New Work aus der Zukunft denken

Vision einer besseren Arbeitswelt

In seinem Buch New Work Utopia zeichnet Carsten Schermuly ein sehr plastisches Bild einer fiktiven Organisation der Zukunft, Stärkande, die sich in Struktur und Kultur konsequent an gut erforschten organisationspsychologischen Erkenntnissen ausgerichtet hat. In diesem Gespräch mit unserer Redakteurin Brigitte Winkler ermöglicht er uns einen Einblick in die konsequente New Work-Praxis von Stärkande. Darauf aufbauend erläutert er, wie Organisationen schon jetzt sowohl die Effizienz und Innovationsfähigkeit ihrer Organisation als auch die Bindung und Zufriedenheit von Mitarbeitenden aktiv gestalten können.

ZOE: Herr Prof. Schermuly, Sie skizzieren in Ihrem Buch «New Work Utopia» die Zukunftsvision einer besseren Arbeitswelt am Beispiel des fiktiven Unternehmens Stärkande. Derzeit fühlen sich zahlreiche Mitarbeitende und Führungskräfte überlastet von der zunehmenden Komplexität, oftmals verbunden mit erhöhtem Arbeitsvolumen und Informationsflut im Arbeitsalltag. Hat Stärkande hierauf bereits Antworten gefunden? Wie werden Mitarbeitende bei Stärkande unterstützt, damit sie sich auf das wirklich Wesentliche in ihrer Arbeit konzentrieren können?

Schermuly: Wenn man zum Wesentlichen kommen möchte, muss man dieses erstmal für sich definieren. Stärkander*innen haben sich sehr intensiv Gedanken dazu gemacht, was wichtig ist: Kreativität und Innovation bestimmen die Unternehmens-DNA und dementsprechend ist für diese Themen ein Zeitbudget reserviert. Bei Stärkander*innen ist es so, dass mit dem «New Time»-Ansatz 60 Prozent der Arbeitszeit für Routineaufgaben verwendet werden und 20 Prozent für Implementierungsarbeiten. Denn wenn etwas Neues erfunden wird, hakt es in Unternehmen häufig daran, dass nicht genug Zeit für die Umsetzung vorhanden ist bzw. etwas marktreif zu machen. Zehn Prozent sind jeweils für Kreativität reserviert, hier kann man wirklich auch cross-sektional zusammenarbeiten. Zehn Prozent sind vollkommen selbstbestimmt. Man kann schlafen, sich weiterbilden oder irgendwas ganz anderes tun.

ZOE: Stärkander*innen managen offensichtlich sehr bewusst die kostbare Ressource Zeit. Auf was achten sie besonders?

Schermuly: Stärkander*innen haben erkannt, dass Meetings durchaus sehr wertvoll sein können, um sich abzustimmen und zu koordinieren. Gleichzeitig wissen sie aber, dass zu viele Meetings die Produktivität und die Innovationsfähigkeit einschränken können. Deswegen haben sie sehr strikte Meeting-Regeln. Beispielsweise ist voreingestellt, dass ein Meeting maximal 30 Minuten dauern sollte. Vorher muss bekanntgegeben werden, worin der Sinn des Meetings besteht, wofür wiederum die Teilnehmenden ihre Zustimmung geben müssen. Damit wird verhindert, dass Menschen aus einer autoritären Kultur heraus einfach an Meetings teilnehmen, ohne deren Sinn zu hinterfragen. Was bei den Stärkander*innen ebenfalls sehr gut gelöst ist, um effizient zu arbeiten, ist die Zusammenarbeit mit der Künstlichen Intelligenz «Thufir». Thufir hilft innerhalb des Unternehmens Wissen zu kuratieren und unterstützt dabei, Entscheidungen vorzubereiten und kognitiv belastende und zeitintensive Tätigkeiten abzunehmen, wie z. B. Protokolle zu schreiben. Dadurch entsteht mehr Zeit für das Wesentliche.

ZOE: Auf welche Weise hält Stärkande seine Organisation und Arbeitsweise schlank und effizient?

