Kleines ABC des Streitens

Ein Glossar zum Thema Dissens

Ansätze, Erfolgsfaktoren und Fachbegriffe für Konflikt-Kompetenz und eine organisationale Dissens-Kultur. In unserem kleinen ABC des Streiten bringen wir die wichtigsten Begriffe zum Thema Dissens auf den Punkt.

Meinungsverschiedenheiten können Wandelprozesse verzögern oder gar zum Scheitern bringen. Sie sind jedoch auch eine Chance, dazuzulernen und Probleme zu antizipieren. Dafür braucht es neben einer organisationsweiten Streitkultur echte Dissens-Kompetenz. Um diese zu fördern, kann das nachfolgende ABC gute Dienste leisten. Es versucht, mit einem Augenzwinkern, wichtige Ansätze und Erfolgsfaktoren des produktiven Streitens auf den Punkt zu bringen. Zudem erklärt das kleine ABC des Streitens einige wichtige Fachbegriffe aus der einschlägigen, oft englischsprachigen Verhandlungs- und Konfliktmanagement-Literatur. Wir hoffen, Sie sehen das (nicht) anders.

Argument

Z.B. bei einer Debatte oder Meinungsverschiedenheit: Eine Reihe von logisch verknüpften Belegen, um eine These oder Meinung zu stützen. Eine alternative Definition: Wenn Sie recht haben, es andere aber noch nicht kapieren.

BATNA

(Best alternative to a negotiated agreement): Was einem als Rückzugsposition bleibt, wenn man bei einer Diskussion keinen Konsens erreicht. Die BATNA ist ein zentrales Konzept der Harvard Verhandlungsmethode von Fisher, Ury und Patton («Getting to Yes»). Bevor man sich in eine Verhandlung oder eine Streitdiskussion begibt, sollte man sich klar machen (am besten schriftlich), was als beste Alternative bleibt, falls man sich nicht einig wird.

Blindwiderstand: siehe Reaktanz

 

Believability Weighting (Glaubwürdigkeitsgewichtung)

Gemäß Finanzgenie Ray Dalio (in seinem Buch «Principles») besteht eine Glaubwürdigkeitsgewichtung daraus, dass man bei einer Meinungsverschiedenheit die Expertise der jeweiligen Person auf dem Streitgebiet explizit einbezieht und entsprechend gewichtet.

CFU (Checking for Understanding)

Eine wichtige Streitregel, die folgendes besagt: Bevor man jemanden attackiert, sollte man zunächst sicherstellen, dass man die Meinung (und dahinterliegende Annahmen) des anderen auch wirklich versteht und diese/r die eigene Sicht zumindest korrekt verstanden hat. Vgl. auch > Fragen

Delphi-Methode

Bei dieser Befragungsmethode werden in zwei Runden Expertenmeinungen zu einer Fragestellung (schriftlich) gesammelt und dann wiederum den Experten zur Kommentierung zur Verfügung gestellt. Konsens- und Dissens-Bereiche der Experten werden so sichtbar und diskutierbar.

Disagree and commit

(«erst streiten, dann mitreiten») Dieses Managementprinzip besagt, dass Meinungsverschiedenheiten vor allem in der frühen Phase eines Entscheidungsprozesses gefördert werden sollten, so dass nach der Entscheidung das gesamte Team diese mitträgt. Das Prinzip versucht, eine Dissens-Paralyse zu vermeiden, indem früh und zeitlich begrenzt Dissens kultiviert wird.

Dissens (expliziter oder impliziter)

Aus dem lateinischen dissentire = uneins sein. Ein Zustand, bei dem (bewusst oder unbewusst) Meinungsverschiedenheit (z. B. in einer Gruppe) herrscht. Das Gegenteil von > Konsens. Eine alternative Definition: eine wunderbare Gelegenheit, um dazu zu lernen und durch Perspektivenvielfalt ein ganzheitlicheres Bild einer Sachlage zu gewinnen (wenn man ausreichend > Empathie mitbringt).

Empathie

Die Fähigkeit, sich in die Perspektive des anderen einzufühlen, z. B. dessen Position, Emotionen und Geschichte zu verstehen, statt ihn oder sie nur zu verurteilen. Definition der amerikanischen Ureinwohner: Eine Meile in den Mokassins eines anderen gehen.

Fragen

konstruktive, verständnisorientierte, offene und respektvolle Fragen sind das wichtigste Instrument für Konfliktlösung, Verhandlungsführung, oder Streitklärung. Meine Top 3 Fragen für richtiges Streiten sind: 1. Was meinst Du damit? 2. Was brauchst Du von mir? 3. Wie können wir hier gemeinsam weiterkommen?

Fixe Positionen

Gemäß der Harvard Verhandlungsmethode eine der größten Barrieren für Konsens oder gute Verhandlungsresultate. Anstatt auf einer fixen, unflexiblen Position oder Meinung zu beharren, sollte man offen kommunizieren und die eigenen Interessen und Grundannahmen mit den anderen teilen und so ganz neue Konsens-Lösungen ermöglichen.

Groupthink

Ein gruppendynamisches Phänomen, bei dem ein Scheinkonsens entsteht, weil sich Andersdenkende aufgrund von subtilem Gruppendruck selbst zensieren und ihre Meinung zurückhalten. Alternative Definition: eine Art kommunikativer Team-Autismus, bei dem sich eine Gruppe gegen (interne und externe) Kritik immunisiert und deshalb wichtige Informationen, Risiken oder Nebenziele ignoriert.

Gruppenpolarisierung

Ein gruppendynamisches Phänomen, bei dem Meinungsverschiedenheiten eskalieren, weil man sich von der anderen Teilgruppe abgrenzen möchte und insbesondere (vor der eigenen Subgruppe) nicht als Verlierer dastehen will. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Diskussion radikalisieren sich gegenseitig und entwickeln Extrempositionen, statt einen Konsens zu finden.

Hierarchie

Für richtig gutes Streiten, Argumentieren und Konfliktlösen ist eine starre Hierarchieorientierung oft hinderlich. Ermöglichen Sie, wenn immer machbar, ein möglichst hierarchiefreies Streit-Ambiente, bei dem das beste Argument zählt. Wie dies gelingt? Indem die Ranghöheren ihre Argumente jeweils als Letzte präsentieren.

Interessen

Die gemeinsamen Interessen der Streit- oder Verhandlungspartner zu klären und zu betonen, schafft Vertrauen und Lösungsmöglichkeiten. Eigene Interessen und Bedürfnisse mit anderen zu teilen, ist oft hilfreicher, als die Betonung der eigenen > fixen Positionen.

Jasager

Achten Sie gerade als Führungskraft darauf, dass Sie sich nicht nur mit Jasagern umgeben, die Entscheide direkt übernehmen, ohne sie in Frage zu stellen (vgl. auch > kill the messenger). Kultivieren Sie stattdessen eine Debatten- oder > Streitkultur.

Konfliktvermeidung

Statt sie zu klären, kann man Konflikte natürlich auch ignorieren, verharmlosen, verschieben, oder verdrängen. Keine dieser Taktiken hilft letztlich. Konfliktvermeidung kann Streitigkeiten im Endeffekt verschlimmern. Es gilt jedoch, den richtigen Zeitpunkt für die Konfliktaustragung zu wählen (z. B. bezüglich emotionaler, sozialer und örtlicher Lage).

Konsens

Die übereinstimmende Meinung von Personen zu einer bestimmten Frage, Problematik oder Sachlage ohne verdeckten oder offenen Widerspruch. Alternative Definition: Das mögliche Endresultat einer radikal offenen, sachbezogenen Diskussion ohne Statusdenken und versteckte Absichten.

Konsentverfahren

Das Konsentverfahren ist ein alternatives Entschlussfassungsverfahren, bei dem eine Entscheidung erst dann als getroffen gilt, wenn keine/r, der/die am Prozess der Entscheidungsfindung Involvierten einen wesentlichen Einwand hat.

Kognitive Dissonanz

Eine Art intrapersonaler Dissens, bei der eine Person gleichzeitig zwei verschiedene, unvereinbare Meinungen hält; also etwa, wenn man entgegen einer festen Überzeugung etwas tut, z. B. raucht, obwohl man weiß, dass es schädlich ist. Diesen impliziten internen Dissens löst man für sich meist dadurch, dass man eine der beiden Überzeugungen relativiert bzw. weniger wichtig nimmt. Eine echte Lösung des Problems ist dies nicht.

Kill the messenger

Wenn Mitarbeitende, die Ihnen schlechte Nachrichten oder alternative Meinungen bringen von Ihnen schlecht behandelt werden (z. B. mit abschätzigen Kommentaren), so nennt man das «kill (oder shoot) the messenger». Der Leitsatz für Manager lautet deshalb: don’t shoot the messenger (of bad news)! Wenn andere sehen, dass Sie Mitarbeitende, die sich kritisch äußern, nicht schätzen, schaffen Sie unbewusst eine > Jasager– Kultur statt eine > Streitkultur.

Low Lights

Um eine selbstkritische (> Streit-)Kultur bei Microsoft zu schaffen, bat Bill Gates seine Mitarbeitenden, bei jedem Projekt Review Meeting als allererste Folie die sogenannten Low Lights des Projektes zusammenzustellen, also all das zu benennen, was im Projekt nicht gut funktioniert hat. Oft ergab das lebhafte Debatten, darüber wie man diese Fehler hätte vermeiden können und wie man in Zukunft besser vorgehen könnte. Falls eine Führungskraft diese Low Lights nicht proaktiv einfordert, kann dies zu einer Pseudokonsens- oder Kuschelkultur führen.

Mediation

Ein Ansatz zur außergerichtlichen Schlichtung von Konflikten unter Zuhilfenahme eines Mediators und eines Mediationsprozesses.

Normenkonflikt

Wenn Regelungen oder Werte einander widersprechen oder nur schwer vereinbar sind. Gelöst werden derartige Konflikte indem entweder eine Norm (von den Beteiligten) höher gewertet wird oder sie durch eine höhere Instanz bestimmt wird.

Optionen

Bei Konflikten sollte man sich über Lösungsmöglichkeiten streiten und nicht gegen Menschen argumentieren.

Pareto-Optimum

Ein Zustand, bei dem es nicht möglich ist, ein Ziel zu verbessern, ohne ein anderes zu verschlechtern bzw. eine Person besser zu stellen, ohne zugleich eine andere schlechter zu stellen. Es sollte in der Regel so lange gestritten bzw. verhandelt werden, bis ein solcher Pareto-Zustand erreicht wird (sonst vergibt man sich Optimierungspotenzial das niemandem schadet, aber einigen nützen kann).

Reaktanz

Eine fast automatische Abwehrreaktion gegen innere oder äußere Einschränkungen. Auch bekannt unter dem Begriff Blindwiderstand. Wird Mitarbeitenden z. B. mitgeteilt, dass ab sofort keine fixen Arbeitsplätze mehr zur Verfügung stehen (Stichwort hot desking), so richten diese erst recht gewisse stabile Arbeitsbereiche im Büro ein.

