Geronnene Erfahrung

Geschichten als Grundlage der Unternehmenskultur

Seit über 25 Jahren forschen, publizieren und beraten Christine Erlach und Michael Müller zum Thema Storytelling. Wir haben mit ihnen über die Bedeutung von Geschichten für die Organisationsentwicklung gesprochen. Und darüber, wie wir alle in Organisationen hineinerzählt werden.

ZOE: Erzählt uns bitte mal eine Geschichte, die Eure Arbeit gut illustriert.

Müller: Ein Auftraggeber kommt und sagt, wir planen einen Change und wir haben das Gefühl, die Leute wollen da nicht mitgehen. Der Auftrag: «Entwickeln Sie doch mal eine Story, um dieses Mindset zu ändern». Das ist ein ganz typischer Anlass in unserer Arbeit. Nur: Mit einer Story allein kann man kein Mindset ändern. Ganz abgesehen davon, dass wir gar nicht wissen, ob die Beteiligten wirklich das falsche Mindset haben. Durch narrative Interviews hat sich in diesem Fall herausgestellt, dass das Mindset eigentlich völlig in Ordnung war, die Mitarbeitenden aber nicht einverstanden mit dem Weg des Wandels waren.

Erlach: Oder diese: Wir hatten ein Gespräch mit einem Auftraggeber, der aus zwei Organisationen eine gemeinsame machen muss, weil ein Teil der Organisation zunächst herausgelöst werden sollte, diese Neugründung jedoch gescheitert ist. Eine schwierige Ausgangssituation. Jetzt geht es darum, die Menschen wieder in die alte Kultur der Mutterorganisation zurückzubringen. Mit Widerständen und allem, was dazu gehört. Wir haben vorgeschlagen, narrative Interviews zu führen, um erstmal ein Gefühl für die Organisation zu bekommen: Was für Werte und Haltungen aus der alten Kultur sind lebbar für die Gruppe von Leuten, die eigentlich rausgegangen wären? Und welche Haltungen und Vereinbarungen von der neuen – nun verlorenen – Kultur könnten der alten Kultur nutzen? Wie oft haben wir auch hier mit dem Auftraggeber über die Anzahl dieser Interviews gesprochen. Wir haben sechs bis sieben vorgeschlagen – in weiteren Interviews bekommt man immer wieder ähnliche Erlebnisse erzählt, die auf gewisse Grundhaltungen und Grundüberzeugungen einzahlen. Der Auftraggeber wollte aber 15 Interviews, weil es repräsentativ sein sollte. Repräsentativität ist aber gar nicht unser Ziel oder unser Anspruch. Diese Dialektik, dass wir nicht repräsentativ arbeiten wollen und müssen, aber uns trotzdem in einer Welt bewegen, in der Quantität für Belegbarkeit von Ergebnissen steht, ist typisch für unsere Arbeit.

ZOE: Wie geht Ihr mit dieser Dialektik um?

Müller: Bezüglich der Repräsentativität geben wir zunächst den wissenschaftlichen Hintergrund, also wie qualitative Forschung funktioniert, erklären Validität, sozialwissenschaftliche Theorie, Grounded Theory etc. Häufig führen wir allerdings trotzdem mehr Interviews als wir eigentlich für die Wissensgewinnung bräuchten, damit sich der Kunde wohlfühlt. Das klingt ein bisschen seltsam, ist aber nicht so gemeint. Denn oft ist ja die Interviewphase schon selbst eine wichtige Intervention.

Erlach: Genau, in dieser ersten Phase wird schon eine neue Erfahrung gesetzt: dass man eine Stunde hat, in der keine Frage gestellt wird, sondern wirklich nur erzählt und zugehört wird. Tatsächlich kommt im Idealfall nur eine einzige Frage von uns zu Beginn: «Erzählen Sie doch mal vom ersten Tag an». Das kennen die meisten Menschen so nicht. Also führen wir oft mehr Interviews als notwendig, um mehr Menschen am Prozess teilhaben zu lassen.