Schermuly: Hier verwenden Stärkander*innen zahlreiche Methoden. Beispielsweise werden sehr regelmäßig Bureaucracy Buster durchgeführt. Im Alltag werden sie von der Künstlichen Intelligenz Thufir aufgefordert, darüber aktiv nachzudenken, an welchen Stellen sich bürokratische Hindernisse entwickelt haben und zu bewerten, wo der größte Veränderungsbedarf besteht. Zu den Themen mit den meisten Stimmen trifft man sich in Bureaucracy Bustern und versucht, unnötige Bürokratie wieder aus dem System herauszubekommen. In diesen Meetings sind sowohl die Erfinder*innen der Regeln als auch jene, die von den Regeln betroffen sind, dabei. Spannend ist, dass es durchaus einige Beispiele dafür gibt, dass Regeln und Bürokratie diesen Prozess überlebt haben. Durch den Bureaucracy Buster wurde verstanden, dass die Regel sinnvoll ist und ggf. nur etwas angepasst werden muss. Danach lebt es sich verständlicherweise dann auch besser mit diesen Regeln. Stärkander*innen führen jedoch auch immer wieder sogenannte «Sterbe-Workshops» durch. In diesen werden Themen begraben, damit wieder Zeit und Kraft für andere Bereiche frei wird. Unternehmen wundern sich oft, dass trotz ihres Fokus auf Innovation so wenig Neues entsteht. Das hat damit zu tun, dass Altes nicht beerdigt wird. Es wird an Produkten festgehalten, die nicht mehr laufen oder an Abteilungen, die nicht mehr am State of the Art arbeiten. Was die Organisation außerdem effizient und schlank hält, ist die von Thufir gesteuerte digitale Unterstützung. Es gibt eine Role Map und eine Skill Map, in denen Stärkander*innen mitteilen, welche Rollen sie momentan besetzen und welche Aufgaben und Kompetenzen sie haben. Doppelarbeit wird verhindert, indem die Künstliche Intelligenz Überschneidungen identifiziert, an denen Personen am gleichen Thema arbeiten bzw. ermittelt, wer für ein Thema die Kompetenzen vorhält, und hierfür gemeinsame Treffen vorschlägt.

ZOE: Mir hat die Idee des Desk Connectors sehr gut gefallen, der Stärkander*innen schon bei Arbeitsbeginn vorschlägt, welcher Arbeitsplatz mit welchen Kontaktmöglichkeiten für ihre derzeitigen Aufgaben am sinnvollsten ist.

Schermuly: Der Desk Connector ist einer der bestbezahlten Jobs bei Stärkande. Das ist nicht gleichzusetzen mit einem herkömmlichen Empfang. Der Mehrwert dieses Teams besteht in der intelligenten Vernetzung der Kolleg*innen miteinander.

ZOE: Unter anderem wird bei Stärkander der Einsatz von Führungskräften sehr dosiert vorgenommen. Jedoch wird nicht an deren Qualität gespart, sondern an der in Anspruch genommenen Führungsleistung. Es gilt das Prinzip Leadership on Demand. Wie sieht dieses in der Praxis aus?

Schermuly: Derzeit herrscht in Unternehmen noch vielerorts das Prinzip, dass jede Person geführt werden muss. Das halte ich für eine große Verschwendung von Zeit und Ressourcen und eine Einschränkung von Freiheit, die nicht gerechtfertigt ist. Denn es gibt viele Teams, die ohne Führung erfolgreich zusammenarbeiten können. Stärkander*innen haben erkannt, dass Führung freiwillig und sinnvoll sein sollte. Das Qualitätsversprechen lautet, dass, wenn geführt wird, gute, empowermentorientierte Führung mit den Dimensionen Selbstbestimmung, Bedeutsamkeit, Einfluss und Kompetenz umgesetzt wird. Alle, die als Führungskraft fungieren wollen, durchlaufen ein Assessment; jedoch nur, wenn sie im Alltag von den Kolleginnen und Kollegen bereits entsprechend als gute Führungskraft wahrgenommen wurden. Jeder darf hier einen Vorschlag machen. Wenn mehrere Personen als besonders für Führungsaufgaben geeignet erscheinen, geht das Unternehmen auf die Kolleginnen und Kollegen zu und führt ein Assessment durch. Die Übernahme von Führungsarbeit wird gehaltlich zusätzlich honoriert.


