Wohin trabt der Amtsschimmel?

Ein kurzer Ritt durch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft öffentlicher Verwaltung

Leitzordnerschrankwände. Formblätterberge. Funktionsmobiliarpralle Wartezimmer. Langwierigste Vorgangsbearbeitungszeiten. Sachgebietsverantwortliche, deren Namen man nicht kennt. Der lähmende Geruch von Filterkaffee. Und – überall die nominalstilistisch geprägte Sprache. Hier noch ein verwaltungssprachliches Zückerchen: Finanzmarktstabilisierungsfortentwicklungsgesetz.
Wie kein anderer Organisationstyp lösen Verwaltungen bei vielen Menschen ähnliche, durchaus erfahrungsgeprägte Projektionen und Bilder aus. Nicht selten erleben wir uns gegenüber Verwaltungen als hilflos oder ohnmächtig. Verfügen sie doch über die Entscheidungsmacht in viele Dingen, die unser Leben betreffen – vom Führerschein bis zur Baugenehmigung. Ihre Sprache ist schwerfällig und formalistisch. Der direkte Kontakt meist beschwerlich und unpersönlich (oder wird so empfunden). Warum genau ist das so?

Der Adel ist tot, es lebe das Beamtentum

Verwaltungen sind eine funktionale Errungenschaft und Notwendigkeit des modernen Nationalstaates. Sie erfüllen öffentliche Aufgaben entweder selber (Polizei, Einwohnermeldeamt, Finanzamt) oder unterstützen andere staatliche Organisationen bei der Erfüllung ihrer Aufgaben (Ministerialverwaltung, Gerichtsverwaltung). Damit lösten sie in Kontinentaleuropa im Grunde den Adel ab – zumindest bezogen auf die Konzentration von Macht und Ressourcen. Das Ergebnis: Es bildete sich ein neuer Berufsstand, die Beamten und Beamtinnen. Sie hatten Ressourcen im Namen des Staates nach Regeln und Gesetzen effektiv einzusetzen. Die Entwicklung eines Beamtenkörpers inkl. Organisationsstrukturen und Entscheidungsformen ist also nur in direktem Zusammenhang mit der Staatenbildung zu verstehen. Verwaltungsangehörige verfügen über «geliehene Macht» des Volkes, so dass sie sich nicht nur den verantwortungssichernden Institutionen, sondern auch dem Volk gegenüber für ihr Handeln zu rechtfertigen haben. Verwaltungen sind somit ein fundamentaler Bestandteil gelebter Demokratien, den sich manche korruptions- und willkürgeprägten Länder wünschen würden (McDonnel, 2020).

Der Politik- und Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Seibel (2016) beleuchtet, worum es im Kern geht, nämlich: um den «Vollzug von Gesetzen außerhalb der Justiz». Die öffentliche Verwaltung gliedert sich dabei in die Verwaltung im organisatorischen (Verwaltungsapparat), formellen (Rechtsverordnungen) sowie im materiellen Sinn (materielle Wahrnehmung von Verwaltungsangelegenheiten). Und das Ziel öffentlicher Verwaltungen lautet: die Erfüllung öffentlicher Aufgaben, also die Vorbereitung, Umsetzung und Kontrolle politischer Entscheidungen sowie darauf basierender Aktionen. Verwaltungen orientieren sich am klassischen Bürokratiemodell Max Webers (siehe die Rubrik Klassiker in dieser Ausgabe).

Ein ehrenwerter Versuch: Die BWLisierung der Verwaltung

Doch auch Verwaltungen müssen sich wandeln. So gab es immer wieder Versuche sie zu dynamisieren, zum Beispiel per New Public Management (NPM) oder «Öffentlicher Reformverwaltung», wie es in Deutschland heißt. Gemeint ist die Übernahme privatwirtschaftlicher Managementtechniken in der öffentlichen Verwaltung. Wie das im Detail verstanden und umgesetzt wurde, variierte jedoch von Land zu Land. In Deutschland beispielsweise fand eine bewusste Reduktion des Ansatzes auf betriebswirtschaftliche Ziele statt. Das bedeutete u. a. die Einführung betriebswirtschaftlicher Effizienzkriterien (Stichworte: flache Hierarchien, Kundenorientierung, Zielvereinbarungen oder Lean Management).