ZOE: Was definiert für Euch ein narratives Unternehmen?

Müller: Man könnte sagen, alle Organisationen sind narrativ. Weil wesentliche Bereiche jeder Organisation durch Narrative und Geschichten bestimmt sind. Identitäten sind narrativ konstruiert, Werte sind narrativ konstruiert. Das wissen die Organisationen bloß meistens nicht. Erfahrungswissen, wie es Christine in ihren Prozessen hebt, ist immer narrativ konstruiert.

Erlach: Wir gehen von der Grundannahme aus, dass Unternehmenskultur die Summe aller Erzählungen ist, die über ein Unternehmen intern oder extern erzählt werden. Das heißt, man kann qua Definition nicht festlegen, was die Kultur ist. Auch wenn es mit jeder sogenannten «Mission» und «Vision» versucht wird. Sie ist die Summe aller Erfahrungen. Und Erzählungen sind Erfahrungen, die miteinander geteilt werden.  Das ist das Identitätsstiftende an den Erzählungen. Diese sich selbst erzählenden Geschichten muss man unterscheiden von solchen, die konstruiert oder gemeinsam gestaltet werden. Die speisen sich im Idealfall aus diesen geteilten Erfahrungen, wirken aber leider oft genug abgekoppelt und designt, und dann entfalten sie ihre Wirkung nicht. Das ist jedenfalls unsere Erfahrung mit dem Storytelling im gestalterischen Sinne.

Müller: Als wir vor 25 Jahren angefangen haben mit diesen narrativen Interviews, waren wir selbst überrascht, dass es offenbar immer ein übergeordnetes Organisationsnarrativ gibt, das sich durch alle individuellen Erzählungen aus einem Unternehmen zieht. Im Mittelpunkt dieses Narrativs steht eine bestimmte Transformation. Man merkt das immer daran, wo die Leute anfangen, von früher und von heute zu erzählen. Manchmal ist das ein Reorganisationsprojekt, manchmal ein Merger, manchmal ist es ein Börsengang, manchmal ist es auch nur der Verkauf einer technischen Anlage, die den Mitarbeitenden sehr am Herzen gelegen hat.

ZOE: Also ein roter Faden?

Müller: Ein roter Faden. Und in einigen Jahren wäre das wieder ein anderer, wenn man mit dem gleichen Mitarbeitenden nochmal reden würde. Weil sich wieder etwas verändert hat. So dass nicht nur kumulativ, sondern auch strukturell eine ganz andere Geschichte erzählt wird.

ZOE: Verändern solche Geschichten auch die Ereignisse?

Müller: Eine wichtige Prämisse für uns ist, dass das Erzählen immer von der Gegenwart ausgeht: Wir rekonstruieren, wie wir geworden sind, was wir heute sind. In der Anfangszeit der «Oral History» gab es eine größere wissenschaftliche Auseinandersetzung, ob Erzähl-Interviews wirklich die Vergangenheit abbilden können oder nur die Interpretation der Vergangenheit durch die Gegenwart. Ich glaube, sie leisten eindeutig letzteres.

ZOE: Das ist die konstruktivistische Perspektive im besten Sinne. Wir schauen nochmal ein bisschen tiefer in die Frage der Verhaltensrelevanz und Wirksamkeit von Geschichten. Eine Geschichte, die ich selbst erzähle und die für mich wahrhaftig ist, bestimmt, wie ich mich verhalte, nicht wahr?

Erlach: Absolut, ja. Die Geschichten, die ein soziales System definieren, beinhalten immer auch Verhaltensweisen, die belohnt oder geahndet werden. Als neuer Mitarbeitender lernt man in der Kaffeeküche mehr über Dos and Don’ts und die eigene Anschlussfähigkeit ans System als aus jedem ausgeteilten Knigge. Das zeigt sich auch in der Enkulturation. Wir selbst werden ja auch hineinerzählt in die Kultur, in unsere Gesellschaft.