Die Teams, also die Kreise, in denen die Stärkander*innen organisiert sind, entscheiden selbstständig, ob sie als Kreis geführt werden wollen oder nicht. Die Mehrheit der Teams entscheidet sich dafür. Es kann jedoch auch sein, dass ein Team beschließt, nur für eine kritische Phase eine Führungskraft einzusetzen, die koordiniert, Feedback gibt, motiviert und vielleicht Konflikte schlichtet. In ruhigeren Phasen kann möglicherweise wieder auf Führung verzichtet werden. Und so wird Führung zu etwas Fluidem, das wechseln kann. Es gibt viele Kreise bei Stärkande, die einfach immer geführt werden, weil sie selbst keine Lust darauf haben, Koordinationsaufgaben zu übernehmen, Konflikte zu lösen oder die Abstimmung mit anderen Einheiten des Unternehmens vorzunehmen.

ZOE: Können sich die Mitarbeitenden ihre Führungskraft selbst auswählen?

Schermuly: Es werden drei Führungskräfte vorgeschlagen. Aus diesen dürfen die Kolleginnen und Kollegen auswählen, mit wem sie am liebsten zusammenarbeiten würden. Meist findet sich eine passende Führungskraft. Jedoch gibt es auch den Fall, dass die Führungskraft es ablehnt, mit einem bestimmten Team zusammenzuarbeiten, z. B. wenn bestimmte Kreise Führungskräfte nicht gut behandeln. Führung ist ja eine Ko-Kreation. Daher kann es Situationen geben, wo sich in einer Phyle als höherer Entität, in der die Kreise zusammengefasst werden, für einen Kreis keine Führungskraft für ein bestimmtes Team findet. Hier müssen Teams an sich arbeiten, um anschlussfähiger zu werden.

ZOE: Jetzt haben Sie schon den Begriff Phyle erwähnt. Es wurde eine neue Organisationsform bei Stärkande kreiert, die Holohier, welche die Vorteile von Hierarchie und Holokratie miteinander verbindet. Wie sieht dieses Organisationsmodell genau aus?

Schermuly: Genauso wie eine Hierarchie, hat auch die Holokratie Stärken und Schwächen. Die Hierarchie schränkt ein, Informationen fließen nicht so gut und das macht langsam. Bei der Holokratie werden Kolleginnen und Kollegen Führungsaufgaben übergestülpt. Das kann zu Überforderung führen und den Alltag einer Organisation extrem komplex machen. Auch tritt das sogenannte Autonomieparadox auf. Ab einer gewissen Höhe an Autonomie kehren sich deren positive Wirkungen in negative Konsequenzen um. Teilweise beschäftigt man sich dann stärker mit seinem Organisationssystem als mit den Produkten oder mit der eigentlichen Geschäftsidee. Die Holohier ist der Versuch, beide positiven Aspekte zu verbinden und gleichzeitig die negativen Nebenwirkungen abzuschwächen. Stärkander*innen orientieren sich an der sogenannten Dunbar-Zahl. Zusammenarbeit funktioniert nach anthropologischen Erkenntnissen am besten, wenn Menschen in Entitäten von maximal 150 Leuten zusammenarbeiten. Das ist heute noch so. Möglicherweise hat man 8.000 Linked-in-Bekannte, aber Personen, mit denen man intensiver zusammenarbeitet, das sind maximal 150 Menschen. Stärkander*innen organisieren sich dementsprechend in einem sozialen System von maximal 150 Personen, den sogenannten Phylen. Wenn die Phyle wächst, weil sie z. B. erfolgreich ist, muss eine neue gegründet werden. Die Mutterphyle wird zur Geburtshelferin einer neuen Phyle. In diesen Phylen gibt es Kreise als kleinste soziale Einheit. Diese entscheiden selbstständig, ob sie geführt werden wollen oder nicht. Phylarch*innen sind Führungskräfte, die es in der Holokratie nicht gibt. Diese schließen sich wiederum in einen sogenannten Council zusammen und versuchen dort die Governance- und Verteilungsprobleme, die jede soziale Einheit hat, selbstständig zu klären, Strategien zu entwickeln und die Richtung vorzugeben. Hat ein Team sich entschieden, ohne Führungskraft zu arbeiten, muss es sich bei wichtigen Entscheidungen dafür Zeit einräumen, um im Council vertreten zu sein. Gleichzeitig hilft eine Support-Crew dabei, dass Einheiten gut zusammenarbeiten können. Jede Phyle entscheidet selbständig, welcher Support benötigt wird, z. B. IT- oder juristische Kompetenz oder z. B. einen Koch oder eine Köchin. So kombinieren sich die Elemente der Hierarchie mit den Selbstorganisationsprinzipien der Holokratie.