Respekt

Man sollte versuchen, sich auch bei großen Meinungsverschiedenheiten respektvoll gegenüber anderen zu verhalten. Das bedeutet beispielsweise, auf Beleidigungen oder gar Drohungen zu verzichten und einander ausreden zu lassen.

Scheinkonsens

Wenn es (oder jemand) den Anschein erweckt, als ob alle einer Meinung sind, obwohl einzelne nicht einverstanden sind (z. B. aufgrund von > Groupthink)

Streitkultur

In einer Streitkultur werden Meinungsverschiedenheiten als alltäglich und wertvoll angesehen. Streitigkeiten werden zügig, offen, fair, konstruktiv und selbstverantwortlich ausgetragen.

Typen von Dissens

Auf welche Weise kann man uneins sein? In der einschlägigen Literatur werden Meinungsverschiedenheiten nach deren Grundursachen (z. B. Werte- versus Wissenskonflikte), Erscheinungsformen (z. B. spontan/eskalierend versus latent/unterschwellig), Handhabung (z. B.: unterdrückt versus visualisiert) und Auswirkungen (z. B. korrosiv versus produktiv) unterschieden.

Unkenntnis der Widerlegung (ignoration elenchi)

Damit wird jener Argumentationsfehler bezeichnet, dass man etwas anderes beweist (oder widerlegt) als das, was gerade zur Diskussion steht. Ein derartiges argumentatives Abdriften kann bewusst als Ablenkungsmanöver oder unbewusst als Denkfehler erfolgen. Hier hilft es, Fokussierungsfragen zu stellen, um produktiver streiten zu können (z. B.: Ist das wirklich der Kern Deines Argumentes?).

Visualisierung

Meinungsverschiedenheiten können besser verstanden und gelöst werden, wenn sie visuell dargestellt und besprochen werden. Hierzu gibt es zahlreiche grafische Möglichkeiten, von Venn-Diagrammen (mit überlappenden und unterschiedlichen Meinungen) bis hin zu sogenannten Toulmin-Argumentenkarten. Bei online Befragungen können unterschiedliche Meinungen als einzelne Punkte in einer Auswertungsgrafikdargestellt werden.

Widerspruch

Außerhalb der Jurisprudenz wird damit der Einwand gegen ein Argument bezeichnet. Ein Widerspruch sollte präzise, respektvoll und begründet sein.

ZOPA (Zone of possible agreement)

Dieses Konzept aus der Harvard Verhandlungsmethode bezeichnetdas mögliche Lösungsspektrum bei einer Verhandlung oder Diskussion. Dieser Übereinstimmungsbereich entsteht, wenn es überlappende Konsenszonen der involvierten Parteien gibt. Das bedeutet also, harvardisch gesprochen, dass es zwischen den beiden > BATNA von Verhandlungsteilnehmern idealerweise eine ZOPA gibt.

 


Die Vernetzung der Welten

Beidhändigkeit in der Führung

Zwischen erfolgreichem Kerngeschäft und der gleichzeitigen Vorbereitung auf eine digitale, datengetriebene Zukunft heißt es für Organisationen, die Balance zu finden. ZOE-Redakteur Thomas Schumacher sprach mit Ambidextrie- Expertin Julia Duwe über alltagstaugliche Lösungen und eine gute Navigation zwischen diesen beiden Welten.

ZOE: Sie beschäftigen sich mit Ambidextrie sowohl praktisch im Kontext von Produktentwicklung, als auch theoretisch im Rahmen Ihrer Forschung sowie in einem eigenen Blog. Was reizt Sie an diesem Thema?

Duwe: In der Industrie 4.0, in deren Umfeld ich seit vielen Jahren arbeite, treffen bekannte Geschäftsmodelle, Technologien und Organisationsstrukturen auf eine neue digitale Welt, die völlig anders funktioniert: Sie ist schnelllebiger, software- und datengetrieben, mit veränderten Geschäftsmodellen und spannenden neuen technologischen Möglichkeiten. Die beiden Welten könnten unterschiedlicher kaum sein und dennoch verfolgen viele Industrieunternehmen beides: ein erfolgreiches Kerngeschäft und zugleich die Vorbereitung auf eine digitale, datengetriebene Zukunft. Mich treibt es an, für diesen Spagat alltagstaugliche Lösungen zu finden, welche es Menschen in Unternehmen erleichtern, durch die unterschiedlichen Anforderungen zu navigieren und beide Welten erfolgreich zu gestalten.

ZOE: Was sind Treiber von Ambidextrie in einer Organisation?

Duwe: Einer der Haupttreiber der Ambidextrie ist gegenwärtig die digitale Transformation mit ihrem hochdynamischen Markt- und Technologieumfeld. Führungskräfte steuern die heutige Welt und ebnen gleichzeitig den Weg für neues digitales Business. Übertragen auf den Innovationsprozess in Unternehmen bedeutet es, bestehende Produkte und Technologien weiterzuentwickeln und zugleich datengetriebene neue Lösungen, Geschäftsmodelle und die passenden Organisationsstrukturen für die Zukunft, sprich digitales Know-how, als Kernkompetenz aufzubauen.

In meinem Alltag trifft beispielsweise künstliche Intelligenz auf den traditionellen Werkzeugmaschinenbau. Neben intelligenten Maschinen für die Bearbeitung von Blech entstehen in der Werkzeugmaschinensparte datenbasierte Lösungen für den automatisierten Produktionsprozess. Datenspezialisten arbeiten Hand in Hand zusammen mit den Domänenexperten im Maschinenbau. Sie sprechen im Alltag zwar völlig verschiedene Sprachen, kennen sich in völlig unterschiedlichen Fachgebieten aus, von mechanischer Konstruktion über Cloud Engineering und Data Science. Dennoch arbeiten sie gemeinsam daran, den Produktionsprozess für den Kunden immer weiter zu optimieren. Um Mehrwert aus Daten zu generieren, brauchen Sie zwingend diese enge Zusammenarbeit zwischen den Fachdisziplinen.

ZOE: Ihr Hintergrund ist verkürzt gesagt die Industrie 4.0. Was bedeutet Ambidextrie in Ihrer täglichen Führung?

Duwe: Ambidextrie bedeutet für mich, in der Führungsarbeit die verschiedenen Welten, Sprachen und Geschwindigkeiten zusammenzuführen. Im Umfeld von Industrie 4.0 und der vernetzten Produktion haben Sie die bestehenden Produkte und Lösungen Seite an Seite mit software- und datengetriebenen Lösungen und Geschäftsmodellen. Ist man beispielsweise in der Produktentwicklung zu zukunfts- und innovationsgetrieben, müssen möglicherweise die bestehenden Initiativen gestärkt werden. Liegt der Fokus dagegen zu stark auf Kosten und Effizienz, gilt es dafür zu sorgen, dass die neuen, jungen Pflanzen wachsen können. Beidhändigkeit in der Führung bedeutet zusätzlich, dass Sie je nach Innovationskontext – Exploitation oder Exploration – unterschiedlich agieren. Es ist ein Wechselspiel aus absoluter Klarheit, was zu tun ist einerseits, und andererseits dem Schaffen von Räumen für Neuland, Kreativität und Innovation. Schließlich geht es darum, die Teams aus beiden Welten immer wieder zusammenzuführen und gegenseitigen Austausch und Lernen zu ermöglichen. Denn in der Industrie 4.0 brauchen Sie beides, das Daten-Know-how und das Domänenwissen. Im Wettbewerb um die besten Lösungen für den Kunden geht es im Kern um die Vernetzung der bestehenden Welt und des bestehenden wertvollen Know-hows mit einer neuen datengetriebenen Welt.

ZOE: Sie sehen den Schlüssel zum Umgang mit dem Dilemma der Beidhändigkeit vor allem in der Kommunikation. Was meinen Sie damit?

Duwe: Kommunikation ist eines der wichtigsten Führungsinstrumente, das Sie im Alltag haben. Durch Kommunikation versetzen Sie Menschen und ganze Organisationen in Bewegung. Auch Beidhändigkeit erreichen Sie im Führungsalltag am einfachsten über Ihre Kommunikation. Sie können dazu auf zwei grundsätzliche Naturen von Kommunikation zurückgreifen: eine vermittelnde, sehr klare Top-down-Kommunikation. Durch diese Art der Kommunikation geben Sie feststehende Richtungen und Inhalte vor. Die formale, zentral gesteuerte Kommunikation hilft bei der Navigation durch das Umfeld der Exploitation – wenn bekannt ist, was zu tun ist, wenn es um effizientes Ausführen geht. Sie haben als Führungskraft die Antworten parat.

Wenn Sie als Organisation jedoch Neuland betreten wollen, geht es im Führungsalltag nicht mehr um das Antwortengeben, sondern um das Fragenstellen und das Vernetzen von Menschen. Sie führen, indem Sie Möglichkeiten für Kommunikation und Begegnung schaffen, damit Menschen unterschiedlicher Disziplinen sich treffen und austauschen können – sei es in gemeinsamen Workshops, in der Zusammenarbeit mit externen Partnern, Start-ups, Universitäten etc. Um möglichst unterschiedliche Perspektiven, Herangehensweisen, und Fachrichtungen zusammenzubringen und damit völlig neue Lösungen entstehen zu lassen, benötigen Sie einen offenen, moderierenden, verbindenden Führungsstil.

ZOE: Sie sind Verfechterin einer kontextuellen Ambidextrie – im Gegensatz zu einer strukturellen Trennung von Kern- und Explorationsgeschäft. Warum liegt für Sie hier die Verbindung von Kern- und Explore-Geschäft?

Duwe: Alle Ansätze sind wichtig und haben ihre Berechtigung. Es mag absolut passend sein, neue Geschäftsideen in einem geschützten Raum fernab vom Kerngeschäft entstehen zu lassen oder für den Aufbau des digitalen Business duale Strukturen innerhalb des Unternehmens mit getrennten Organisationseinheiten zu schaffen. Der Schritt der Abspaltung vollzieht sich meist sehr leicht. Spätestens jedoch, wenn Kerngeschäft und digitales Business stärker ineinander greifen oder daraus Gesamtlösungen für den Kunden entstehen, so wie es in der vernetzten Produktionswelt meist der Fall ist, muss eine solche Trennung der Welten auf den Prüfstand.

Im Alltag erleben Sie nun, dass Menschen mit dem bekannten und dem neuen Business gleichzeitig und gleich gut umgehen sollen. Insofern bin ich Verfechterin dieses Ansatzes, einfach weil es in der digitalen Transformation und zur Erreichung des größtmöglichen Kundennutzens zur zwangsläufigen Aufgabe der meisten Führungskräfte wird, beide Welten zu verbinden.

ZOE: Was ist für Sie die derzeit spannendste Entwicklung rund um das Thema Ambidextrie?

Duwe: Drei Beobachtungen finde ich besonders spannend: Das erste Feld ist die Erforschung der beidhändigen Führung auf der persönlichen Ebene des Einzelnen. Die kontextuelle Ambidextrie bietet ja vorrangig Lösungen, die außerhalb des Einzelnen liegen – indem man im Alltag beispielsweise nach dem jeweiligen Handlungskontext unterscheidet und entsprechend unterschiedlich agiert. Aber welche individuellen Persönlichkeitsmerkmale helfen dem einzelnen Mitarbeitenden, der einzelnen Führungskraft dabei, beidhändig zu agieren? Welche Eigenschaften fördern beidhändige Führung?