ZOE: Wir werden hineinerzählt. Ein wunderbarer Begriff. Die Geschichte steht also da als eine Art Kondensat dieses Wissens. Du hast mal geschrieben, Geschichten sind der Stoff, aus dem die Organisationen sind.

Müller: Die eigentliche Identität wird bestimmt durch die Geschichten, die wir über uns selbst erzählen als Organisation, und durch die Geschichten, die andere über uns erzählen. Das weiß man auch aus der psychologischen Identitätsforschung: Man hat die eigene Identität nie ganz in der Hand, weil die Erzählungen der anderen genauso wichtig sind. Und natürlich werden wir auch in Geschichten hineingeboren. Der Stoff, aus dem Organisationen gemacht sind, diese Identität, das ist die Menge aller Geschichten, die erzählt werden. Natürlich gibt es auch Organigramme und Flussdiagramme, aber die bilden im Idealfall nur das ab, was die narrative Konstruktion der Identität vorgegeben hat.

Erlach: Ich gebe ein Beispiel aus der Unternehmenskultur, um das zu verdeutlichen: Viele Organisationen setzen sehr auf ihre Werte: Wir sind kundenorientiert, wir sind agil, wir sind offen für Diversität, was auch immer. Schlagworte, die in aller Regel überhaupt nicht hinterfragt werden. Und die dann doch irgendwie in Ziele umgesetzt werden, rein kognitiv, linear. Wenn wir aber narrativ die Erfahrungen heben, uns also von Situationen aus dem Organisationsalltag erzählen lassen, können wir sehen, dass es zu einem semantischen Feld wie z. B. Kundenorientierung oder Agilität ganz verschiedene Auslegungen gibt. Ich kann solche Worthülsen anreichern mit Authentizität, mit echten Erfahrungen. Das ist das, was wir mit narrativ konstruiert meinen; mit dem Stoff, aus dem Organisationen sind. Die kognitive Worthülse ist nicht lebendig, aber die darunterliegende authentische Erfahrungsebene der Erzählungen kann den Wert für Menschen anschlussfähig machen. Bei Leitbildprozessen ist das ausgesprochen wichtig. Wir haben mal bei einem großen Unternehmen einen Story-Circle gemacht (siehe Kasten), in dem Kundenerlebnisse zunächst erzählt und dann in einem zweiten Schritt den Leitbildsätzen zugeordnet wurden. Und plötzlich war den Mitarbeitenden klar: Das Leitbild ist gar nicht aus der Luft gegriffen, wir erleben die Arbeit tatsächlich so.

ZOE: Warum wird bestimmtes Wissen in Organisationen leicht gespeichert, anderes wiederum ist kaum in Geschichten abbildbar? Der oftmals verzweifelte Versuch von Geschäftsführung und Vorständen, Narrative zu setzen, scheitert ja häufig genau daran.

Müller: Entscheidend ist, ob es Erfahrungen gibt, an die solche Narrative andocken können. Je weiter sie davon entfernt sind, umso schwerer wird es. Das gleiche kann man auch in der Politik sehen. Politiker*innen glauben immer, das beste Argument gewinnt. In Wirklichkeit gewinnt das beste Narrativ; dasjenige, das andocken kann an die Erfahrungen der Bürger und Bürgerinnen.

Erlach: Menschen erzählen auch die Zukunft aus der Gegenwart heraus. Solche aufgesetzten Narrative aus der Führungsebene beginnen allerdings oft nicht in der Gegenwart. Sie gehen direkt in die Vision, in die Zukunft, und malen ein Soll-Bild der Organisation, das viel zu weit weg von der erlebten und konstruierten Gegenwart ist. Das macht diese Geschichten nicht anschlussfähig.

ZOE: Wie funktionieren denn gute Geschichten im Wandel?

