Viel hilft meist nicht viel

Fokussierter Change statt Überforderung

Die Frage ist nicht neu und dennoch wiederholt sie sich seit Jahren in schöner Regelmäßigkeit, befeuert von Statistiken zum Erfolg von Change-Programmen in der Wirtschaft: Woran liegt es, dass nur etwa ein Viertel der Vorhaben so gelingt, wie beabsichtigt, hingegen drei Viertel entweder nicht oder nur teilweise liefern, und das oft mit großer Verzögerung und explodierenden Kosten? Dieser Artikel macht zwei Hauptursachen dafür aus und elaboriert sie.

Die Welt steht Kopf und diejenigen, die Orientierung geben sollen, verzetteln sich. So könnte man die Situation in vielen Unternehmen beschreiben, die angesichts der gegenwärtigen Multi-Krisen-Situation herrscht: Ein Change-Programm jagt das nächste – in der Hoffnung auf den Befreiungsschlag, der doch endlich kommen und vom Übel der Überforderung, des andauernden Umsteuerns und unzufriedenstellender unternehmerischer Performance erlösen möge. Doch er kommt nicht. Das Hin- und Her-Wechseln zwischen Organisationsformen in kurzen Zyklen, die x-te Verfeinerung von Unternehmensprozessen, das Implementieren von Hype-Themen wie Agilität, New Work und Diversity scheint jedes Mal wieder die Chance auf Lösung mit sich zu bringen. Meist jedoch steht am Ende nur eine weitere Enttäuschung, wenn groß angekündigte und werbewirksam inszenierte Ziele nicht erreicht und behindernde Kernursachen nicht beseitigt werden.

Die Statistik dazu ist eindeutig: Nur etwa ein Viertel der Change-Vorhaben in der Wirtschaft gelingt (Sackmann & Schmidt, 2018). Diese Quote ist seit Jahren unverändert und sie sollte alarmieren, denn dahinter stehen handfeste wirtschaftliche Nachteile. Schließlich werden Veränderungen in Unternehmen nicht aus Jux und Tollerei angegangen, sondern aus genau einem Grund: um einen unternehmerischen Nutzen und damit einen Vorteil am Markt zu schaffen. Kommt dieser später als geplant oder schlimmstenfalls gar nicht, öffnet das Tür und Tor für Erfolge der Wettbewerber. Der Blick auf prominente Unternehmen wie Quelle, Neckermann, Mediamarkt-Saturn und andere zeigt das drastisch. Die Insolvenzen von Görtz, Hakle und Leoni sind neuere Beispiele.

Doch das Alarmieren scheint auszubleiben. Stattdessen herrscht offenbar die Vorstellung, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu können. Hat das eine Transformationsprojekt nicht funktioniert, wird ein neues ausgerufen, das die Nachteile des vorherigen beseitigen soll. Darauf das dritte, vierte usw. Geschichten wie die eines Automobilzulieferers, der zunächst Hand an seine Prozesse gelegt, dann Lean-Management eingeführt, eine Qualitätsoffensive durchgezogen, fundamental umorganisiert, agile Methoden ausgerufen hat und jetzt auf Führung und Team-Diversity schaut, sind eher die Regel als die Ausnahme. Darüber vergehen zehn oder mehr Jahre, während das Personal immer noch über ähnliche fundamentale Schwächen klagt wie vor dieser Flut an Veränderungsmaßnahmen.