Das zweite Feld ist die Erforschung von Ambidextrie in Verbindung mit Resilienz von Menschen und Systemen. Für mich ist in schwierigen Ausnahmesituationen Beidhändigkeit das Führungsinstrument der Wahl, also wenn Stabilität, Klarheit und hohes Reaktionsvermögen im «Hier und Jetzt» mit gleichzeitiger Vorausschau in eine neue, unbekannte Zukunft kombiniert werden müssen. Inwiefern zahlt die Fähigkeit, flexibel und beidhändig zu (re)agieren, auf die Widerstandsfähigkeit einzelner Menschen oder auf die Stabilität ganzer Organisationen ein?

Das dritte Feld ist Ambidextrie im Krisenmanagement: Wie meistern Unternehmen den Trade-Off zwischen drastischen Einsparmaßnahmen in der Krise und der vorausschauenden Zukunftssicherung für die Zeit danach? Wie meistert man bei hohem Druck auf das Kerngeschäft und einer angespannten Ressourcensituation diesen Spagat?

Die drei genannten Themenfelder beobachte ich derzeit besonders und bin gespannt auf zahlreiche Forschungsarbeiten und Praxisbeispiele dazu in den nächsten Jahren.

Dr. Julia Duwe
Expertin für Digital Leadership und Ambidextrie, Head of R&D Production, Platforms, Smart Factory Entwicklung TRUMPF Werkzeugmaschinen, Ditzingen


Bitte nicht authentisch!

Je echter, desto besser? Falsch.

Authentizität galt lange als Erfolgsgarant. Die Wähler wünschten sich diese vermeintliche Kongruenz zwischen innerem Zumute-Sein und äußerlich sichtbarem Verhalten von ihren Politikern. Und Mitarbeiter verlangten kaum etwas anderes sehnlicher von ihren Führungskräften. Einschlägige Seminare wie «Authentische Führung» oder «Mit Authentizität zum Erfolg» dominieren die Hitlisten der Weiterbildungsanbieter.

Der ideale Chef soll echt sein, mit Ecken und Kanten, unverfälscht, aufrichtig, ehrlich, integer. So formulieren es Personaler in Stellenanzeigen. Und so lautet das Ergebnis einer Studie der Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft. Über 60 Prozent der 267 Befragten nannten Authentizität als die wichtigste Führungseigenschaft – noch vor Begeisterungsfähigkeit und Belastbarkeit.

Je echter, desto besser?

Je echter, desto besser? Falsch: Bei der persönlichen Karriere geht es nicht darum, die eigene Persönlichkeit auszuleben. Zugespitzt gesagt: Was in der Männergruppe am Wochenende oder im Tontöpferkurs auf Fuerteventura passen mag, ist im Arbeitsalltag fatal. Denn wer sich im Job mit all seiner Natürlichkeit, mit Zweifeln und berechtigter Selbstkritik zeigt wie er ist, hat nur eine kurze Überlebensdauer. Erfolgreicher sind jene Vorgesetzten, die für sich definieren können, welche Rolle sie in ihrer Funktion jeweils darzustellen haben. Dabei stellt die Rolle, einem Bühnendarsteller ähnlich, das Bündel der Erwartungen seines Publikums dar. Wir werden von Arbeitgebern dafür bezahlt, allmorgendlich in eine spezifische Rolle zu schlüpfen. Gemäß Arbeitsverträgen sind wir angestellt als «Assistenzkraft», «Projektleiter» oder «Geschäftsführer» – nirgends steht geschrieben: «Sei einfach du selbst – sei authentisch!»

Demnach weiß der Profi, wie er sich zu inszenieren hat und welche Symbolik ihm in seiner Position zur Verfügung steht. Gelingt dies, wirkt es kompetent (Joschka Fischer als Frankfurter Sponti und später Außenminister). Gerät die Inszenierung allerdings zu plump, gilt man schnell als trampeliger Täuscher, dessen Maske aufgesetzt wirkt (Martin Schulz als SPD-Chef und später Möchtegern-Außenminister).

Was ist Identität?

Wer sich erfolgreich inszeniert, gibt deshalb noch lange nicht seine Identität auf. Überhaupt, was ist Identität? Die Neurophysiologie zweifelt die Existenz des Ichs mit seiner spezifischen Identität an, ein entsprechendes Hirnareal sei schlicht nicht lokalisierbar. Also entwickeln wir das dynamische Narrativ unseres vermeintlichen individuellen WerteMixes, nämlich unsere Identität, aus den internalisierten Geschichten, die wir uns selbst über uns selbst erzählen – mit allen Verdrängungen, Übertreibungen und Gedächtnislücken.

Ein Leben außerhalb von Rollen ist kaum möglich. Die Rollenangebote divergieren, wiedersprechen einander sogar: die klischeehaft um Ausgleich bemühte EU-Präsidentin und de facto Mutter von sieben Kindern hat wenig mit der Inszenierung einer sich nach oben beißenden Spitzenpolitikerin zu tun.

Wer aus der Rolle fällt, wie der mittlerweile als Bundestagspräsident per se präsidialer auftretende Wolfgang Schäuble, der als Finanzminister seinen Pressesprecher M. Offer öffentlich verspottend demütigte, verliert jeden Respekt und weckt Zweifel an seiner Integrität. Die folgende Kündigung Offers «sagt viel darüber aus, wie Schäuble über die Sache denkt: Soll er doch gehen, ich habe mir nichts vorzuwerfen. Dumm nur, dass Schäuble mit dieser Meinung ziemlich allein dasteht. Und dass ihm seine Haltung noch ziemlich schaden könnte», (Spiegel). Was Schäuble vergaß: «Eine Maske zu tragen, gehört zum Wesen der Zivilisiertheit», (F. Schiller). Sich in der Komfort-Zone der eigenen Authentizität auszuruhen, kann egozentrisch und sozialinkompatibel wirken.

«Gute Unternehmer müssen ihre Authentizität unter Kontrolle bringen»

So paradox es klingt: «Gute Unternehmer müssen ihre Authentizität unter Kontrolle bringen», erklären denn auch Rob Goffee und Gareth Jones, Experten für Organisation an der London Business School, in einem Beitrag für Harvard Business Review. Sie müssen «ihre Authentizität sorgsam aufbauen und vorsichtig damit umgehen». Zu viel Konformität schade der Führungsarbeit, zu wenig könne den Betroffenen isolieren. Anders ausgedrückt: Wer sich stur an die Regeln einer Rolle hält, wirkt kalt und mechanisch. Wer allein seinen echten Gefühlen folgt, agiert blind und eckt an.

Wer also genau hinsieht, versteht, dass das berufliche Leben nichts anderes ist, als ein grandioses Bühnenspiel – mit unterschiedlich verteilten Rollen. Eines der schillerndsten Beispiele ist der ehemalige Gouverneur Kaliforniens: Als gelernter Schauspieler vermochte Arnold Schwarzenegger es, die Rolle eines Politikers so überzeugend zu spielen, dass er zweimal zum Landesvater gewählt wurde. Doch nicht nur in den USA gewinnt in dieser Weise der patente Bühnenakteur. So wurde ein Tatort Schauspieler ganz offiziell im Jahr 2010 zur Wahl des Bundespräsidenten Deutschlands aufgestellt. Fake or failure!?

Wer dieses Spiel durchschaut, ist eindeutig im Vorteil: er lernt, es zu beherrschen und gewinnt gesunden Abstand zum Bühnenspektakel, nämlich Rollensouveränität. Kombiniert mit adaptiver Authentizität – und dem Gespür für sich wandelnde Rollenerwartungen, z. B. auf dem Karriereweg nach oben. Weg vom analytischen Mikro-Management hin zum weitsichtigen Agieren aus der Vogelperspektive.

«Die Welt ist eine Bühne und wir sind nichts als Schauspieler.»

Erfolg hat somit nur, wer glaubhaft darstellen kann, dass er authentisch ist. Lediglich unverbesserliche Gutmenschen und brave oder realitätsferne Kommunikationstrainer der Stuhlkreis-Gilde unterliegen noch dem Authentizitätswahn. Professionelle Executive Coaches analysieren die Rollenerwartungen des jeweiligen unternehmerischen Umfeldes und erarbeiten mit ihren Coachees Handlungsoptionen – zunächst losgelöst von deren vermeintlichen Identitäten.

Auf eine Führungskraft warten die unterschiedlichsten Rollen: sie mäandert chamäleonartig bis hin zur Selbstaufgabe bei der Erfüllung des Erwartungshorizontes zwischen Visionär, Händchenhalter, Finanzjongleur, Entertainer und sozial engagiertem Teamleader. Und genau hier passiert täglich immer wieder Spannendes auf den Bühnen unserer Wirklichkeiten: diese mit Rollensouveränität zu meistern – denn nicht erst seit Shakespeare gilt: «Die Welt ist eine Bühne und wir sind nichts als Schauspieler.»

Rainer Niermeyer
Dipl. Psych., selbstständiger Management Coach & Trainer, Autor «Mythos Authentizität», Keynote-Speaker und Change Manager

Bei diesem Text handelt es sich um einen Beitrag in der Ausgabe 4/2019 der ZOE, den wir Ihnen hier exklusiv kostenlos zur Verfügung stellen.


Editorial Ausgabe 2/21

Zum Streiten verleiten

Wir leben in einer Zeit politischer Korrektheit bei gleichzeitiger Polarisierung (Stichwort Corona-Leugner), in einer Ära der Filter- und Verschwörungs-Blasen und einer zunehmenden Empörungs-, Skandalisierungs- und Cancel-Kultur.

Umso wichtiger erscheint uns heute das produktive Streiten – gerade im organisationalen Kontext und beim Management von Veränderungen. Denn Konfliktvermeidung ist im Kontext der Organisationsentwicklung eine verpasste Chance, um Perspektiven sinnvoll zu kombinieren und bessere Wandelwege zu finden. Doch auch das Gegenteil, wie aggressive oder übermäßig emotionale Konflikteskalation, belastet Beziehungen in Organisationen oft nachhaltig.

Deshalb müssen wir uns und andere dazu befähigen, ergiebig zu streiten und Dissens als Ressource zu nutzen. In diesem Heft propagieren wir dafür einen Design Ansatz, bei dem die Streitsituation bewusst so gestaltet wird, dass unterschiedliche Sichtweisen zu besseren Lösungen führen können. Streit, Dissens und Konflikt werden als potenzialreiche Lern- und Verbesserungschance gesehen, statt als mühevolle, peinliche oder unnötige Qual. Streit wird vom erbitterten Klingenkreuzen (Schlagabtausch) zum partnerschaftlichen Tanz (flexibler Positionswechsel).