ZOE: Lassen Sie uns zum Thema Kultur der Innovation und kontinuierlichen Erneuerung zurückkommen, die fest in der DNA von Stärkande verankert ist. Gibt es weitere Mechanismen, die dazu beitragen, diese aufrechtzuerhalten?

Schermuly: Spannend finde ich, dass das kulturelle Leitbild von Stärkande sehr detailliert benennt, welche Werte und Normen gelten sollen und welche nicht. Innovation wird als Überlebensversicherung gesehen, damit die Produkte und Services von Stärkande nicht von anderen kopiert und eingeholt werden. Visualisiert wird dieses mit dem Bild des Pioniers oder der Pionierin, die raus gehen, Neues entdecken und erfinden. Jedem wird diese Innovationsfähigkeit unterstellt und daher Zeit für Kreativität zur Verfügung gestellt. Dazu gehört eine hohe Fehlertoleranz, die ebenfalls spezifisch als kultureller Wert benannt ist.

ZOE: Die Pioniere und Pionierinnen sind ja in den Büroflächen visuell sichtbar, um den Gedanken immer präsent zu halten …

Schermuly: Ja, man sieht Pionier*innen in Dokumenten, im Intranet oder man kann sich Thufir auch als Pionier darstellen lassen. Dadurch werden die Kolleginnen und Kollegen immer wieder daran erinnert, dass sie alle Pioniere sind. Die Idee wurde übernommen aus einem Unternehmen in Baden-Württemberg, einem Hersteller von Sicherheitselektronik.

ZOE: Was von den bisher diskutierten Ansätzen wäre auf andere Organisationen übertragbar?

Schermuly: Vieles davon halte ich nicht für utopisch. Man könnte sofort Bureaucracy Busters oder Sterbeworkshops einführen. Es bedarf Mut, darüber zu sprechen, was nicht mehr sinnvoll ist und nicht mehr zum Unternehmensleitbild passt. Hier unterscheiden sich Stärkander*innen von anderen Organisationen. Dass sie diesen Mut haben, das konsequent zu leben. Der konsequente Einsatz einer künstlichen Intelligenz zur Entlastung von Aufgaben und zur besseren Vernetzung anhand einer Role und Skill Map innerhalb eines Unternehmens wäre ebenfalls bereits jetzt digital möglich. Bei Stärkande wurde die Pflege des Systems dadurch erleichtert, dass ich meine Informationen einfach einsprechen kann und diese nicht mühevoll eintippen muss.

ZOE: Auch wenn Stärkande (noch) eine fiktive Organisation ist, so erscheinen viele der New Work-Arbeitsprinzipien – Axiome genannt –, nach denen Stärkande arbeitet, nicht unrealisierbar. Warum tun sich Organisationen so schwer, den New Work-Ansatz konsequent zu etablieren?

Schermuly: Häufig ist es so, dass die Mitarbeitenden in Unternehmen nicht genau wissen, welche Axiome d. h. Arbeitsprinzipien sie eigentlich leiten. Darüber denken die Stärkander*innen sehr intensiv nach. Sie nehmen sich Zeit, um über ihre Arbeitsprinzipien, ihre Axiome, bewusst zu sprechen. Nur dann kann man an den Arbeitsprinzipien wirklich arbeiten
und sie sukzessive anpassen.