Müller: Vor einem Wandel muss ich die Gegenwart der Mitarbeitenden kennen. Sonst kann ich sie nicht in die Zukunft mitnehmen. Um ihre Interpretation der Gegenwart zu kennen, auch das verborgene Wissen, die verborgenen Glaubenssätze, brauche ich Geschichten, die erzählen, wie wir geworden sind was wir heute sind. Es sind also zwei Ebenen: einerseits die Erzählungen in die Zukunft hinein und andererseits die Schleife in die Vergangenheit, um dieses verborgene Wissen zu heben.

ZOE: Warum kann eine Organisationsentwicklung ohne diese impliziten, in Geschichten gespeicherten Wissensanteile nicht funktionieren?

Müller: In den allermeisten Fällen kann es nicht funktionieren, weil verborgene Hemmschwellen in den Mindsets der Mitarbeitenden existieren. Ich kann da ein Beispiel erzählen von einem Unternehmen, das ein Change-Projekt gemacht und festgestellt hat, dass die Mitarbeitenden nicht motivierbar waren, weder durch Belohnungen noch durch Druck. In den narrativen Interviews haben wir herausgefunden, dass etliche Male erlebt wurde, wie solche Projekte nicht zu Ende gebracht wurden. Die feste Überzeugung aus diesen Erfahrungen war: Es ist vergebene Liebesmüh, sich da zu engagieren, es wird sowieso nichts. Wenn man diesen Mindset nicht kennt, wird man immer scheitern mit so einem Projekt. Man muss stattdessen versuchen, diese Prägung zu ändern.

ZOE: Was meint Ihr, wenn Ihr von narrativ intelligenten Organisationen sprecht?

Erlach: Wir haben eine Unterscheidung im Wording eingeführt von narrativer Organisation und narrativ intelligenter Organisation. Letzteres ist ein Unternehmen, das sich seiner narrativen Strukturen bewusst ist. Im Kern sind tatsächlich alle Dimensionen Dimensionen wie Werte, Sinn, Identität, Wissen, also Erfahrungswissen, narrativ konstruiert. Ob sie dies nutzbar machen für ihre Strategie und Prozesse, macht dann die narrative Intelligenz.

ZOE: Wie also kann sich eine Organisation diese Narrative nutzbar machen?

Erlach: Zum Beispiel durch Storylistening, dem Gegengewicht zu dem allgegenwärtigen Storytelling. Es bedeutet, dass man dezidiert Erzählräume schafft, in denen die Menschen einander zuhören, Erfahrungen teilen und abgleichen können. So könnte die Entwicklung zu einer narrativ-intelligenten Organisation beginnen, mit Storylistening in Jour Fixes zum Beispiel. Das ist eine Kleinigkeit, aber es macht einen großen Unterschied. Oder auch durch Story-Co-Creation sowie Storydoing, um alle vier Methodenfelder zu nennen. Storydoing ist nichts Neues; es bedeutet, die Rahmenbedingungen im Change so zu gestalten, dass neue Erfahrungen gemacht werden können, die dann den Geschichtskorpus wieder verändern.

ZOE: In manchen Organisationen herrscht ein dominantes Narrativ, das geprägt ist durch Aussichtslosigkeit. Wenn ich als Geschäftsführer so eine Organisation oder Abteilung übernehme, ist meine Aufgabe, diese Erzählung möglichst schnell in eine zu verändern, in der Zuversicht und Hoffnung eine Rolle spielt. Kann ich solche Narrative verändern?

Erlach: Nur durch neue Erfahrungen. Es gibt keinen anderen Weg. Man muss neue Erfahrungen möglich machen, die dann erzählt werden. Die geteilt werden und wirken können. Durch die neuen Erfahrungen ändert man den Geschichtskorpus. Und über diese Änderung können dominante Narrative ausgehebelt werden.