Damit dies gelingen kann, braucht es Dissens-Kompetenz, welche wir Ihnen in dieser Ausgabe der ZOE durch Koryphäen, Methodenberichte und Kurzimpulse vermitteln möchten. Reinhard Sprenger erzählt uns dazu von der Magie des Konfliktes. Klaus Doppler lehrt uns den konstruktiven Umgang mit Andersheiten und Heiko Roehl resümiert typische Dissens-Desaster, die jede*r kennen sollte. Im Gespräch mit Carmen Thomas lernen wir das wichtige Konzept der Reaktanz kennen, sowie Wege, wie wir Blindwiderstand durch geschickte Kommunikation reduzieren können. Ein weiteres konstruktives Werkzeug für präziseres Streiten präsentieren wir in der Werkzeugrubrik anhand von Argumentationskarten.

Neben diesen und weiteren Beiträgen zum Schwerpunktthema, finden Sie in dieser Ausgabe zudem spannende Artikel zu narrativen Ansätzen in der Organisationsentwicklung, zu neuen Arbeitswelten und zum klärenden Konzept der Stufenentwicklung.

Lernen Sie also nicht nur unser Thema, sondern vielleicht auch sich selbst besser kennen in dieser Ausgabe der ZOE. Welcher Streittyp sind Sie und welche Ihrer Streitroutinen sollten eine frühlingshafte Erneuerung erfahren?

Wir wünschen Ihnen eine kontroverse, dissensreiche und damit äußerst anregende Lektüre.

Herzlichst, Ihr

Martin J. Eppler


Das ABC der Fakeness

Ein Glossar des schönen Scheins

Wenn Ankündigungsweltmeister auf der Vorderbühne der Organisation Bilanzkosmetik inszenieren… Die schönsten Begriffe rund um Fake Change entlarvend auf den Punkt gebracht.

Ankündigungsweltmeister

Durch die permanente Kommunikation von Vorhaben und Lösungen erzeugen Ankündigungsweltmeister den Anschein, dass wichtige Themen in der Organisation sinnvoll adressiert und in guten Händen sind – es passiert nur nichts. Einem expliziten Hinweis auf diese Differenz wird gerne mit dem Satz begegnet: «Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?»

Bilanzkosmetik

Zahlen stehen in der Organisation für Objektivität, sie repräsentieren Wahrheit und Wirklichkeit. Das nutzen Bilanzfriseure und -kosmetiker aus. Bilanzkosmetik und kreative Buchführung dienen der optischen und kurzfristigen Gestaltung des Bilanzbildes vor dem Bilanzstichtag. Sie wollen dem Bilanzleser einen möglichst günstigen Eindruck von der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens verschaffen. Blühende Landschaften auf Knopfdruck also.

Code of Conduct

Ein Verhaltenskodex dient der Orientierung von Führung und Beschäftigten in Richtung eines verantwortlichen, ethisch korrekten und integren Verhaltens. Ihn einzuhalten basiert auf einer freiwilligen Selbstverpflichtung. Wie handlungsleitend der Kodex im Unternehmensalltag wirklich ist, hängt davon ab, ob er gelebt wird, ob also beispielsweise regelmäßig bei Entscheidungen auf ihn verwiesen wird. Sonst erschöpft sich seine Wirkung schon in dem Moment, wo die Tinte auf dem feinen Büttenpapier trocken ist.

Defensive Routine

Chris Argyris wies in seinen Arbeiten in den 80er Jahren immer wieder darauf hin, wieviel Aufwand Manager betreiben, um Lernprozesse zu vermeiden. Gesichtsverlust wird vermieden, Bestehendes aufrechterhalten. Die Bewältigung schwieriger Situationen geschieht dabei kollektiv musterhaft: Schweigen, Rückzug, Gegenangriffe, Beschämungen, Themenwechsel, Racheaktionen, Ausgrenzungen und einiges mehr. Diese Mechanismen werden toleriert, auch wenn sie offiziell unerwünscht sind.

Employer Branding

In Zeiten grassierenden Fachkräftemangels ist es für alle Organisationen von höchstem Interesse, am Arbeitsmarkt ein attraktives Bild abzugeben. Employer-Branding-Kampagnen zeigen das Unternehmen von seiner schönsten Seite. Fälschlicherweise wird das Ziel der Positionierung einer Arbeitgebermarke oft in der Gewinnung neuer Mitarbeitender gesehen. Die Qualität der Kampagne entscheidet sich aber nicht an denen, die kommen, sondern an denen, die dann auch bleiben.

False Urgency

Falsche Dringlichkeit ist die große Schwester des Aktionismus. Beide funktionieren nach dem Prinzip: Geschäftig zu wirken schützt vor dem Vorwurf der Inaktivität. Was genau getan wird, ist dabei völlig egal, solange es sofort getan werden muss und ausgesprochen wichtig wirkt.

Greenwashing

Wenn es um Nachhaltigkeit geht, bleibt keine Organisation von Transformationsthemen verschont. Ganz egal, ob es sich um den Carbon Footprint der eigenen Lieferkette handelt oder um die Einführung umweltfreundlicher Technologien: Gutes soll getan werden, und mehr: Es muss eifrig darüber geredet werden. Leider schießen viele Organisationen dann beim Geschichtenerzählen übers Ziel hinaus, ohne dass dahinter substanzielle Initiativen stehen.

Hinterbühne

Organisationen bestehen aus mindestens zwei Wirklichkeiten. Einer Vorderbühne, auf der sich die Organisation täglich neu und explizit als leistungsstark, effizient und professionell inszeniert. Und einer Hinterbühne, auf der die implizit gehaltene Kommunikation stattfindet, wo Gerüchte, Machtspiele und Informalität herrschen. Auch wenn es insbesondere für neue Mitarbeitende seltsam scheint: Die wirklich wichtigen Entscheidungen fallen meist auf der Hinterbühne.

Inszenierung

Es gibt keine Unternehmenskultur, die ganz ohne Aufführung, Showelemente und Fassaden auskommt. Inszenierungen machen den Alltag ein bisschen bunter – und sie helfen Menschen dabei, sich in Unternehmen als Teil von etwas Großem und Wichtigem zu fühlen. Wir glauben alle gerne ein wenig an die täglichen Vor- und Verstellungen. Die inszenierte Wirklichkeit im Unternehmen leitet die Aufmerksamkeit der Menschen, und sie lenkt ihr Verhalten. Das gelingt allerdings nur, wenn alle dabei mitmachen. Oder fast alle.

Jahresgespräch

Führungskräfte dürfen von ihren Mitarbeitenden Leistung erwarten. Dafür werden sie schließlich bezahlt (die Führungskräfte, meine ich). Einmal im Jahr wird diese Erwartung in einem Mitarbeitendengespräch formalisiert. Die Führungskraft beurteilt das Leistungsverhalten auf der Grundlage der zurückliegenden Monate. Da es aber viel einfacher ist, positives Verhalten zu attestieren als Kritik zu üben, wird das Gespräch oft als diffuses Lobgehudel aktenkundig. So entstehen ganze Armeen von Leistungsträgern auf dem Papier, wo in Wirklichkeit nur Durchschnitt herrscht.

Krisenstab

In Krisenzeiten herrscht Verunsicherung in der Organisation: Wie wird es weitergehen, werden wir die schwierigen Zeiten überstehen? Die bestehende Leitungsstruktur wird dann gerne mit einem Krisenstab ergänzt. Oder außer Kraft gesetzt. Auf die Führungskräfte hat letzteres oft eine sedierende Wirkung: Wunderbar, es kümmert sich jemand. Und: Zum Glück muss ich das nicht sein.

Leitbild

Leitbilder vermitteln oft genau das, was eben nicht in der Organisation vorhanden ist. Sie sind erstklassige Legitimationsfassaden. Feinsäuberlich laminiert im Besprechungsraum in Szene gesetzt, zeugen Leitbilder von einem Kommunikationsprozess, in dem alle Beteiligten feierlich geloben, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Was sich dann später wirklich im Besprechungsraum abspielt, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Manipulation

Organisationen sind gute Orte für Manipulationen aller Art. Allein das tägliche Bespielen der Vorderbühne erfordert immer wieder einen kreativen Umgang mit der Wirklichkeit. Geschicktes, manchmal undurchschaubares Vorgehen, mit dem sich jemand einen Vorteil verschafft, sichert und fördert die Karriere. Wenn man es genau nimmt, dann manipulieren Organisationen als kollektive Akteure täglich erfolgreich ihre Mitglieder. Sie träumen ihnen auf, dass es sich lohnt, ja dass es kaum wichtigeres gibt, als ihre gute Lebenszeit gegen Entgelt für den Zweck der Organisation umzumünzen.

New Work

Ein großes Versprechen: New Work sei die neue Art, Leben und Arbeiten zu verbinden, es soll die Zukunft der Arbeit ein. Ein Neues Zeitalter des Menschen wird eingeläutet: Werteorientiertes Handeln, Selbstverwirklichung und Teilhabe an der Gemeinschaft. Mehr geht nicht. Das will nun wirklich jede*r. Beim näheren Hinschauen ist die schöne neue Arbeitswelt allerdings oft ein Ringen darum, zur richtigen Zeit die passende Rolle spielen zu können. Da hilft es wenig, wenn bei der Heimarbeit mitten in der Verhandlung plärrend ein Kleinkind durchs Bild wandert. Leider ist dort, wo New Work draufsteht, in der Praxis oft nur kostenoptimiertes Arbeiten drin.

Organigramm

Organigramme bilden die Struktur der Organisation ab. Sie klären verbindlich Gesamtaufbau, Berichtslinien, funktionale Einheiten und Verantwortlichkeiten der Organisation und schaffen so einen wohltuenden Überblick im oft verworrenen Organisationsalltag. Wer sich strikt ans Organigramm hält, kommt aber auf der Suche nach realer Verantwortung oft nicht weit. Organigramme idealisieren und simplifizieren nämlich die Organisation. Und sie schützen nicht vor Verantwortungsdiffusion und Zuständigkeitschaos, weil hinter jedem formalen Organigramm ein zweites, wirklicheres, Informales liegt.

Pseudopartizipation

Inzwischen ist in den Führungsetagen angekommen, dass man bei Veränderungsprozessen tunlichst vermeiden sollte, die eigenen Pläne ohne Rücksicht auf Verluste von oben nach unten durchzudrücken. Das weckt Widerstand und andere Unbill. Deshalb müssen Menschen am Wandel beteiligt werden. Die beste Methode, das zu tun, und trotzdem die eigenen Ziele durchzusetzen, ist die Pseudopartizipation. Man veranstaltet große Change-Programme zur Mitsprache, macht am Ende aber genau das, was vorher bereits in Planung war. Meist fliegt der Schwindel aber am Ende auf. Das ist peinlich und verbrennt Vertrauenskapital.

Quote

Quoten sind probate Mittel, um die Umsetzung von Organisationszielen zu gewährleisten. Eine öffentlich kommunizierte Quote (ganz gleich in welchem Kontext) erzeugt für sich schon die schwerwiegende Last der Selbstverpflichtung. Da wagt man später dann kaum zu fragen, wie es um die Erreichung der selbst gesteckten Ziele steht. Vor allem aber sagt eine Quote, dass es ohne Quote nicht geht. Dass etwas nicht selbstverständlich ist, sondern verständlich gemacht werden muss.