Vielfalt und Komplexität
Dazu passt das Phänomen, dass ob des rapiden technologischen und gesellschaftlichen Wandels, dem Unternehmen ausgesetzt sind, die Anzahl an Transformationsprogrammen geradezu explodiert ist, während gleichzeitig deren Laufzeiten kürzer und kürzer werden sollen. Der Bereichsleiter eines Energie-Unternehmens beklagte jüngst, dass er angesichts der schieren Menge der laufenden Change-Initiativen keinen Durchblick mehr hätte und nicht mehr in der Lage sei, für seine Teams vernünftig zu priorisieren. Neben drei konzern- und zwei bereichsweiten großen Programmen liefen noch mindestens zehn kleinere Vorgänge.
Was dann passiert, liegt auf der Hand: Die Programme kannibalisieren sich gegenseitig, buhlen konkurrierend um Aufmerksamkeit und Ressourcen. Wer am lautesten schreit und den größten Druck übers Management aufbaut, findet temporär Gehör. Kann das funktionieren? Natürlich nicht. Der Effekt ist Beliebigkeit: Es spielt keine Rolle, welches Vorhaben gelingt, und das oft über Jahre hinweg. Dieser Zustand kommt einem «Change-Overkill» gleich und ist unternehmerisch hoch kontraproduktiv. Ihn herbeizuführen ist leicht, das Rezept steht oben. Aus ihm herauszukommen, ist hingegen anstrengend und mühsam. Hauptursache Nummer eins für die geringe Erfolgsquote von Veränderungen ist also eine unüberschaubare Vielfalt und Komplexität der Change-Programme, die nicht mehr verstanden wird – weder von der Unternehmensleitung noch von den Führungskräften noch von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern –, und die dazu führt, dass der unternehmerische Nutzen aus dem Blick gerät.

Fehlendes Verständnis
Sind Menschen dieser Situation über lange Zeit hinweg ausgesetzt, reagieren viele von ihnen mit Change-Müdigkeit. Sie geben es auf, die Zusammenhänge verstehen zu wollen, warten an der Seitenlinie ab und sehen zu oder machen gar Dienst nach Vorschrift. Dass sich darin ein Vertrauensverlust in diejenigen ausdrückt, die mit einer derart untauglichen Change-Architektur hantieren, wird meist nicht bemerkt. Dem Gelingen scheinen ja sachliche Gründe entgegenzustehen. Dann muss man sich eben gemeinsam mehr anstrengen und alles öfter erklären. Doch dieses Sich-Anstrengen kann nicht zum Erfolg führen, denn es ist wie der Versuch des Fahrens mit Vollgas bei gleichzeitig angezogener Bremse. Das führt zur Hauptursache Nummer zwei: Es fehlen sowohl das Verständnis dafür als auch der Fokus darauf, was Menschen brauchen, um sich auf Veränderungen einzulassen – oder anders gesagt: was sie treibt und dazu veranlasst, sich zu bewegen und gewohnte Pfade zu verlassen.

«Hat das eine Transformationsprojekt nicht funktioniert, wird ein neues ausgerufen.»

Dabei geht es am Ende durchwegs um Verhaltensänderungen, also um ein «heute so» und «morgen anders», ohne die es keinen wirksamen Change geben kann. Wer schon einmal versucht hat, mehr Sport zu machen, abzunehmen oder mit dem Rauchen aufzuhören und es dann doch nicht getan oder nicht durchgehalten hat, weiß, wie hoch die Hürde für eine konsequente Verhaltensänderung ist. Überforderung und Vertrauensverlust sind definitiv keine geeignete Basis dafür.

Lösung I: Fokus auf unternehmerischen Nutzen

Im Grunde ist die Logik einfach: Der Dreh- und Angelpunkt jedes Change-Programms ist der angestrebte unternehmerische Nutzen. Woher auch sonst sollte die Motivation dafür kommen? Dieser Nutzen kann sehr vielfältig sein: Eine effizientere Projektbearbeitung, die die Gewinnmarge erhöht, fällt genauso darunter wie die Vereinfachung der Produktarchitektur, die Ausfallraten und damit Gewährleistungskosten senkt, oder die Hinzunahme neuer Marketingkanäle, die zu mehr Anfragen und Verkäufen führt. Nicht darunter fallen hingegen die Einführung eines neuen Werkzeugs oder einer neuen Methode um ihrer selbst willen oder das blinde Nachahmen dessen, was Wettbewerber tun, im Sinne von «me too». Auch eine persönliche Vorliebe oder Meinung, und sei sie noch so stark, ist kein Hinweis auf den unternehmerischen Nutzen. Beispiele für fehlenden Nutzen könnten unzählige aufgeführt werden. Ganz prominent sind «Agilität einführen» oder «New Work einführen» mit einer diffusen Vorstellung davon, was nach der Einführung anders ist als vorher. Kurze Iterationszyklen, mehr Kundenorientierung und Team-Empowerment sollen daraus resultieren, eine höhere Motivation und Wertschätzung werden auch gerne genannt. Das hört sich zwar gut und erstrebenswert an, doch es ist durch die Bank kein unternehmerischer Nutzen und taugt folglich nicht zur Motivation von Veränderungsaktivitäten.
Es muss also entweder weiter gedacht werden, etwa mit der Frage, welcher Mehrwert aus kurzen Iterationszyklen folgt und woran er festgemacht werden kann, oder der Rotstift angesetzt werden. Es könnte sein, dass der Hype «Agilität» nicht zum aktuellen Entwicklungsstand des eigenen Unternehmens passt oder nicht den Nutzen verspricht, den die Literatur anpreist. Dann heißt es, die Finger davon zu lassen, und wenn die Wettbewerber noch so stark darauf setzen.