Die Kritik an NPM lautete: Man gehe von einer zu großen Ähnlichkeit von Staat und Privatsektor aus. Der Staat sei vom Gewaltmonopol geprägt und sein staatliches Handeln am Gemeinwohl zu orientieren, wohingegen die Geschäftswelt vom Streben nach Gewinnmaximierung gekennzeichnet sei. Aus Sicht der Betriebswirtschaft wurde wiederum bemängelt, dass NPM überhaupt keine Effizienzverbesserungen erzeuge, da unter anderem mit «Pseudo-Märkten» agiert werde; dass die Reformen teurer seien als die Einsparungen; und dass die geschaffenen Strukturen den Aufgaben keiner betriebswirtschaftlichen Prüfung standhalten würden. NPM verlor dann auch zunehmend an Attraktivität und Relevanz – spätestens mit der Verbreitung des Public-Value-Managements (PVM), das den Fokus auf die Erfassung des langfristigen gesellschaftlichen Mehrwertes legte.

«Es gab immer wieder Versuche Verwaltungen zu dynamisieren.»

Von Anderen lernen? Lieber nicht!

Während bei NPM die Gestaltung von Veränderung in den Händen der Verwaltungen selber lag, sieht das im digitalen Wandel gänzlich anders aus. Deutschland hat in den letzten Jahren Milliarden an Euro in die Entwicklung von E-Government investiert, befindet sich im europäischen Vergleich dennoch nur im letzten Drittel (Rupp, 2022). Gründe hierfür sind u. a. die steigenden Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern sowie der Wirtschaft an eine moderne Verwaltung, die geringe digitale Grundkompetenz und die Beteiligung der Kommunen an der digitalen Transformation.

 

Dass es in Europa auch anders, vor allem konsequenter, geht, zeigt beispielsweise Estland. Der Baltenstaat gilt als Vorreiter im Bereich der digitalen Verwaltung (siehe Kasten). Ließe sich der estnische Weg der Digitalisierung vielleicht auf Deutschland übertragen? Leider nein. Denn anders als in Estland basiert Deutschland auf einem föderalistischen Ordnungsprinzip, bei dem die staatlichen Aufgaben zwischen Bund und Ländern aufgeteilt werden; und zwar so, dass beide politische Ebenen für bestimmte Aufgaben selbst zuständig sind. Außerdem macht es das «Volkszählungsurteil» zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung von 1983 (!) unmöglich, in Deutschland eine elektronische ID zu entwickeln, die mit der estnischen ID-Karte vergleichbar wäre.

«Verwaltungshandeln ist immer ein Agieren unter Restriktionen.»

Warum so kalt?

Verwaltungshandeln ist also immer auch ein Agieren unter Restriktionen. Niklas Luhmann bezeichnete diesen Umstand trefflich als «Grenzen der Verwaltung»: Systemerhalt bedeutet dabei immer ein Management der eigenen Grenzen und das Reagieren auf Umweltveränderungen. Im Falle der Verwaltung handelt es sich bei diesen Umwelten um: die Bürgerinnen und Bürger, das eigene Personal und selbstredend die Politik. Im Verwaltungsalltag geraten diese Umweltbeziehungen permanent in Widersprüche und Konflikte. Das mag eine Erklärung dafür sein, dass Interaktionen mit Verwaltungspersonal oft als anonym, kalt, leidenschaftslos bis hin zu entmenschlicht erlebt werden.

Den unterkühlten Verhaltensstil in Verwaltungen bezeichnet Luhmann einerseits als Zumutung für alle Beteiligten und als Verletzung unserer gewohnten Umgangsformen, andererseits als eine Lösung, um unterschiedliche Ansprüche der Umwelten austarieren zu können. So dient Emotionslosigkeit als ein Mittel, um Berechenbarkeit herzustellen. Denn nur vor dem Hintergrund stabiler Erwartungen sind Verwaltungen in der Lage verbindliche Entscheidungen zu treffen. Genau diese erwartbare Stabilität und die damit verbundene Personenungebundenheit bei Entscheidungen machen Verwaltungen nicht nur zu Pfeilern demokratischer Gesellschaften, sondern auch so unvergleichbar kalt im menschlichen Umgang.

 

Zukunftsfähige Verwaltung?

Was heißt das alles für die Zukunftsfähigkeit von Verwaltungen? Keine Frage, in den letzten Jahren haben öffentliche Institutionen viele Veränderungen eingeleitet und damit einen für diesen Organisationstyp sicherlich angemessenen Weg der Optimierung eingeschlagen. Doch reicht das? Gelingt so eine nötige Selbsterneuerung, die auch das Bild von Verwaltungen in der Öffentlichkeit verbessert?