 

Des Weiteren sind bei der Implementierung von New Work verschiedene Perspektiven miteinzubeziehen, z. B. was bedeutet New Work für unseren Sicherheitsdienst? Wie sieht unser Betriebsrat diese Initiative? In einer modernen Organisation ist der Betriebsrat ein wichtiger Treiber für das psychologische Empowerment. Stärkander*innen nutzen die Organisationspsychologie als Zielbild, indem sie sagen, sie wollen dieses Empowerment bestehend aus Selbstbestimmung, Einfluss-, Sinn- und Kompetenzerleben erfahren und nutzen. Die Personalabteilung, die häufig in deutschen Unternehmen sehr ohnmächtig ist, treibt bei Stärkande
diesen Prozess voran. Die Einführung von New Work ist kein Prozess, den man generalstabsmäßig planen kann, sondern ein langer Weg, auf dem man kontinuierlich an sich arbeitet und wo Führungskräfte und Mitarbeitende als wichtige Multiplikatoren agieren. Die Einbindung unterschiedlicher Perspektiven in New Work-Initiativen findet leider viel zu selten statt. Es werden schicke Beratungen von außen geholt, die dann den Transformationsprozess so anleiten, wie sie es woanders schon einmal gemacht haben. Das muss jedoch nicht unbedingt zum Unternehmen passen. Wirklich über Arbeitsprinzipien nachzudenken, diese bewusst zu machen und dann auch daran zu arbeiten – dafür fehlt es vielen Unternehmen an Zeit, aber auch teilweise an Reflexionspflicht.

«New Work wird momentan
um Transformationsprozesse wie ein
Schleifchen herumgewickelt.»

ZOE: In ihrem neuen Buch «New Work Dystopia» beschreiben Sie ebenfalls anhand eines fiktiven Unternehmens, Kaltenburg, was passiert, wenn unter dem Deckmantel New Work Einsparmaßnahmen umgesetzt werden. Was sind die größten Fehler bei der Umsetzung von New Work-Maßnahmen?

Schermuly: Die Mitarbeitenden von Kaltenburg sind nicht nur New Work-müde, sondern auch verängstigt, denn sie haben im Zusammenhang mit New Work viele Unsicherheiten erlebt. Das rührt daher, dass die Kaltenburger den Begriff New Work missbrauchen. Auch das passiert momentan bedauerlicherweise sehr häufig in deutschen Unternehmen. Hier ist die Dystopie der Realität leider sehr nahe. New Work wird momentan um Transformationsprozesse wie ein Schleifchen herumgewickelt. Beispielsweise wenn man 30 Prozent Mietfläche sparen will, was unternehmerisch vollkommen legitim ist, wird das Open-Space-Büro mit dem Etikett New Work versehen. Den Kaltenburgen werden Einspar- und Veränderungsprozesse mit dem Label New Work verkauft, was diese jedoch schnell durchschauen. Das geht natürlich an den ursprünglichen Zielen von New Work vorbei. So kann New Work schnell zum New Ork werden – etwas, das einst gut gedacht war, sich aber in eine falsche Richtung entwickelt hat. Den zweiten Fehler, den ich derzeit beobachte, ist, dass New Work zu stark aus einer Methode heraus gedacht wird. Man erfährt, dass Unternehmen X agile Projektarbeit eingeführt hat, dann macht man das auch. Ich denke, wir müssen New Work aus der Zukunft denken, und weniger als Methode.

ZOE: Was bedeutet das?

Schermuly: Das bedeutet, dass man sich als Unternehmen vergegenwärtigen sollte, in welche Zukunft wir uns bewegen. Welche organisationspsychologischen Voraussetzungen sind notwendig, um in dieser Zukunft erfolgreich zu sein. Erst dann kann man das passende Methodenspektrum auswählen und einsetzen. Fehlende Diagnostik führt zu verwirrendem Aktionismus. Die Kaltenburger machen einfach etwas und analysieren weder den Ist-Zustand noch setzen sie Instrumente ein, um zu sondieren, welche Voraussetzungen vorhanden sind, um eine gewisse Methode anzuwenden. Wie ein Arzt, der sofort operieren würde, ohne vorher eine Untersuchung durchgeführt zu haben. Es wird einfach gemacht und dann scheitert man, dann macht man wieder etwas und scheitert wieder. Die Mitarbeitenden assoziieren dann damit, dass New Work gescheitert ist. Das passiert in Kaltenburg und leider Gottes auch häufig in der Realität.

ZOE: Mit Stärkande haben Sie bereits eine sehr plastische Zukunftsextrapolation einer in vielerlei Hinsicht attraktiven Arbeitswelt geschaffen. Wahrscheinlich würde der Großteil unserer Leser*innen lieber bei Stärkande als ihrer derzeitigen Organisation arbeiten. Und trotzdem bleibt es eine Fiktion. Als differenzierter Beobachter von Organisationen – was sind die wesentlichen Herausforderungen der nächsten Jahre für Organisationen?