Restrukturierung

Unter den vielen Möglichkeiten, organisatorischem Wandel einen Namen zu geben, zeichnet sich der Begriff der Restrukturierung durch eine Besonderheit aus, die ihn zu einem hervorragenden Vorderbühnenterminus macht: Er beschreibt Wandel als Neuordnung, suggeriert technische Leichthändigkeit, einfachen Umbau. Und ist doch oft nur ein Euphemismus für simplen Stellenabbau. Das hilft natürlich bei komplexen Transformationen. Besonders denen, die sich nicht mit den vielfältigen Widrigkeiten sozialer Systeme herumschlagen wollen.

Schauprojekt

Jede Organisation kennt Projekte, die irgendwie kein Ende finden und die keiner mehr so richtig will. Tote Pferde gewissermaßen, die geritten werden, obwohl sie keinen Mucks mehr machen. Oft ist auch ungeklärt, ob das Projekt überhaupt wichtig ist. Oder für wen. Geht man dann einen Schritt zurück, stellt sich oft heraus, dass diese Projekte ehemals Schauprojekte waren, die ein mikropolitisch relevantes Problem zu lösen hatten. Und die oft mit Personen und Namen verbunden waren, die aktuell eben keine mikropolitische Relevanz mehr haben.

Team

Echte Teams, die stets das Große und Ganze hinter den Aufgaben ihrer Mitglieder im Auge haben und in denen ein ausreichendes Maß an psychologischer Sicherheit herrscht, gibt es ausgesprochen selten in der Praxis. Ganz im Gegensatz dazu wird der Teamgeist meist überall dort beschworen, wo die sozialen Zentrifugalkräfte am stärksten wirken. Nicht umsonst steht in vielen Organisationen T.e.a.m. für «Toll, ein anderer macht’s»!

Unternehmenskultur

 Wenn Geschäftsführer von Unternehmenskultur sprechen, ist Vorsicht geboten. Meist geht es dabei nämlich darum, dass ihr Unternehmen eine Unternehmenskultur bestimmter Qualität hat, die sich seit Jahren und Jahrzehnten als besonders produktiv erwiesen hat. Das Problem dabei ist, dass Unternehmen nicht Kulturen haben, sondern Kulturen sind, in denen sich Ereignisse und Erfahrungen über die Jahre und Jahrzehnte im organisationalen Unbewussten sedimentiert haben. Und dort aktuell verhaltenssteuernd wirken. Dabei sind einige Aspekte der Kultur sicher produktiv, sonst würde das Unternehmen nicht mehr existieren. Andere hingegen sind das nicht. Sonst ließe sich der Appetit der Kultur auf frische, leckere Strategien kaum erklären.

Vertrauen

Vertrauen ist das Schmiermittel sozialer Interaktion. In Organisationen wirkt es als unausgesprochene Grundlage von flotter Zusammenarbeit. Wenn Vertrauen schwindet, dann steigen Kooperations- und Kommunikationskosten exponentiell. Deshalb ist der Terminus Vertrauen ein wichtiges Element in Sonntagsreden aller Art. Nur: Die Soziologie weiß, dass Vertrauen genau dann nicht vorhanden ist, wenn darüber gesprochen wird. Wenn Sie beim Kauf eines Gebrauchtwagens also gebeten werden, dem Händler zu vertrauen, ist das wahrscheinlich genau der Moment, an dem Sie den Laden verlassen sollten.

Window Dressing

 Die Dekoration eines Schaufensters ist eine hohe Kunst. Sie soll Passanten zum Verweilen einladen und sie glauben lassen, dass das schöne Arrangement der Dinge stellvertretend für das ganze Geschäft steht. Abteilungen für Unternehmenskommunikation allerorten betreiben solche Schaufenster mit großem Aufwand. Sie haben dann wohlklingende Namen, die aus dem Angelsächsischen entlehnt sind wie Corporate Citizenship, Corporate Responsibility, Public Value und ähnliche. Nur: In wenigen Geschäften sieht es so hübsch aus wie es ihre Schaufenster glauben machen wollen.

Xfür ein U

Die Fähigkeit von Geschäftsführern und Vorständen, die Wirklichkeit den eigenen Wünschen entsprechend anzupassen, ist unterschiedlich ausgeprägt. Unvergessen ist in dieser Hinsicht Steve Jobs, der sein Team explizit aufforderte, ihm zu signalisieren, wenn er sich wieder einmal im «Reality Distortion»- Modus befand. So behielt er meist beide Beine auf dem Boden der Tatsachen. In Zeiten umfassender digitaler Desinformation wird diese Funktion der «Bullshit Detection» für Organisationen immer wichtiger.

Generation Y

Vielleicht gehört es zu den großen anthropologischen Konstanten, dass der Mensch, hat er erst einmal ein bestimmtes Alter erreicht, sich gerne über die nachfolgenden In Organisationen hat diese Beschwerde inzwischen System: Verwissenschaftliche Generationentypologien helfen, den eigenen Vorurteilen eloquent Ausdruck zu verleihen: Die Generation Y stellt eben alles in Frage. Und sie hat so gar kein Interesse an Status und Prestige. Aber medienkompetent ist sie, deshalb meint sie auch, alles zu wissen. Nur: Wahrscheinlich gibt es die Generation Y überhaupt nicht, die Generationentypologien stehen empirisch nämlich auf ziemlich wackeligen Beinen.

Zeugnis

Nirgends wird mehr gelogen als in Zeugnissen. Auf den ersten, unbedarften Blick lesen sich viele Zeugnisse recht positiv, doch die Codes der Zeugnissprache lassen tiefer blicken. Da werden Schlüsselbegriffe («gesellig») und Nebensätze zu Karrierekillern. Zudem sind Zeugnisse wichtige Katalysatoren des Weglobens. Wir wünschen Herrn/Frau XY alles Gute für seine/ ihre Zukunft. Wer’s glaubt, wird selig.


Rollenbewusstsein

Erfolgsfaktor im Shopfloor Management

Die Zusammenarbeit auf Augenhöhe ist zentral im Shopfloor Management. Sie fällt Führungskräften leichter, wenn diese ein angemessenes Rollenbewusstsein entwickeln. Dadurch können sie leichter erkennen, welche ihrer Rollen als disziplinarischer Vorgesetzter, Trainer, Moderator oder Mentor einer bestimmten Situation angemessen ist. So arbeiten Teams eigenständiger und damit erfolgreicher.

Der Industriemeister ist als industriell-technische Führungskraft definiert, die als Schnittstelle zwischen Betriebsleitung und den ihm unterstellten Mitarbeitenden vermittelt – das gehört zu seiner Rolle. Er sorgt für reibungslose Abläufe in der Produktion und überwacht die Qualitätsstandards der Herstellung. Wie er diese Aufgaben ausführt, hängt unter anderem vom Führungsverständnis in seinem Unternehmen ab und in der individuellen Interpretation seiner Aufgabe. In Hierarchien agiert der Industriemeister ausschließlich im Wortsinn als Führungskraft, also in der Rolle eines Vorgesetzten, bei dem alle Fäden zusammenlaufen.

Was ist meine Rolle?

Im skizzierten Praxisbeispiel (vgl. Kasten) hat die anstehende Veränderung die Führungskraft dazu gebracht, gedanklich über ihre Situation zu reflektieren: Was ist meine Rolle? Reicht diese aus? Oder muss ich nun eine andere Rolle übernehmen, damit das Team auch nach meinem Abschied auf dem Niveau arbeitsfähig bleibt? Diese Überlegungen haben hier zu einem Rollenbewusstsein geführt: Der vorgestellte Industriemeister muss seine Mitarbeitenden befähigen, eigenverantwortlich zu handeln und bei ihnen Wissen und Kompetenzen aufbauen.

  • Praxisbeispiel aus der Metallverarbeitung

    Für Manfred Gieshübler, Meister in der Stanzerei eines Metallverarbeitungsbetriebes im Schwarzwald, hieß es für lange Zeit: Alles hing von ihm ab. Nur er wusste genau, was zu tun ist, er hatte Wissen, Erfahrungen und Kompetenzen monopolisiert. Erstmals bewusst wurde ihm diese Situation, als sein Ruhestand immer näher rückte. Er erkannte: Die starke Ausrichtung auf seine Person ist für seinen langjährigen Arbeitgeber gefährlich. Denn was ist, wenn er nicht mehr da ist? Schlimmstenfalls weiß niemand mehr, was genau zu tun ist. Die Konsequenz: Die Stanzerei würde die gewohnte Termintreue und Qualität ihrer Aufträge gefährden. In der Folge wechselte Gieselhübler seine Rolle: Er wurde zum Lehrer (und Trainer) seines Teams. Er teilte den Kollegen sein «Geheimwissen» mit, um so den Zeitpunkt seines Austritts aus der Firma vorzubereiten.

Das Beispiel zeigt zwei Dinge: Erstens haben Führungskräfte auf dem Shopfloor nicht nur die eine Rolle des «Chefs». Zweitens hilft ein entsprechendes Rollenbewusstsein dem Unternehmen, seinen wirtschaftlichen Erfolg zu erhalten oder gar zu verbessern. Dieser Zusammenhang sollte jedem Unternehmen bei der Einführung von Shopfloor Management bewusst sein – in Industrieproduktion, Maschinen- und Anlagenbau, Automatisierungstechnik und anderen Bereichen. Beide Themen bedingen einander, denn Shopfloor Management erfordert ein geschärftes Rollenbewusstsein, um situativ flexibel und damit erfolgreich zu sein.

Rollen als Bindeglied zwischen Individuum und Organisation

Der Begriff der Rolle ist in Unternehmen weder neu noch ungewohnt, doch da es in der industriellen Fertigung in vielen Teilen um Kommunikation und Interaktion in Arbeitsgruppen geht, ist ein genauer Blick auf die Definition des Rollenbegriffs sinnvoll. Er steht in enger Verbindung mit der Metapher vom «Leben als Bühne». Schon bei Shakespeare finden sich Äußerungen, dass Menschen im Alltag Rollen spielen, ähnlich wie die Darsteller auf der Bühne. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Rollenmetapher in der Wissenschaft aufgegriffen.

Nach einer frühen Definition (Linton 1936) ist die soziale Rolle eine Zuschreibung durch die soziale Umwelt einer Person. Sie beruht auf einem gegebenen Status wie Vorgesetzter oder Mitarbeiter und beschreibt Erwartungen an diese Person sowie ihre Werte, Handlungsmuster und Verhaltensweisen. Schon 1977 erkannte Richard Sennett drei wesentliche Eigenschaften einer Rolle (Sennett 1977): Erstens den Aspekt der Illusion und Täuschung als Faktor gesellschaftlichen Lebens. Zweitens erlaubt die Rolle eine Abtrennung des «inneren Wesens» eines Menschen von ihm als sozial Handelndem – sie zeigt nur Teile der menschlichen Persönlichkeit. Drittens sind Rollen bei Sennett hilfreiche Masken, um soziale Situationen besser zu bewältigen. In der aktuellen Literatur hat sich für die Rolle das Verständnis durchgesetzt, dass sich diese aus der Wechselwirkung von Selbst- und Fremdwahrnehmung herstellt (siehe z. B. Hanschk 2012, Sievers & Beumer 2000).