 

Kein Change ohne Nutzen
Der Mehrwert von Change- und Transformations-Prozessen muss also unmissverständlich klar sein, um darin zu investieren. So bestechend einfach und nachvollziehbar diese Logik ist, so sehr wird sie in der Praxis verwässert. Erfahrungsgemäß ist bei der Vielfalt der Veränderungsaktivitäten in Unternehmen nur für weniger als die Hälfte der Vorgänge klar, was sie bringen sollen. Ein einfaches Gedankenspiel kann erste Hinweise auf die Situation in der eigenen Organisation geben: Man stelle sich nacheinander die gerade laufenden Change-Initiativen vor. Welche davon soll welchen Nutzen liefern? Die Antworten müssen wie aus der Pistole geschossen kommen. Tun sie es nicht, besteht zumindest Klärungs-, oft auch Handlungsbedarf. Für jede Veränderungsaktivität muss zweifelsfrei klar sein, welcher Vorteil daraus folgt. Diesbezüglich dürfen keine Unklarheiten bestehen bleiben, denn auf dem Fundament des Nutzens baut alles Weitere auf: Die Ziele und die Strategie des Change-Programms, das Einschätzen des Fortschritts und der Zielerreichung wie auch die Führung und die Kommunikation. Der zu erreichende unternehmerische Nutzen ist die einzige Legitimation für  Veränderungen. Es sei angemerkt, dass der Nutzen nicht unmittelbar ein monetärer sein muss, auch wenn ein grobes Überschlagen hilft. Geht es beispielsweise um ein Programm zur Förderung der Bindung ans Unternehmen, ist es angeraten, sich die unterschiedlichen Effekte klarzumachen, die davon zu erwarten sind – neben der offensichtlichen Einsparung beim Recruiting.
Was also ist zu tun? Erstens, das konsequente Filtern der Change-Vorgänge mit Blick auf ihren unternehmerischen Mehrwert (siehe Kasten). Zweitens, das ersatzlose Streichen derjenigen Vorgänge, deren Mehrwert in Zweifel steht. Drittens, das Konzentrieren mit aller Kraft auf diejenigen Vorgänge, die die eigene Organisation wirklich voranbringen. Das klingt eingängig und nachvollziehbar? Das ist es auch. Das ist leicht umzusetzen? Oft nicht so einfach, wie es klingt. Unterschiedliche Interessenslagen im Management-Team, Ängste und andere Befindlichkeiten spielen dagegen, bisweilen sogar recht massiv. Mittels solcher Entscheidungen werden Machtkämpfe in Unternehmen ausgetragen und Politik gemacht. Das Verfolgen der Devise «ohne klaren Nutzen kein Change-Programm» braucht ggf. härtere Bandagen und Durchhaltevermögen.

Überlastung vermeiden
Die weiteren Vorteile dieser konsequenten Haltung sind das Freiwerden von Ressourcen und das Entkommen aus dem sich immer schneller drehenden Hamsterrad des Change-Overkills. Wenn eine Auswirkung der Krisen der letzten Jahre prominent im Vordergrund steht, dann ist es die Überlastung von Organisationen und der Menschen darin. Dieser könnte mit bewusster Fokussierung und Entlastung entgegengetreten werden, stattdessen ist ein erratisches Anstoßen von Change-Programmen nach dem Motto «viel hilft viel» verbreitet. Das ist vor dem Hintergrund der Ungewissheit in Krisen und damit einhergehender Ängste zwar erklärbar, verstärkt jedoch die Überforderung. Abhilfe schafft das Fokussieren auf den unternehmerischen Nutzen. Wird die Landschaft der Veränderungsvorhaben im eigenen Unternehmen um die Hälfte ausgedünnt und auf das Wesentliche konzentriert, das tatsächlich entscheidend weiterhilft, folgt eine deutliche Entlastung für Führungskräfte wie auch für ihre Teams. Zudem entsteht dadurch ein Gewinn an Klarheit für den unternehmerischen Kurs. Genau dort geht es lang.