ZOE: Aber wird diese neue Erfahrung nicht sofort ins dominante Narrativ eingeordnet, interpretiert? So nach dem Motto: Das ist doch wieder nur so ein Trick…?

Müller: Es funktioniert natürlich nur bei echter Teilhabe an der neuen Erfahrung. Vielleicht ein Beispiel: Bei einem Change-Prozess gab es einen Konflikt zwischen Wechselschicht- und Tagschicht-Mitarbeitenden. Wir haben eine Serie von Workshops gemacht, in denen sie sich gegenseitig ihre Erfahrungen erzählt haben. Plötzlich gab es dann die Erkenntnis: Blöd sind die jeweils anderen ja gar nicht, man kann mit denen vernünftig reden. Das klingt banal, aber allein durch den Austausch von Geschichten hat sich die Kultur verbessert. Es ist jetzt möglich, auch über Konfliktäres miteinander zu sprechen. Das war ein Prozess von mehr als einem Jahr, und diese Zeit sollte man sich auch nehmen.

«Wesentliche Bereiche jeder Organisation sind durch Narrative und Geschichten bestimmt.»

ZOE: Gibt es Mechanismen, die das Entwickeln eines Narrativs beschleunigen?

Erlach: Das wäre die Story-Co-Creation, das vierte Methodenfeld. Damit sind ernstgemeinte partizipative Prozesse gemeint. Zum Beispiel, indem man nach Erlebnissen fragt, die auf eine Vision oder auf das Ziel der Veränderung einspielen. Diese Erfahrung muss man dann wirklich nutzen, um den Weg gemeinsam zu planen. Eine andere Facette ist die Arbeit mit Metaphern und anderen narrativen Ansätzen wie zum Beispiel der Heldenreise etc. Da ist so viel Repertoire vorhanden, das hilft unglaublich, Leute in einem Change-Prozess an Bord zu holen – weil es verspielter ist, kreativer, weil es sich vertraut anfühlt, mit Geschichten zu arbeiten.

Müller: Viele Führungskräfte tun sich schwer, Steuerung aus der Hand zu geben. Da wird dann erst der Change definiert und anschließend versucht, die anderen reinzuholen, anstatt auf Basis der Geschichten der Mitarbeitenden gemeinsam eine Zukunftsstory zu entwickeln, zum Beispiel über Story Circles, in denen wichtige, lehrreiche oder faszinierende Geschichten wie durch ein umgekehrtes Schneeballprinzip von unten nach oben gereicht werden.

ZOE: Organisationen haben aber in der Regel nicht nur ein dominantes Narrativ, sondern multiple Narrative, die auch konträr sein können?

Erlach: Tatsächlich ja, denn sie beinhalten auch unterschiedliche identitätsstiftende Räume: Ein Team kann sich anders erzählen als eine Abteilung. Eine Abteilung erzählt sich anders als eine Organisation. Alle Untergruppen speisen und aggregieren dann ein Organisationsnarrativ.

ZOE: Warum spielen Geschichten eigentlich in der Organisationspraxis so gut wie keine Rolle? Warum ist Eure Arbeit noch immer derartig pionierhaft?

Müller: Einen Narrative Turn gab es in der Psychologie bereits in den achtziger Jahren. Das hat bloß bisher keinen Platz im gängigen Paradigma von ökonomischem und organisationalem Denken gehabt. Da wird eher operativ und in Zielarchitekturen gedacht. Das verändert sich aber. Als wir 2000 mit narrativen Change-Projekten begannen, mussten wir noch sehr viel mehr Widerstände überwinden als heute. Immer mehr Unternehmen leuchtet es eigentlich ein, so zu arbeiten.