Jeder Mitarbeitende übernimmt eine oder mehrere Rollen

Wie wirksame Führung erzeugt werden kann

Unternehmen unterliegen immer mehr Einflüssen, die es mittels wirksamer Führung zu bearbeiten gilt. Rollen in Unternehmen sind vor diesem Hintergrund wichtige Hilfen bei der Bewältigung der Komplexität des Arbeitslebens. Jeder Mitarbeitende übernimmt eine oder mehrere Rollen, so wie im oben genannten Beispiel zu sehen. Aufgrund der fortwährenden Veränderungen in Organisationen ist von den unterschiedlichen Rolleninhabern eine dauernde Anpassungsleistung gefordert. Rollen ändern sich, werden vielfältiger und sie werden komplexer. Das Aushandeln ihrer Definition nimmt mehr Raum ein. Die Rolle muss von den Mitarbeitenden verstanden, anerkannt und akzeptiert werden, nur so wird sie auf Dauer wirksam. Dies erfordert eine stärkere Kommunikation als früher üblich und es entstehen deutlich häufiger Rollenkonflikte. Erforderlich wird dadurch ein starkes Rollenbewusstsein: Die reflexive Klarheit über die verschiedenen Rollen in einem Team, einer Abteilung oder innerhalb der Führungs-Mannschaft.

 

Rollen im Shopfloor Management

Rollen sind in einem Unternehmen das Bindeglied zwischen Individuum und Organisation. Im Shopfloor Management oder ganz allgemein im Lean Management ist deshalb die Rolle der Führungskraft immer der Anknüpfungspunkt. Ein wichtiges Erfolgskriterium ist dabei, eine gemeinsame Problemdefinition zu finden und erst danach über Lösungen zu diskutieren. Dies erfordert gegenüber herkömmlichen Führungssystemen von den Führungskräften deutlich mehr Zurückhaltung. Sie müssen bereit sein, die Mitglieder ihrer Arbeitsgruppe bei der Ideenfindung zu unterstützen, sodass diese selbst Lösungen erarbeiten und umsetzen.

Führungspersonen agieren im Shopfloor Management nicht mehr ausschließlich als klassische Vorgesetzte, die Anweisungen erteilen. Stattdessen werden andere Aspekte wichtig, die häufig unter dem Begriff Soft Skills laufen. Dazu gehören z. B. gegenseitiger Respekt, Kommunikation, aktives Zuhören, eine Feedback-Kultur und der Verzicht auf Schuldzuweisungen. Für die Führungskraft bedeutet dies, ihre Mitarbeitenden nach ihren Ideen für die Problemlösung zu fragen und sie zu befähigen, eine strukturierte Vorgehensweise umzusetzen. Kurz: Die Einstellungen und Fähigkeiten sowie das Verhalten der Führungskraft sind hier anders, als in traditionellen Unternehmen üblich.

Illusion der kompletten Kontrolle

In der hierarchischen Organisation hat die Führungskraft die Illusion, die komplette Kontrolle über alle Entscheidungen zu haben. In vielen Unternehmen ist das bis heute so. Der «disziplinarische Vorgesetzte» ist die typische Rolle für Führungskräfte, die ihren Status zumeist aufgrund fachlicher Expertise und Erfahrung erhalten. Doch mittlerweile sind Produktionsprozesse komplexer als früher. Sie erfordern schnelle Entscheidungen und rasches Eingreifen, etwa bei Störungen und anderen kritischen Situationen. Die Führungskraft kann dies nicht vollständig überblicken. Daraus lässt sich die Anforderung an das Personal ableiten, möglichst rasch eigenverantwortlich zu handeln – ohne Entscheidungen durch eine andere Instanz

Dies bedeutet aber, dass die Führungskraft Verantwortung abgeben und zugleich Vertrauen zu den Mitarbeitenden aufbauen muss. Die für eine Führungskraft üblichen Rollen erweitern sich also, beispielsweise um jene als Trainer oder Mentor bei der Einarbeitung von neuen Mitarbeitenden (Kotter 1985). Im Shopfloor Management hat eine Führungskraft vier verschiedene Rollen, nämlich die des disziplinarischen Vorgesetzten, Trainers, Moderators und Mentors.

„Im Shopfloor Management hat eine Führungskraft vier verschiedene Rollen, nämlich die des disziplinarischen Vorgesetzten, Trainers, Moderators und Mentors.“

Die vier verschiedenen Rollen

Disziplinarischer Vorgesetzter: In dieser Rolle geht es um schnelles und effektives Steuern einer Situation. Die Führungskraft trifft Entscheidungen über die weitere Vorgehensweise und teilt den Mitarbeitenden klar ihre Erwartungen mit. Darüber hinaus gibt sie Anweisungen für die künftige Vorgehensweise und delegiert Aufgaben.

Moderator: Aufgabe des Moderators ist es, Ergebnisse und Entscheidungen herbeizuführen, ohne direkte Anweisungen zu geben und ein bestimmtes Ergebnis zu bevorzugen. Er fördert die Diskussion, gibt Raum für Meinungen und erzeugt einen Konsens. Die Mitarbeitenden können ihre eigenen Schlüsse aus dem Verlauf der Diskussion ziehen.

Trainer: Hier erkennt die Führungskraft Lücken in den Kenntnissen und Fähigkeiten jedes Teammitglieds. Ihre Aufgabe ist es, jedem Mitarbeitenden genau diese fehlenden Kompetenzen und Wissenselemente zu vermitteln.

Mentor: In dieser Rolle agiert eine Führungskraft als «persönlicher Berater» für einzelne Mitarbeitende. Sie unterstützt den Mentee bei der Entwicklung einer eigenständigen Lösung für die anstehenden Probleme. Und sie liefert Anregungen und Beispiele, zeigt jedoch keine fertigen Lösungsvorschläge, sondern höchstens Alternativen auf.

Diese vier Rollen unterscheiden sich nach dem Grad der Beteiligung der einzelnen Mitglieder eines Teams: In der disziplinarischen Rolle agiert die Führungskraft allein, die Mitarbeitenden werden nicht aktiv beteiligt – sie sind lediglich Ausführende. Eine gewisse Beteiligung der Teammitglieder ist bei der Rolle des Trainers notwendig, da hier beispielsweise Fragen und eigene Überlegungen wichtig sind. Für den Moderator ist die Mitarbeit des Teams unerlässlich, da hier Problemlösungen und Entscheidungen gemeinsam entwickelt werden. Mentoring erfordert eine noch höhere Beteiligung, denn der Mentee – also die begleitete Person – agiert weitgehend eigenverantwortlich. Der Mentor macht nur wenige Vorgaben, er wirkt vielmehr als Korrektiv und schafft Raum zur Reflexion und für eigene Erkenntnisse für den Mentee.

[…]

Dr. Dirk Bayas-Linke
Prinicipal Staufen AG
Ulrich Beck
Senior Expert Staufen AG

Bei diesem Text handelt es sich um einen Beitrag in der Ausgabe 4/2019 der ZOE, den wir Ihnen hier exklusiv kostenlos zur Verfügung stellen.


Über den Wolken

Moderation im virtuellen Raum

Moderation kommt immer dann zum Zuge, wenn Betroffene zu Beteiligten werden: Zur Ideensammlung, beim Teilen von Wissen, für gemeinsame Entscheidungen, das Klären von Umsetzungsfragen oder das Ausräumen von Konflikten. Unser Plädoyer ist, solche Moderationsanlässe auch gezielt in virtuellen Räumen stattfinden zu lassen – mit neuen Gestaltungsoptionen für räumlich-zeitlich unabhängiges Denken und Handeln.

Der klassische Werkzeugkasten der Moderation (Klebert et al. 2009) und ihres englischen Pendants, der Facilitation (Schwarz 2002), wird seit den 1960er Jahren stetig weiterentwickelt. So entstanden zahlreiche wirkungsvolle und bewährte Beteiligungswerkzeuge für Kurzinterventionen, kleine Formate und Großgruppenkonzepte, die in Veränderungsprozessen orchestriert zum Einsatz kommen. Neben der konkreten inhaltlichen Bearbeitung von Themenfeldern zur Erhöhung der Ergebnisqualität wirkt Moderation vor allem auf der sozio-emotionalen Ebene und liefert Einsichten in das Warum der Veränderungsnotwendigkeit.

Das regelmäßige Öffnen von Kommunikations- und Resonanzräumen, in denen Fragen gestellt und beantwortet werden können oder Bedenken und Gegenargumente geäußert werden dürfen, unterstützt die Nachvollziehbarkeit getroffener Entscheidungen. Wer relevante Informationen mit allen Betroffenen frühzeitig teilt, noch ehe der Flurfunk diese Aufgabe übernommen hat, verhindert Missverständnisse und kontraproduktive Spekulationen.

Wo Transparenz geschaffen wird, können vorhandene Emotionen aufgegriffen und zugrundeliegende Interessen verhandelt werden. Indem Probleme und Störungen adressiert und geklärt werden, wird Widerstand schrittweise abgebaut. Querliegende, kritische, bislang übersehene oder unverstandene Positionen haben die Chance auf Integration und bergen zugleich enormes Innovationspotenzial. Statt sie vorschnell zu übergehen, ist es vielmehr ratsam, solche Argumentationsfiguren zum Gespräch zu machen. In moderierten Settings können positive Szenarien und Zukunftsbilder entwickelt werden. Noch ausstehende Entscheidungen können mit guten Argumenten gestützt und gemeinsam verabschiedet werden. Ein transparenter Prozess mit klar umrissenen Beteiligungsoptionen schafft Verhaltenssicherheit bei allen Beteiligten. Mit Hilfe von durchdachten Prozessen, passenden Settings, hilfreichen Strukturen sowie über die Vereinbarung von klaren Spielregeln leistet Moderation auch im Kontext von Veränderungsvorhaben einen wesentlichen Beitrag zur Zielerreichung (Groß 2018).

Moderation wird von Designern, Architektinnen, Gestalterinnen und Promotoren des Change allerdings oftmals immer noch als eine reine Präsenzveranstaltung gesehen, obgleich nicht nur in global agierenden Großorganisationen, sondern auch in vielen Kleinbetrieben das virtuelle Zusammenarbeiten auf Distanz längst Arbeitsrealität ist. Sowohl die medienunterstützte Kommunikation (Messenger Services, Communities, Web-Konferenzen) als auch Kollaboration mit Hilfe von virtuellen Beteiligungsformaten wie Plattformen, Wikis, Blogs und Foren erfreuen sich wachsender Verbreitung. Allerdings lässt sich dieser Trend bei Moderationen im Rahmen von Veränderungsprozessen nicht beobachten. Es scheint, als ob der Wind des Wandels zwar in allen Organisationsbereichen in Richtung Digitalisierung weht – außer beim Gestalten von Veränderungen selbst.

„Es scheint, als ob der Wind des Wandels zwar in allen Organisationsbereichen in Richtung Digitalisierung weht – außer beim Gestalten von Veränderungen selbst.”