Lösung II: Fokus auf Menschen

Kaum wird ein Change-Programm angekündigt, schon reagieren Führungskräfte wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ganz unterschiedlich darauf. Die einen freuen sich über die schon lange überfällige Veränderung und gehen begeistert mit, die anderen wollen nichts davon wissen und lassen keine Gelegenheit aus, ihre Missbilligung kundzutun sowie dagegen zu arbeiten. Dazwischen gibt es jede Menge weiterer Positionen. Dabei ist klar: Solange der einzelne Mensch in seinem Denken und Verhalten nichts verändert, sondern morgen genauso denkt und handelt wie heute, bleibt alles beim Alten. Dazu kommt, dass die einzelnen Menschen nicht unabhängig voneinander agieren, sondern Teil des durchaus komplexen sozialen Systems «Unternehmen» sind, in dem es Beziehungen und Abhängigkeiten gibt, eine Historie und gespeicherte Erfahrungen sowie die Fähigkeit der Selbststabilisierung. Letztere ist etwa bei einem Führungswechsel beobachtbar: Die davon Betroffenen richten ihr Verhalten zügig an den neuen Macht- und Einflussstrukturen aus, unabhängig davon, ob das unternehmerisch günstig und so gewünscht ist. Zudem sind Menschen aus konstruktivistischer Sicht als autopoietisch zu verstehen (Stangl, 1989). Das bedeutet, dass der Einzelne seine Existenz und sein Verhalten aus sich heraus erzeugt, seine Zustände und Zustandsänderungen selbst steuert, seine Beziehung zu seiner Umgebung selbst wählt und gegenüber dieser autonom ist. Oder anders gesagt: Jeder Mensch entscheidet basierend auf seiner eigenen Wahrnehmung über den Sinn und die Machbarkeit einer anstehenden Transformation. Jeglicher Versuch des Verordnens oder Überstülpens von Veränderungen muss also fehlschlagen. Vielmehr kommt es darauf an, das Angebot «Change» so zu gestalten, dass es eher anzieht als abstößt.

Emotionen sind der Schlüssel
Wie geht das? Die Grundhaltung dazu ist, Change-Programme so anzugehen, dass Menschen bereit sind, Selbstveränderungen zu initiieren, die günstig sind für die gewünschte unternehmerische Richtung – also den Fokus auf das zu legen, was Menschen brauchen, um sich auf Veränderungen einzulassen. Entscheidend dafür ist das Verständnis, dass Menschen sich dann bewegen, wenn sie emotional dabei sind (Lederer, 2022). Sind sie nur rational dabei, bewegen sie sich nur mit Mühe (siehe Kasten S. 57). Zwar ist diese Erkenntnis nicht neu, gleichwohl fehlt in der Regel das Verständnis dafür und folglich auch die Umsetzung. «Bei uns wird rational und sachorientiert entschieden, Gefühle haben dabei nichts verloren», ist die überwiegend anzutreffende Einstellung; also Sachorientierung statt Menschenorientierung. Damit ist in puncto Change kein Staat zu machen. Die Notwendigkeit der emotionalen Zustimmung zu ignorieren, ist die prominenteste Ursache für die geringe Erfolgsquote von Veränderungsvorhaben. Menschen sind keine hochgradig rationalen Wesen, denen man nur erklären müsste, was warum nötig ist, damit sie gewohnte Verhaltensmuster ändern. Unzählige Veränderungsprogramme, in denen es nicht oder nur sehr zäh vorangeht, sprechen eine deutliche Sprache. Sowohl Sachorientierung als auch Menschenorientierung ist die Lösung.