Erlach: Das narrative Arbeiten stellt viele Identitäten in Frage. Denn wenn man davon ausgeht, dass die Dimensionen Identität, Sinn oder Werte nicht steuerbar sind durch einzelne Führungskräfte, sondern durch die Narrative der Gemeinschaft, pikst man in Systembedingungen rein, die sich nicht selber wegorganisieren wollen. Da gibt es große Widerstände aus dem System heraus. Das Mindset «Führen heißt Zuhören» ist in der Ausbildung ja überhaupt nicht vorgesehen.

ZOE: Ist die Betriebswirtschaft diesbezüglich nicht auch im besten Sinne noch immer eine Kontroll- und Steuerungswissenschaft, während der Umgang mit Narrativen immer auch mit einem Loslassen zu tun hat?

Müller: Die große Frage ist, in welchem Maße Kontrolle überhaupt möglich ist in komplexen sozialen Systemen. Kahneman nennt das ja auch die Kontrollillusion. In meiner Rolle als Facilitator, als Führungskraft, kann ich ein Stück weit Kontrolle ausüben, indem ich gemeinsame Prozesse initiiere, aber ich kann nicht allein bestimmen, was dabei rauskommt. Das macht natürlich Angst.

Erlach: …und dann kommen Lösungen wie Agil, Scrum oder so, die ebenfalls eine sehr kognitive, planerische Welt auf dieses komplexe, unvorhersehbare Wesen Organisation legen. Und dann auch möglicherweise scheitern, weil sie nichts in der Grundgrammatik verändern. Das narrative Arbeiten erkennt hingegen an, dass man nicht vollständig planen kann, wie es weitergeht.

Müller: Wir sollten von der Zielorientierung zur Wegorientierung kommen. Ziele sind wichtig, damit ich Wege auswählen kann. Aber wenn ich den Weg gehe, können sich die Ziele verändern. Diese Offenheit zu haben, ist in einer narrativ intelligenten Organisation wichtig. Nicht mit Zähnen und Klauen an den Zielen festhalten, und alle Incentives und Boni an dieser Zielerfüllung ausrichten. Das, denke ich, wäre ein falsches Vorgehen, weil dann auch Ziele, die sich als dysfunktional erweisen, nicht mehr oder nur schwer revidierbar sind.

ZOE: In Eurem Buch «Narrative Organisationen» heißt es, dass die vollständige Kontrolle der Organisation über die eigene Identität nicht möglich ist. Weil neben dem eigenen Narrativ das Fremdnarrativ, aber auch das Kontextnarrativ am Wirken sind. Ist das nicht für Organisationsentwicklung ausgesprochen frustrierend?

Müller: Klar ist es frustrierend, weil es sie schwieriger macht. Die Identität von VW ist auch mitbestimmt über die Presseberichte und die Storys über den Dieselskandal. Oder die Ergo-Skandalgeschichte vor ein paar Jahren mit den Bordellen in Budapest, in die verdiente Mitarbeitende eingeladen wurden. Das sind alles Dinge, die haften gewissermaßen in der Kleidung wie ein schlechter Geruch. Das Bestreben kann eigentlich nur sein, die eigenen Erzählungen so zu gestalten, dass externe Erzählungen daran anschlussfähig sind und übernommen werden können. Ein frühes positives Beispiel von VW war der VW-Käfer, «der  läuft und läuft und läuft…». Da haben die Leute Geschichten erzählt, dass man Damenstrümpfe als Keilriemen und Bananenbrei als Schmieröl verwenden kann, und das Auto laufe trotzdem immer weiter. Narrative können also eine Chance sein, Räume zu schaffen für die Erlebnisse der Kunden und Kundinnen, in denen sie gewünschte Erfahrungen machen und dann gewünschte Erzählungen entwickeln. Man muss sich nur bewusst sein, dass man immer an dem Schnittpunkt zwischen Innen und Außen arbeitet und keine vollständige Kontrolle hat.