In diesem Beitrag wollen wir gute Gründe aufzeigen und Mut machen, um dieses Phänomen bereits beim nächsten Change-Vorhaben zu ändern. Viele Unternehmen haben anfangs aus der Not heraus, weil sich ihre Zusammenarbeit über räumlich verteilte Standorte erstreckte, mit virtuellen Beteiligungsprozessen experimentiert und gute Erfahrungen gemacht. Dabei mussten sie lernen, dass sich Erfolgsfaktoren aus Präsenzveranstaltungen nicht ohne Weiteres auf den virtuellen Raum übertragen lassen, sondern diese an die spezifischen Besonderheiten virtueller Kommunikation anzupassen sind.

Die wichtigste Lektion: Virtuelle Beteiligungsformen haben Potenziale, die auch im Veränderungsprozess produktiv eingesetzt werden können.

Besonderheiten im virtuellen Raum

Mediengestützte Kommunikation wird zumeist als Einschränkung wahrgenommen. Es gibt bei uns Menschen eine wahrscheinlich evolutionsbedingte Bevorzugung von Präsenzsituationen. Im direkten, persönlichen Gespräch sehen wir uns in der Lage, auch die Mimik, Gestik und den gesamten Kontext einer Kommunikation mit allen Sinnen wahrzunehmen. Weil weniger Hinweisreize und Kontextinformationen zur Verfügung stehen, geht in virtuellen Situationen Handlungssicherheit verloren. Daraus wird zumeist der Ratschlag abgeleitet, z. B. in Veränderungsprozessen unbedingt mit Präsenzveranstaltungen einzusteigen.

Jedoch ist die Kommunikation in Präsenz einer medienvermittelten nicht immer überlegen. Menschen sind schnell in der Lage, durch angepasstes Verhalten, die Einschränkungen der virtuellen Situation zu überwinden. Bei einer reinen Chat-Kommunikation artikulieren sie beispielsweise Emotionen schriftlich, die sonst mit Seufzen oder Stirnrunzeln ausgedrückt würden. Wie stark der Übungseffekt ist, zeigt sich am beharrlichen Festhalten an E-Mails und Telefonen als immer noch präferierte Kommunikationsmedien, obwohl längst reichhaltigere Medien wie zum Beispiel Web-Konferenzen zur Verfügung stehen.

Bei bestimmten Anlässen kann das Ausblenden von Kontextinformationen sogar vorteilhaft sein (Boos et al. 2017). In einem anonymen, schriftlichen Brainstorming gibt es keine störenden Reaktionen anderer Gruppenmitglieder, die die Ergebnisqualität mindern. Im anonymen Chat sind Status und Hierarchieposition der Teilnehmenden, auch für den Moderator, nivelliert. In schriftlicher Kommunikation kann das Fehlen von Informationen über Motive, Hintergründe und Vorgeschichten der Beteiligten eine vorurteilsfreie und sachgerechte Kommunikation unterstützen, die sogar positiver und persönlicher sein kann, als manche face-to-face-Kommunikation.

Daraus lassen sich zwei grundsätzliche Empfehlungen ableiten:

  1. Virtuelle Kommunikation muss gelernt, geübt und geregelt werden und bedarf daher der gezielten Unterstützung. Der Veränderungsprozess sollte nicht das erste Verprobungssetting sein.
  2. Für die Lösung von Aufgaben sollten die jeweils am besten passenden Medien eingesetzt werden. Je größer der Informationsbedarf bei einer Aufgabe, desto reichhaltiger sollte das Kommunikationsmedium zu ihrer Bearbeitung sein (McGrath & Hollingshead 1994).

Chancen virtueller Beteiligung

Neben der Übertragung von direkter Kommunikation in den virtuellen Raum, bieten internetbasierte Kollaborationsplattformen Potenziale für das Change Management. Der virtuelle Raum befreit die Beteiligten von dem Zwang, zu reisen, um sich an einem Ort zu treffen. Personen aus entfernten Standorten lassen sich mit geringerem Aufwand von Beginn an und über einen längeren Zeitraum, auch für kurze Sequenzen, einbinden. Bei der Zusammensetzung von Teams kann man also stärker nach Eignung und Fähigkeiten gehen, als nach dem Kriterium der Verfügbarkeit. Dies eröffnet die Chance für eine neu zu denkende Beteiligungsarchitektur. Während es bislang ratsam war, mit standortbezogenen Beteiligungsprozessen zu starten, die über Repräsentanten verbunden und irgendwann in großen Konferenzen zusammengeführt wurden, kann in virtuellen Räumen ein Beteiligungsprozess von Beginn an integrativ und offen aufgesetzt werden. Der virtuelle Raum nimmt den Zwang, zur gleichen Zeit am selben Ort zu sein. Insbesondere mit schriftlichen Medien (Chats, Communities, Foren oder Wiki-Systeme) kann eine intensive asynchrone Kommunikation erfolgen. Der größte Vorteil für das Change Management liegt aber darin, dass Kollaborationsplattformen mit einer Web 2.0-Logik (McAfee 2009) implementiert werden können, die es allen Beteiligten erlauben, mit allen in Kontakt zu treten und Inhalte zu teilen, die dann im (internen) Netzwerk dauerhaft zur Verfügung stehen. Sie ermöglichen einen barrierefreien Zugang zu den Inhalten und schaffen zugleich Transparenz über den Gesamtprozess.

„Der größte Vorteil für das Change Management liegt darin, dass Kollaborationsplattformen mit einer Web 2.0-Logik implementiert werden können, die es allen Beteiligten erlauben, mit allen in Kontakt zu treten und Inhalte zu teilen, die dann im (internen) Netzwerk dauerhaft zur Verfügung stehen. Sie ermöglichen einen barrierefreien Zugang zu den Inhalten und schaffen zugleich Transparenz über den Gesamtprozess.”

Vor diesem Hintergrund sehen wir vier konkrete Potenziale, die sich im Rahmen von Veränderungsprozessen moderativ nutzen lassen.

Potenzial 1: Permanente Beteiligung in virtuellen Räumen

Moderierte Veranstaltungen sind kein singuläres Ereignis. Sie sind immer Teil eines Prozesses mit realen Folgen. Vorgeschichte(n) und Erfahrungen müssen sinnvoll eingebunden, weitere Fortsetzungsschritte bereits im Workshop angebahnt werden. Qualitätsentscheidend ist, inwieweit es gelingt, die unterschiedlichen Strömungen, Tendenzen, Argumente und Befindlichkeiten – die bereits in der Organisation existieren – aufzunehmen, sie zur Sprache zu bringen und im Prozess zu integrieren. Nur wenn es mit den Ergebnissen, Erkenntnissen und offenen Fragen nach einem Workshop auch tatsächlich konkret weitergeht, ist Moderation sinnvoll.

Relevante Informationen können im Vorfeld digital, in Form von Vorab-Lesestoff, Kurzvideos oder Podcasts zur Verfügung gestellt werden. Begleitende Lese- oder Vorbereitungsaufträge steigern die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Beteiligten tatsächlich mit dem Thema auseinandersetzen. Eine Einladung zur informellen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Sichtweisen im Vorfeld schafft eine gute Grundlage für einen kritischen Dialog. Gleichzeitig hilft es den Verantwortlichen, Widerstände, Bedenken und Vorbehalte frühzeitig zu erkennen. Existierende Fragen können in einem kontinuierlich bestehenden, virtuellen Fragespeicher unkompliziert eingesammelt werden. Sie dienen als Rohstoff für die inhaltliche Konzeption und zur Identifikation von relevanten Themen. Vorab geschaltete Online-Umfragen mit Punktbewertungen zu Statements zeichnen ein erstes Stimmungsbild, auf das sich die Verantwortlichen dann beziehen können.

Im Nachgang unterstützt die virtuelle Verlängerung des Prozesses in Foren oder Communities auf einer Plattform dabei, alle Betroffenen zu informieren, Ergebnisse von dezentralen Gruppen zu teilen, Feedback einzuholen oder Räume für weitere Fragen und Stimmen zu öffnen. Gerade, wenn die jeweiligen Aufgabenstellungen und Ergebniserwartungen klar umrissen wurden, können asynchron mehrere Themen parallel bearbeitet werden. Klare Zielbeschreibungen und nützliche Strukturvorgaben machen die Weiterverwertung der gesammelten Informationen leicht. Die hergestellte Transparenz über alle Schritte sorgt zudem für soziale Kontrolle und erhöht damit die Verbindlichkeit bei der Umsetzung.

Ein solcher, sich über unterschiedliche Beteiligungsformen erstreckender Prozess entsteht freilich nicht erst im Gehen. Stattdessen muss er, vom Ablauf und von der technischen Seite her, von vorneherein entsprechend angelegt und verprobt werden, damit die Übergänge nahtlos verlaufen und sich die Beteiligten störungsfrei ganz auf den Inhalt konzentrieren können. Nur wo die Technik der inhaltlichen Auseinandersetzung dient und ihr nicht im Wege steht, stiftet diese Art der Verlängerung einen echten Mehrwert. Zudem muss klar geregelt sein, in welcher Form, an welcher Stelle und zu welchem Zeitpunkt Kommentierungen und Beteiligung sinnvoll sind.

Wo es gelingt, die moderierte Arbeit virtuell anzubahnen und fortzusetzen, wird einerseits jede Präsenzveranstaltung entlastet. Anderseits impliziert die Prozessgestaltung eine moderative Verpflichtung, an aufgekommenen Themen und Fragestellungen weiterzuarbeiten und die konsequente Nachverfolgung als Teil der Moderationsaufgabe zu begreifen.

Potenzial 2: Offenheit für kurzfristige gezielte Beteiligungsformen

Da längerfristig angelegte Veränderungsprozesse per se nicht planbar sind, ist es umso wichtiger, dafür zu sorgen, dass wo nötig, schnell und pragmatisch (virtuelle) Bypässe gelegt werden, die eine schnelle Zusammenkunft, Absprachen, fokussiertes Denken und situatives Entscheiden ermöglichen. Bei klar umgrenzter Fragestellung sind solche Kurzbeteiligungen von hohem Nutzen (Gärtner et al. 2014).

Situative Partizipation betrifft also eher fokussierte als fundamentale Fragestellungen. Vorbereitete Strukturen helfen, schnell, ergebnisorientiert und differenziert voranzukommen. Ein festes Ablaufdesign und klare Regeln von Seiten des Moderators fördern es, sofort ins Tun zu kommen. Wo die Arbeitsweise und die jeweiligen Arbeitsergebnisse für alle transparent sind und konsequent aufeinander aufbauen, können unterschiedlichste Personen leicht in den Prozess ein- oder wieder aussteigen. Der Beitrag der Moderation besteht im Wesentlichen darin, einen sinnvollen Partizipationsprozess zu antizipieren, die jeweilige Interaktion zielorientiert mit Leitplanken zu versehen und den Informationsfluss so zu steuern, dass nichts Wesentliches verloren geht und alles Relevante zur Sprache kommt – auch mit einem sich verändernden Teilnehmerfeld in unterschiedlichen Beteiligungsräumen.