Schermuly: Ich glaube, alle Trends, die uns umgeben, sind bekannt. Der explodierende Wissenszuwachs, der demografische Wandel, der uns in Mitteleuropa beschäftigen wird, die Digitalisierung, das Thema Künstliche Intelligenz. Wir haben den Klimawandel, Deglobalisierung und Globalisierung, dies legt sich momentan alles als für uns erlebbare VUKA-Welt übereinander. Zukünftig müssen wir an der Harmonisierung von vier Bereichen arbeiten: der Mensch, die Aufgabe, die Technik und – durch Corona neu hinzugekommen – der Raum. Die hybride Zusammenarbeit von an verteilten Stellen arbeitenden Menschen ist in vielen Unternehmen noch nicht gelöst. Es ist nicht damit getan, Betriebsvereinbarungen zu schließen. Hier wird es wichtig, diese vier Bereiche mit psychologischem Know-how gut und harmonisch zusammenzuführen. Wir kommen damit in ein Zeitalter, in dem die Organisationspsychologie eine hohe Relevanz erfährt.

ZOE: Was müssten Führungskräfte und Mitarbeitende Ihrer Meinung nach an Problembewusstsein oder Kompetenzen neu hinzugewinnen?

Schermuly: Ich denke, Führungskräfte müssen darin unterstützt werden, zu erkennen, wie wirksam sie immer noch sind. Viele Unternehmen werden weiterhin Führungskräfte einsetzen. Wenn wir das Empowerment-Erleben als wesentliche positive Konsequenz von Führung sehen, dann können Führungskräfte dieses auf ganz verschiedene Art sowohl selbst erleben als auch bei anderen stimulieren. Unsere Forschung zeigt, dass das Empowerment-Erleben der Führungskräfte maßgeblich das Empowerment-Erleben der Mitarbeitenden stimuliert. Wenn ich als Führungskraft selbst Sinn in dem finde, was ich tue, und mich als selbstbestimmt und einflussreich wahrnehme, dann überträgt sich das auf die Mitarbeitenden. Ich kann das Empowerment-Erleben mit meinen Führungsverhaltensweisen unterstützen, indem ich coache, Verantwortung übertrage, sinnstiftend und als Vorbild auftrete sowie die passende Arbeitsgestaltung mit Mitarbeitenden zusammen angehe. Gleichzeitig ist es so, dass dies die Unternehmenskultur in ihren Strukturen auch zulassen muss. Ich erlebe häufig, dass Führungskräfte aufgefordert werden, auf eine gewisse Art und Weise zu führen, dass aber nur auf der Vorderbühne dieser Führungsstil gewünscht ist. Auf der Hinterbühne werden dann doch Personen befördert, die ganz anderes Verhalten zeigen. Und hier ist es wichtig als Unternehmen konsistent mit den eigenen Werten zu agieren.

ZOE: Der New Work-Ansatz ermöglicht Ihrer Meinung nach eine Balance zwischen den beiden grundsätzlichen Zielen Humanisierung und Effizienz. Sind diese beiden Ziele tatsächlich vereinbar? Was ist nötig, um hier eine gute Balance zu halten?

Schermuly: Metaanalytisch können wir zeigen, dass das Empowerment-Erleben mit zahlreichen positiven Konsequenzen, wie z. B. Innovationsleistung und Performance assoziiert ist, die auf beide Ziele einzahlen.  Empowerte Menschen sind leistungswilliger, proaktiver und leistungsstärker, was sich wiederum positiv auf deren Effizienz auswirkt. Zugleich erhöht sich die Arbeitszufriedenheit, die Bindung ans Unternehmen, die psychische Gesundheit und die Bereitschaft, erst später in Rente gehen zu wollen. Das ist für mich das Faszinierende und auch einer der Schlüssel, um beides zu erreichen: Zufriedenheit und Humanisierung und zugleich Effizienz, Innovation sowie Leistungsfähigkeit.

ZOE: Wie können Organisationsentwickler*innen diesen Prozess unterstützen und welche neuen oder zusätzlichen Kompetenzen werden hier erforderlich?