Erlach: Wenn ich an den Behaviorismus denke, dann kommen wir aus einer Zeit, in der wir die Illusion hatten, dass man mit gutem Planen, mit guten Zielen, mit guten Milestones die Zukunft relativ kontrollierbar oder zumindest vorhersehbar machen kann. Heute bekommen wir dauernd um die Ohren gehauen, dass das überhaupt nicht so ist. Der Abgesang der Planbarkeit geht einher mit einer gewissen Demut vor den Grenzen des Gestaltbaren und schafft einen Möglichkeitsraum für das narrative Arbeiten. Es gibt eine Sehnsucht nach Narrativen, die uns als Gesellschaft wieder neue Sinn- und Orientierungsstrukturen geben.

ZOE: Was erzählt sich unsere Gesellschaft gegenwärtig selbst für eine Geschichte?

Müller: Eigentlich eine Geschichte von einem drohenden Ende des westlichen Narrativs oder des europäischen Narrativs als dominante Kultur. Als Westen sind wir in die Falle geraten, dass wir alle Werte, die sich aus der Aufklärung entwickelt haben, nur universell denken können. Gleichzeitig erleben wir aber, dass andere wenig oder gar kein Interesse haben, diese vermeintlich universellen Werte zu übernehmen. Wir sind in einer Aporie gelandet und wissen nicht damit umzugehen. Ich denke, auf ökologischer und politischer Ebene wird es in den nächsten zwei Jahrzehnten ganz große Umwälzungen geben, wenngleich ich nicht zu sagen vermag, in welche Richtung.

ZOE: Also eine ziemlich dystopische Geschichte?

Erlach: Also zumindest die der westlichen Welt. Woanders gibt es ganz andere Narrationen, die eher vom Aufbruch erzählen. Unsere Industrievorherrschaft nimmt ab, es werden woanders Zentren entstehen. So war es immer schon. Die Etrusker gibt es ja auch nicht mehr.

Müller: Interessant ist, dass wir keine positiven Utopien mehr haben, sondern nur noch Dystopien oder Kampfgeschichten, wie diejenige gegen den Klimawandel. Aber wie wollen wir eigentlich leben als Gesellschaft? Das ist die Wunschvorstellung, auf die wir keine Antwort haben. Und da schließt sich der Bogen zu einer depressiven Organisation. In unserer Gesellschaft fehlt ebenfalls ein positives Zielbild, eine positive Sinnstiftung, wenn man es so übersetzen will.

ZOE: Ganz vielen Dank für das schöne Gespräch – was ruft Ihr unseren Lesern und Leserinnen noch zu?

Müller: Start listening! Machen Sie die Ohren auf für die Geschichten, die da sind, und nehmen Sie sie als Ausgangspunkt für Ihr Handeln.

Erlach: Je mehr ich dafür sorge, dass Erfahrungen als Währung Platz und Raum finden in den Kommunikations- und sonstigen Strukturen, desto mehr kann ich die Menschen mitnehmen in die Zukunft.

 

Jeder Wandel ist eine Geschichte

 

Warum sind Narrationen in Veränderungsprozessen so bedeutsam? Würden wir nur ein paar Zeilen für die Antwort haben, würde sie lauten: Zum einen, weil Narrationen den Betroffenen Orientierung geben, ihnen Sinnstiftung ermöglichen und das Erleben von einer Identität im Wandel, einer Dazugehörigkeit, vermitteln. Zum anderen, weil Wandel nur funktionieren kann, wenn das Neue, das kommen soll, in irgendeiner Weise an der gelebten momentanen Situation, der Gegenwart der Betroffenen, anknüpft – was nur gelingen kann, wenn man die Vergangenheit kennt, die zu dieser Gegenwart führte.
Narrationen, Geschichten oder Erzählungen – das Grundprinzip, wie Menschen sich die Welt erklären und sich selbst in ihr verorten, hat viele Namen. Wie auch immer wir das wohl wichtigste Kommunikationsmittel taufen, um sich und einander Orientierung zu geben: Fest steht, dass wir bedeutsame Erinnerungen in Form von Erzählungen abspeichern. Ein Erlebnis hat einen Anfang, eine Ausgangssituation; die Handlung entwickelt sich und verändert die Ausgangssituation, bis irgendwann ein Ende folgt. Damit sind wir mitten in der Basisdefinition von «Geschichte», die schon Aristoteles in seiner «Poetik» beschrieb. Wir Menschen ordnen unsere Erfahrungen und Erlebnisse entlang einer Zeitachse und konstruieren für uns selbst und andere im Erzählfluss eine Logik, eine Sinnhaftigkeit, die die einzelnen Erfahrungen aneinanderknüpft.