Zudem lässt sich eine Diskussion, beispielsweise via Webkonferenz, durch relevante Außenperspektiven (betroffene Mitarbeiter, Experten, Kunden oder Repräsentanten anderer Organisationseinheiten) jederzeit sinnvoll erweitern. Damit wird verhindert, dass Diskussionen nur um sich selbst kreisen; gerade in Entscheidungssituationen leistet diese Vorgehensweise einen wirkungsvollen Qualitätsbeitrag, wenn die eigenen Präferenzen mit jenen anderer Stakeholder abgeglichen werden.

Mit einer systematisierten Prozessdokumentation und Dokumentenablage auf einer Plattform erhalten alle jederzeit darüber Auskunft, wo im Prozess man sich gerade befindet, was war, was ansteht und wie der jeweilige aktuelle Bearbeitungsstatus ist. Nutzen stiftet dies sowohl für das Kernteam, als auch für alle anderen Organisationsmitglieder. Dokumente in einer einheitlichen Ablagestruktur, die allen bekannt und für alle jederzeit zugänglich sind, schaffen die Grundlage für die strukturierte Zusammenarbeit in unterschiedlichen Kollaborationsräumen. Hol-Möglichkeiten statt Bring-Schulden kennzeichnen den Informationsfluss. Gerade wer in der eigentlichen Bearbeitungsphase schnell vorankommen will, sollte sich Zeit nehmen, die anvisierten Beteilungsformate sinnvoll aufzusetzen und den jeweiligen Arbeitsmodus nicht dem Zufall überlassen.

Potenzial 3: Intensiveres Feedback und nachklingende Resonanzräume

Kontinuierliches Feedback gilt als essenziell für den Prozesserfolg, gerade wenn man sich in unbekanntes Terrain aufmacht. Während einmalige Stimmungsbilder, egal in welcher Größenordnung und Detailtiefe, immer nur Momentaufnahmen darstellen, liefern wiederholte Befragungen tiefere Erkenntnisse zum Prozessverlauf. Bei digitaler Durchführung kann bei der Fragenwahl je nach Zielgruppe und Betroffenheitsgrad differenziert werden. Nach einem quantitativen Überblick können qualitative Nachfragen für eine bestimmte Teilnehmergruppe spezifisch nachgeschoben werden. Solche präzisierenden Rückkoppelungsschleifen haben sich als extrem wertvoll erwiesen, um mehr über Besonderheiten, Hintergründe und Motivlagen zu erfahren. So müssen nicht immer alle alles bewerten. Dort, wo sich kein klares Bild abzeichnet, kann entsprechend nachgebohrt werden – und das alles mit wenigen Klicks, sobald das Evaluationskonzept steht.

Grundsätzlich gilt: Wer sich Feedback einholt, muss nicht unmittelbare Handlungen folgen lassen. Vielmehr hilft es dabei, eine Zielgruppe immer besser zu verstehen. Die unterschiedlichen Rückmeldungen ergeben einen Resonanzraum, der den Verantwortlichen hilft, Hypothesen zu bilden, Relevantes zu erkennen und Stimmungen einzufangen, um gegebenenfalls nachjustieren zu können.

Nicht nur im Nachhinein, sondern gerade auch im Vorfeld schärft das Bewerten von Statements oder das Einsammeln von Fragen das Bewusstsein aller Prozessbeteiligten. Erwarten Sie von den Feedbackgebern keine Lösung für ihre Probleme, sondern nutzen sie deren Rückmeldungen zur kritischen Auseinandersetzung und als Seismograf für die Akzeptanz der bisherigen und anstehenden Veränderungsschritte und als Grundlage für kritische Selbstreflexion.

Für den Moderator ist es wichtig, ein Gespür dafür zu bekommen, wo die Wahrnehmung der (Change-)Verantwortlichen von der Auffassung in der Gesamtorganisation deutlich abweicht. Der Veränderungsprozess kann mit differenzierten Befragungsergebnissen besser gesteuert werden, um andere Sichtweisen zu spiegeln. Auch die Einschätzung von akzeptierten externen Experten kann hierfür von Nutzen sein. Fragen stellen, präzisierend nachfragen können, Statements stehen lassen, ohne sie vorschnell entkräften zu wollen und dem Antwortreflex wiederstehen – das ist mit virtuellen Hilfsmitteln deutlich einfacher, als in verdichteten Präsenzsituationen.

Potenzial 4: Innovation durch selbstgesteuerte Communities und Netzwerke

Eine Grundvoraussetzung für gelingende Moderation ist, dass Beteiligung in unterschiedlicher Form tatsächlich auch gewollt ist und eben nicht als Alibiveranstaltung inszeniert wird, sondern mit echtem Interesse für die Menschen, ihre Fragen, ihre Gedanken, ihre emotionalen Schwingungen und ihr Engagement in der Sache. Je klarer der Rahmen dafür abgesteckt ist und je höher der Reifegrad der Gruppe, desto mehr Selbststeuerungsanteile kann der Beteiligungsprozess haben – die Basis für Innovation. Dafür müssen alle das jeweilige konkrete Ziel, die Meilensteine im Vorgehen und jene Regeln für das Miteinander kennen, die für eine sinnvolle Zusammenarbeit notwendig sind. Wichtig ist, dass diese Parameter seitens des Moderators vor der eigentlichen inhaltlichen Auseinandersetzung gesetzt beziehungsweise geklärt werden, da nachträgliches Justieren im laufenden Prozess nur schwer möglich ist. Es gibt keine zweite Chance für einen guten Start. Die Transparenz zum Einstieg über diese Punkte ist also maximal erfolgskritisch.

Was es dann noch braucht, gerade im selbstorganisierten Kontext, sind Regeln. Ein Blog mit entsprechenden Kommentarfunktionen, ein Taskboard zur Projektorganisation oder eine Chatgruppe für die direkte Kommunikation in einem Arbeitskreis kann hervorragende Dienste leisten. Dies gelingt allerdings nur, wenn vorab explizit geklärt wurde, was hier geteilt werden soll (und was nicht), wozu dieser virtuelle Ort dient (und was anderswo passiert), wer sich bei gestellten Fragen um Antworten kümmert und welche Verhaltenserwartungen an die Beteiligten bestehen. Gerade in der expliziten Rollenklärung der Gruppenmitglieder liegt ein häufig übergangener erfolgskritischer Faktor.

Die Ernsthaftigkeit des Beteiligungsangebots lässt sich mit der Einrichtung eines Forums unterstreichen. Hier kann man die jeweils wichtigen Themen sequenziell oder parallel diskutieren (> Potenzial 1), kurzfristige Anliegen schnell aufgreifen (> Potenzial 2), und Resonanzräume für Feedback schaffen (> Potenzial 3). Entscheidend ist, dass solche Diskussionen entweder live moderiert oder im Vorfeld gut strukturiert und gerahmt werden. Zudem muss darauf hingewirkt werden, dass die Diskussion und die Beiträge frei sind und missliebige Statements nicht mit Einschränkungen oder Sanktionen belegt werden. Eine solche lernförderliche Offenheit, bei der die Nennung von Problempunkten begrüßt wird und Fragen präzisiert werden, weil beides der Klärung dienen kann, führt mit der Zeit dazu, Vertrauen in den Partizipationsprozess aufzubauen.

Neben einer gezielten Beteiligung liegt in der selbstgesteuerten Vernetzung der Beteiligten enormes informelles Potenzial, wenn sich Communities oder Foren nach eigenem Bedarf und nach eigenen Interessen bilden können, um dort eigene Anliegen zu bearbeiten.

Potenziale der virtuellen Moderation heben

Die vier skizzierten Potenziale einer virtuellen Moderation im Change Management machen deutlich: Virtuelle Formen der Beteiligung bieten Chancen, um örtliche und zeitliche Grenzen zu überwinden. Virtuelle Kommunikation kann wesentlich konzentrierter sein, was für bestimmte Aufgaben ein Vorteil darstellt. Kollaborationsplattformen fördern eine freie Vernetzung jeder mit jedem unabhängig von ihrer organisatorischen Einheit oder örtlichen Verankerung. Dies ermöglicht innovative Vernetzungen und eine gezielte Ansprache von spezifischen Wissensträgern.

All dies gelingt nur, wenn die Technik funktioniert. Nur Werkzeuge, die helfen, ohne große Startprobleme schnell zur Sache zu kommen und Berechtigungssysteme, die niemanden ausschließen, motivieren zur weiteren Beteiligung. Vorliegende Erfahrungen (Greeven & Williams 2017) und Gestaltungskonzepte für die Nutzung kollaborativer Anwendungen (Klötzer et al. 2017) zeigen, dass die Hemmnisse und Hürden zumeist nicht bei der Technologie liegen, sondern bei der Organisation und bei den Menschen. Daher gilt das Motto «People first, technology second!»

Auch Designfehler treten im virtuellen Raum deutlicher zu Tage. Moderation schafft nur dann Ordnung im Veränderungsprozess, wenn die Kommunikationsprozesse virtuell und in Präsenz zielgerichtet aufeinander bezogen sind. Die Begleitung der Interaktionen einer Gruppe und die Steuerung des Informationsflusses steht und fällt mit einem klaren Arbeitsauftrag, einer konkreten Zielstellung und einem geregelten Rahmen. Wo dies gegeben ist, öffnen sich Potenziale für Selbstorganisation und synchrone Beteiligungsformen, bei denen die Moderatorin oder der Moderator dann nur noch feinjustierend eingreifen sollte.

„Moderation schafft nur dann Ordnung im Veränderungsprozess, wenn die Kommunikationsprozesse virtuell und in Präsenz zielgerichtet aufeinander bezogen sind”

Die digitale Vernetzung kann den sozialen Zusammenhalt zwischen verschiedenen Standorten stärken. Die Einladung zur freien Vernetzung und neuen Möglichkeiten der Selbstorganisation kommuniziert glaubwürdig die Werte Offenheit und Transparenz im Change Prozess und trägt zur Selbstverpflichtung und zum Aufbau von Vertrauen bei. Allerdings stellt die konsequente Nutzung virtueller Beteiligungsformate auch mehr Transparenz im Prozess her. Nicht jedem ist es recht, wenn unbequeme Fragen schriftlich gestellt und nicht mehr so leicht übergangen werden können oder wenn stichhaltige Argumente von Kritikern ein Forum finden. Mit dem Beteiligungsversprechen erhöht sich der Erwartungsdruck. Daher sollte nur, wer es mit der Beteiligung ernst meint, zur aktiven Mitgestaltung am Veränderungsprozess einladen; was übrigens nicht nur im virtuellen Raum gilt.

Dr. Stefan Groß
Moderator, Begleiter und Berater von Individuen und Organisationen in Entscheidungs-, Lern- und Innovationsprozessen

Dr. Thomas Hardwig
Senior Researcher im Projekt CollaboTeam der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften, Georg-August-Universität Göttingen, Organisationsberater für Wachstumsmanagement (KOM.in) und Lehrbeauftragter am Institut für Sozialwissenschaften der TU Braunschweig

 

Bei diesem Text handelt es sich um einen Beitrag in der Ausgabe 2/2020 der ZOE, den wir Ihnen hier exklusiv kostenlos zur Verfügung stellen.