 

Die Salutogenese hilft
Damit stellt sich die nächste Frage: Wie kann emotionale Zustimmung erreicht werden? Eine überaus nützliche Handreichung dafür sind die Prinzipien der Salutogenese, die auf Forschungen des amerikanisch-israelischen Medizin-Soziologen und Stressforschers Aaron Antonovsky zurückgehen (Antonovsky, 1997). Deren essenzieller Kern ist, dass es Menschen gut geht und sie ein Grundvertrauen darin empfinden, an sie gestellte Anforderungen bewältigen zu können, wie etwa diejenigen, die aus Change-Programmen kommen, wenn Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit gegeben sind – und zwar aus der individuellen Perspektive des und der Einzelnen. Die Summe dieser drei Aspekte nennt Antonovsky Kohärenzgefühl. Das Spannende daran ist die Einfachheit bei gleichzeitiger Wirksamkeit, mit der diese Prinzipien in der Praxis anwendbar sind. Im Grunde wird daraus ein Filter, mit dem sämtliche Aspekte und Aktivitäten einer Change-Initiative bewertet werden können (siehe Kasten). Sowohl mit Blick auf die Veränderungsstrategie als auch auf Führung, Kommunikation, Umsetzung etc. fragt man sich, ob aus Sicht der Betroffenen Kohärenz gegeben sein kann, und steuert nach, falls nicht. Die gute Nachricht: Die konsequente Anwendung bringt unmittelbar voran. Die schlechte: Man wird auf Widerstände treffen, denn es fehlt oft an Sensibilität und Einsicht dafür, dass derartiger «Psychokram» helfen kann. Eine von oben verkündete Veränderungsstrategie sowie eine Reihe Change-Manager und -Workshops werden es schon richten, oder? Nein, das werden sie nicht. Kohärenz entsteht u. a. dann, wenn Führungskräfte ihren Teams vermitteln können, was sich an ihren täglichen Abläufen  verändert, mit welchen Mitteln diese Veränderungen umgesetzt werden und wie das zum gewünschten unternehmerischen Nutzen beiträgt. Die Erfolgsaussichten derart getrimmter Transformationsprozesse steigen signifikant, da via des Abklopfens auf Kohärenz bereits im Vorfeld die Weichen Richtung hoher Akzeptanz gestellt werden. Umgekehrt ist bei schiefgehenden Veränderungen zu beobachten, dass mindestens eines, häufig
sogar zwei oder alle drei Kohärenzprinzipien nicht erfüllt sind.

 

 

 

 

 

 

 

 

Cut-off-Punkt
Ein weiterer Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit: Das Vermeiden von Überforderung beim Change, und zwar sowohl des Unternehmens als Ganzes wie auch des Managements und der Belegschaft. Überforderungsvermeidung ist sowohl im Kontext des Fokussierens auf den unternehmerischen Nutzen relevant, siehe oben, als auch mit Blick auf das menschenorientierte Gestalten von Change. Dabei spielen einerseits Kontextwechsel aufgrund von Unterbrechungen der «regulären Arbeit» durch vielfältige Change-Aktivitäten eine Rolle. Diese führen nicht nur zu einem Mehrbedarf an Zeit und Ressourcen aufgrund der erforderlichen Re-Fokussierung, sondern auch zu einem gesteigerten Stressempfinden (Starker et al., 2022). Zwar sind die Effekte solcher Kontextwechsel bekannt, doch wird in Transformationsprozessen kaum Rücksicht darauf genommen. Gang und gäbe ist die Metapher vom «Umbau des Vehikels bei voller Fahrt», die die sofortige produktive Anwendung des Neuen erwartet, ohne Spielraum dafür einzuräumen – offensichtlich eine Illusion.
Andererseits bedeutet das Sich-Einlassen auf Veränderungen, unbekanntes Terrain zu beschreiten und damit per se Unsicherheit und Belastung. Die Neurobiologie verweist darauf, dass unser Gehirn viel leichter und mit deutlich geringerem Energieaufwand gewohnte Pfade beschreitet als neue (Roth, 2007). Das Bilden neuer Verknüpfungen im Gehirn braucht Aufmerksamkeit und Wiederholungen. Kein Wunder also, dass Überforderung ein schlechter Ratgeber für Change-Prozesse ist und dem Beibehalten eingeübter Arbeitsweisen bzw. dem Rückfall dazu Tür und Tor öffnet. Daraus folgt: Wenn Veränderungen gelingen und zum «neuen Normal» werden sollen, braucht es Spielraum. Weder mit Blick auf Kontextwechsel noch auf den Lernvorgang im Gehirn, funktioniert «viel hilft viel», ganz im Gegenteil. Der einzelne Mensch wie das ganze Unternehmen vertragen nur eine sehr begrenzte Anzahl an Change-Vorgängen, wenn der Fokus nicht verloren gehen und die Erfolgswahrscheinlichkeit hoch sein soll. Als Faustregel kann gelten: Zwei größere und zwei kleinere Change-Vorgänge sind der Cut-off-Punkt für den einzelnen Menschen, etwa zehn Prozent der Personalkapazität derjenige fürs ganze Unternehmen – siehe den Aspekt der Handhabbarkeit Handhabbarkeit aus der Salutogenese. Das überrascht viele Führungskräfte, wenn sie an ihre unüberschaubare «Change-Tapete» denken. Zudem kommt häufig das Argument, dass eine derartige Begrenzung zu langsam mache gegenüber dem Wettbewerb. Doch das zieht nicht, denn nichts macht langsamer als misslingende Change-Programme, von denen es gemäß Statistik nach wie vor viel zu viele gibt.