Schermuly: Es ist ein großer Vorteil, wenn Organisationsentwickler*innen viele Unternehmen kennen, damit sie quasi ethnologisch und psychologisch beobachten können, was funktioniert und was nicht. Diese Erfahrungen stärken die Beurteilungskompetenz. Ein weiterer Punkt ist eine solide organisationspsychologische Ausbildung und kontinuierliche Weiterbildung,in der man die evidenzbasierten Theorien und Konzepte kennenlernt, die für die Gestaltung von Führung, Zusammenarbeit und Organisationen derzeit Relevanz haben. Stärkande beruft sich z. B. auf evidenzbasiertes Managementwissen, welches durch einen wissenschaftlichen Beirat unterstützt wird. Viele Organisationen kaufen sich wissenschaftliche Expertise für ihre Produkte und ihr Marketing ein, jedoch nicht für die Gestaltung ihrer Organisationen, das ist erstaunlich. Weiterhin sollten Organisationsentwickler*innen in diagnostischen Methoden erfahren sein, um auf einer Diagnose dann die Interventionen zu planen. Die Grenzen zwischen Coaching, Personalentwicklung und Organisationsentwicklung verwischen, man braucht ein breites Methodenspektrum, um Organisationen bei ihrer Arbeitsgestaltung der Zukunft zu beraten. Zum Schluss brauchen Organisationsentwickler*innen Mut, Aufträge anzunehmen, aber noch viel mehr, um Aufträge abzulehnen, die einer positiven Zukunftsvision von guter Arbeit, die mit einem guten Leben einhergeht, entgegenstehen.

ZOE: Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Prof. Dr. Carsten C. Schermuly
Professor für Wirtschaftspsychologie an der SRH Berlin University of Applied Sciences, Vizepräsident für Forschung und Transfer

Prof. Dr. Brigitte Winkler
ZOE-Redakteurin, Geschäftsführende Partnerin von A47 Consulting, Beratung für Unternehmensentwicklung und Managementdiagnostik in München

 

Literatur:

• Schermuly, C. C. (2023). New Work Distopia. Scheitern im Wandel und wie es besser geht. Haufe.
• Schermuly, C. C. (2022). New Work Utopia, Die Zukunftsvision einer besseren Arbeitswelt. Haufe.
• Schermuly, C. C. (2021). New Work – Gute Arbeit gestalten: Psychologisches Empowerment von Mitarbeitern (3. Aufl.). Haufe.
• Schermuly, C. C., Graßmann, C., Ackermann, S. & Wegener, R. (2022). The future of workplace coaching – an explorative Delphi study. Coaching: An International Journal of Theory, Research and Practice. 15(2), 244-263.
• Schermuly, C. C. (2017). Mehr als coole Büros. Warum New Work nur mit psychologischem Empowerment funktioniert. OrganisationsEntwicklung, Heft 4, 12-18.
• Schermuly, C. C., Koch, J., Creon, L. E. & Drazic, I. (2022, online). Developing and testing an instrument to measure the culture for psychological empowerment in organizations (IMPEC). European Journal of Psychological Assessment.
• Schermuly, C. C., Creon, L. E., Gerlach, P., Graßmann, C., & Koch, J. (2022). Leadership styles and psychological empowerment: A meta-analysis. Journal of Leadership & Organizational Studies, 29 (1), 73-95.


Aus Ausgabe Nr. 4/23: Organisationsdiät – Fokus auf das Wesentliche

Unsere Ressourcen werden knapper und die damit verbundenen Veränderungen werden immer deutlicher spürbar. Viele Gespräche – ob privat oder beruflich – drehen sich zurzeit darum, wie man ressourcenschonender als bisher agieren kann. Organisationen sind daher mehr denn je gefordert, sich von Überflüssigem zu befreien und ihren Fokus auf das Wesentliche ihres Mehrwerts für Kunden und Gesellschaft zu konzentrieren. Viele von ihnen befinden sich derzeit noch in einem Zwischenstatus. Wissend, dass eine sozioökonomische Transformation unausweichlich ist, wird vielerorts begonnen, das eigene Geschäftsmodell samt Prozessen und Strukturen zu hinterfragen und zu entrümpeln.

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