Doreen Häsner, Leiterin der Internen Beratung des Landes Berlin an der Verwaltungsakademie Berlin, sieht mannigfaltige Herausforderungen, denen sich Verwaltungen gegenübersehen: «Die (Berliner) Verwaltung steht unter einem hohen Veränderungsdruck. Dieser leitet sich sowohl aus den Aspekten von Digitalisierung, wachsendem Arbeitsaufkommen und dem Generationswechsel innerhalb der Verwaltung ab. Hinzu kommen die besondere Stellung als wachsende Metropolregion und die hohen Erwartungen sowie Anforderungen von Bevölkerung und regionaler Wirtschaft an leistungsfähiges Verwaltungshandeln. Dies bedeutet Veränderung für alle Beschäftigten von der zukunftsorientierten Arbeitsplatzgestaltung bis zur tiefgreifenden Analyse und Veränderung von Arbeitsprozessen.» So weit, so gut. Nur was heißt das jetzt?

Es braucht vitale Organisationen und Menschen, die sich diesen Herausforderungen mit Engagement und Herzblut stellen – zu Gehältern, die im direkten Vergleich mit der Wirtschaft deutlich reduzierter sind. Was genau treibt also Menschen an, sich in den Dienst von Verwaltungen zu stellen? Doreen Häsner skizziert hier eine interessante Kombination aus Gestaltungswillen und Stabilität. «Verwaltung muss man wollen», so Häsner. Mit Blick auf den Arbeitskontext in Verwaltungen sei hier die steile These gewagt, dass selbst Menschen, die mit starkem Gestaltungsdrang anheuern, durch den beispiellosen administrativen Sozialisationsprozess von Verwaltungen schnell zu Organisationsbewohnenden werden, die in erster Linie auf den eigenen Zuständigkeitsbereich schauen. Auch hier gilt: Kontext ist König. Für Doreen Häsner ist dennoch klar, dass Führungskräfte die entscheidenden Faktoren für das Ankommen und den Verbleib von guten Nachwuchskräften und Quereinsteigern in Verwaltungen sind. «Ein gutes fachliches Onboarding und das Vertrautmachen mit organisationskulturellen Spezifika ist das Eine. Die Begleitung, Ermutigung und Unterstützung, damit neue Fachkräfte sich wirksam einbringen können, das Andere».

Was bleibt? Deutschland ist weder Estland noch kann es ein Verwaltungssystem von Grund auf neu aufsetzen. Umso wichtiger erscheint es daher, das Bestehende schonungslos in den Blick zu nehmen, sich von lieb Gewonnenem, aber Überholtem zu trennen und Verwaltung als einen zentralen Bestandteil gesellschaftlicher Veränderung wirksam werden zu lassen. Viel Zeit bleibt nicht mehr. In Zeiten, wo künstliche Intelligenz zunehmend Routinetätigkeiten ersetzt, können sich Verwaltungen nicht mehr auf ihre selbstverordnete Beharrlichkeit zurückziehen. Es wird sich daher zeigen, ob das derzeitige Traben nicht doch recht bald einem Galopp in die Zukunft weichen muss.

 

Oliver Haas
ZOE-Redakteur, Seniorberater der osb international

 

Literatur

Luhmann, N. (2021). Die Grenzen der Verwaltung. Suhrkamp.
Metz McDonnell, E. (2020). Patchwork Leviathan. Pockets of Bureaucratic Effectiveness in Developing States. Princeton University Press.
Rupp, Ch. (2022). Deutschland Digital aus europäischer Sicht. vdz.org.
https://www.zoe-online.org/deutschland-digital
Seibel, W. (2016). Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung. Suhrkamp.
Digitale Regierung in Estland
https://www.zoe-online.org/digitales-estland
E-Government in Estland
https://www.zoe-online.org/vorbild-estland


Aus Ausgabe Nr. 3/23: Aktenzeichen Change – Öffentliche Verwaltung im Wandel

Verwaltungen gelten als träge, undurchsichtig, verstaubt, mit Privilegien ausgestattet, wenig reformfreudig und im direkten Umgang mitunter als kalt. Gleichzeitig – und das wird gerne unterschlagen – sind sie eine tragende Säule unseres täglichen Miteinanders. Sie schaffen Rahmenbedingungen, die gesamtgesellschaftliches Handeln ermöglichen und sicherstellen. Ohne Verwaltungen geht nichts: Von der Geburtsurkunde bis zum Totenschein.

Allgegenwärtig, aber nur schwer begreifbar, sind Verwaltungen ein Faszinosum. Deshalb werfen wir in dieser Ausgabe der OrganisationsEntwicklung einen differenzierten Blick auf diesen Organisationstyp und seine vielfältigen Facetten.