«Der einzelne Mensch wie das ganze Unternehmen vertragen nur eine sehr begrenzte Anzahl an Change-Vorgängen.»

Fazit

Es ist an der Zeit, den unternehmensschädlichen Trend mehrheitlich fehlschlagender Veränderungsprozesse umzukehren. Die konsequente Fokussierung auf deren unternehmerischen Nutzen sowie die  Berücksichtigung dessen, was Menschen brauchen, um neue Wege einzuschlagen, sind zwei wirksame Mittel der Wahl. Beide erlauben die einfache Bewertung von Change-Programmen hinsichtlich ihrer unternehmerischen Tauglichkeit. Diese Bewertung führt einerseits zur Reduktion der Change-Last in Unternehmen und andererseits zu einer deutlich höheren Erfolgsrate. Das ist nicht nur in Zeiten knapper Ressourcen eine Win-win-Strategie.

 

Dr. Dieter Lederer
Unternehmensberater, Executive-Coach, Autor und Investor Dr. Lederer Consulting GmbH

 

Literatur:

• Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. dgvt.
• Lederer, D. (2022). Der Change-Code. Wiley.
• Roth, G. (2007). Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Klett-Cotta.
• Sackmann, S. & Schmidt, C. (2018). Change-Fitness-Studie 2018. Mutaree GmbH & Universität der Bundeswehr München.
• Schiffer, E. (2013). Wie Gesundheit entsteht. Beltz.
• Stangl, W. (1989). Das neue Paradigma der Psychologie. Vieweg.
• Starker, V., Bracht, E., Roos, K. & van Dick, R. (2022). Gehirngerechtes Arbeiten. OrganisationsEntwicklung, 4, 76-78.


Aus Ausgabe Nr. 4/23: Organisationsdiät – Fokus auf das Wesentliche

Unsere Ressourcen werden knapper und die damit verbundenen Veränderungen werden immer deutlicher spürbar. Viele Gespräche – ob privat oder beruflich – drehen sich zurzeit darum, wie man ressourcenschonender als bisher agieren kann. Organisationen sind daher mehr denn je gefordert, sich von Überflüssigem zu befreien und ihren Fokus auf das Wesentliche ihres Mehrwerts für Kunden und Gesellschaft zu konzentrieren. Viele von ihnen befinden sich derzeit noch in einem Zwischenstatus. Wissend, dass eine sozioökonomische Transformation unausweichlich ist, wird vielerorts begonnen, das eigene Geschäftsmodell samt Prozessen und Strukturen zu hinterfragen und zu entrümpeln.

In dieser Ausgabe der ZOE finden sich vielfältigste Anregungen, wie sich Organisationen auf den Weg machen, sich intelligent zu organisieren, damit sie dem allerorts spürbaren notwendigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau begegnen können.