aufziehenden nächsten Gesellschaft (vgl. Baecker, 2007) stellt dies eine, wenn nicht die zentrale Change-­Kompetenz dar.

Je nach Veränderungsprojekt gilt es die Frage des Mitneh­men­-Lassens neu zu stellen. Die betriebliche Praxis zeigt viele Anstrengungen in diese Richtung, wenn beispielsweise in Pro­jektteams diskutiert wird, wo dem eigenen Urteil über die An­wendenden nicht getraut werden sollte, sondern diese über Workshops oder ein ernsthaftes Prototyping ins Mitentschei­den gebracht werden müssen.

Um der Entstehung von Zynismen in der Belegschaft und folgenschwerer Schein­Konsense unter Projektbeteiligten vor­ zubeugen, erscheint es notwendig, die Frage des Mitnehmen­-Lassens immer wieder zum Anlass zu nehmen, sich darüber zu verständigen, was Mitnehmen-­Lassen denn konkret bedeuten könnte und sollte (vgl. Abbildung 1). Nur so wird aus dem po­tenziell riskanten leeren Signifikaten des Mitnehmens ein The­ma, das der erfolgreichen Veränderung der Organisation mehr dient, als sie zu behindern und mit gefährlichen Folgeproble­ men zu versorgen, die schon die nächsten teure Change­-Projek­te oder Teambuilding­-Maßnahmen nötig machen.

Die Fragen aus Abbildung 1 legen nahe, dass sich Verände­rungsprojekte deutlich konkreter mit den Arbeitspraxen aus­ einandersetzen werden müssen, wenn sie die Aussicht wahren möchten, diese zumindest in Ansätzen zu transformieren. An­statt beispielsweise die Instandhalter*innen von oben zur prä­diktiven Instandhaltung durch neue digitale Systeme anzuhal­ten und auf diese Reise mitnehmen zu wollen, sollte die kon­krete Instandhaltungspraxis als Ausgangspunkt für ihre Trans­formation  genommen  werden.  Wie  kann  man  sich  von  der Instandhaltung auf dem Weg zu einer prädiktiveren Instand­ haltung mitnehmen lassen? Wo empfindet sich die Instandhal­tung schon heute als prädiktiv, und wo sind Hindernisse, die es ihr erschweren noch stärker vorausschauend zu arbeiten? Wie könnten digitale Systeme helfen? Nur wenn sich Veränderungs­projekte derart von lokalen Problembeschreibungen mitneh­men lassen und allzu theoretisch und global gehaltenen Verän­derungsansprüchen im Schema des Mitnehmens misstrauen, werden sie die Transformationsherausforderungen realistischer einschätzen und bearbeitbar machen. Nur wenn Veränderungs­projekte diese unmittelbare Verbindung zu den durch sie fo­kussierten  Arbeitspraxen  aufweisen  und  die  Mitarbeitenden als lernfähig und nicht einfach nur als im oder außerhalb des Boots  befindliche  Akteure  unterstellen,  werden  Dynamiken möglich, die Veränderungsvorhaben tragen und den Wegweisen, anstatt sie zur Plattformen der Bemängelung der Trägheit von Mitarbeitern zu machen.

Eine Gesellschaft im Change?

Kaum jemand wird bestreiten, dass sich die Gesellschaft min­ destens so sehr in einer Phase der grundlegenden Transforma­tion befindet wie ihre Organisationen. Auch im gesellschaft­lichen Diskurs ist vielerorts die Rede vom Mitnehmen zu ver­nehmen. Beispielhaft kündigen sich in Bezug auf die Trans­formation der Kohlereviere gegenwärtig wieder diejenigen an, die die Menschen vor Ort mitnehmen und bei ihnen für Akzep­tanz werben wollen. Damit unterstellen sie gleichsam latent, dass sie unabhängig vom Diskurs mit diesen Mitzunehmenden wüssten, wo es hingehen müsse. Umso wichtiger erscheint das Desiderat, in Organisationen die Change-­Kompetenz des Mit­nehmen­-Lassens auszubilden. Die Gesellschaft könnte auch jen­seits ihrer Unternehmensorganisationen davon profitieren.

 

 

Maximilian Locher
Wiss. Mitarbeiter im BMBF-Projekt KILPaD Universität Witten/Herdecke, Berater bei Metaplan

Literatur

• Baecker, D. (2007). Studien zur nächsten Gesellschaft, Suhrkamp.
• Brunsson, N. (2003). The Consequences of Decision-Making: Talk, Decisions and Actions in Organizations, 2. Aufl., Copenhagen Business School Press.
• Glanville, R. (1987). The Question of Cybernetics, Cybernetics and Systems: An International Journal, 18(2), 99-112.
• Gutenberg, E. (1958). Einführung in die Betriebswirtschaftslehre, Gabler.
• Laclau, E. (2010). Emanzipation und Differenz, 3. Aufl., Turia + Kant.
• Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung, Westdeutscher Verlag.
• Orlikowski, W. J. (2000). Using Technology and Constituting Structures: A Practical Lens for Studying Technology in Organizations, Organization Science, 11(4), 404-428.
• Ortmann, G. (2021). Tom & Jerry. Über notwendige Fiktionen, in: Priddat, B. & Künzel, C. (hrsg.), Fiktion und Narration in der Ökonomie: Interdisziplinäre Perspektiven auf den Umgang mit ungewisser Zukunft, Metropolis.
• Schwaber, K. & Sutherland, J. (2020). The Scrum GuideTM – The Definitive Guide to Scrum – The Rules of the Game, November 2020, abgerufen am 23.07.2021 unter: https://zoe.ch/scrum-guide

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