Dieses Bedürfnis nach Konsistenz des Erzählflusses erleben wir immer wieder, wenn wir in Organisationen narrative Interviews führen, um die Erfahrungen der Mitarbeiter*innen kennen zu lernen, wenn wir also ihren Erzählungen zuhören. Denn Erzählungen sind nicht mehr und nicht weniger als persönlich gemachte Erfahrungen. Erzählungen sind daher weder richtig noch falsch wie etwa Meinungen, oder Argumente für eine bestimmte Entscheidung oder Einschätzungen über eine mögliche Zukunft. Erfahrungen sind einfach da, sie existieren weder als falsch noch als richtig und werden als authentisch und real wahrgenommen. Dies erklärt einen Teil des enormen Potenzials, das Erzählungen im Wandel haben: Sie transportieren authentische Erfahrungen, die jemand in der Vergangenheit gemacht hat. Sammelt man viele Erzählungen verschiedener Beteiligter, können diese Geschichten die erlebte Gegenwart in einer Organisation erklären: Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind? Die Erzählungen der Organisationsmitglieder machen Werte, Glaubenssätze, Haltungen sichtbar, die als gelebte Unternehmenskultur das Verhalten beeinflussen. Unternehmenskultur ist mit dieser Perspektive die Summe aller Erzählungen (und damit Erfahrungen), die über die Organisation erzählt werden.

Was bedeutet das für den Wandel? Geschichten geben im Wandel Orientierung, denn sie ordnen die unendlich vielen Ereignisse, die eine Organisation ausmacht, in Sinnzusammenhänge. Sie beantworten, was in der Vergangenheit (Ausgangssituation) geschehen ist und zu der erlebten Gegenwart führte. In dieser Gegenwart nun steht ein Wandel an (Veränderung), der in eine Zukunft führt, die wir noch nicht kennen (Ende). Organisationaler Wandel ist daher immer schon eine Geschichte, weil er eine narrative Struktur in sich trägt: Aus dem Vergangenen folgt im Erlebnisstrom der Beteiligten eine Gegenwart, die in eine (ungewisse) Zukunft münden wird.

Nun herrscht in Unternehmen aber oft die Grundannahme, dass eine gewünschte Zukunft auch eintreten werde, wenn man sie nur gut genug plane und klar und bedeutsam genug kommuniziere. Ein solches «Management by Proclamation» lässt jedoch außer Acht, dass die Maßnahmen im Wandel immer an die Erfahrungen und Erlebnisse der Mitarbeiter*innen anschlussfähig sein müssen: Welche Geschichten darüber, wie das Unternehmen wurde, was es jetzt ist, erzählen sich die Beteiligten? Welche Erfahrungen haben die Mitarbeiter*innen in der Vergangenheit gemacht, in denen sie ihre Grundüberzeugungen gewonnen haben, wie die Organisation «tickt», welche Werte und Haltungen sie ausmachen? Will der Wandel gelingen, muss das Neue an das Alte anschlussfähig sein.
Ein kleines Beispiel: Uns wurden in narrativen Interviews viele Erfahrungen erzählt, dass in diesem Unternehmen Projekte nie zu Ende geführt werden. Nun sollte eine neue, agile Form der Kollaboration (Scrum) mittels mehrerer paralleler Projekte eingeführt werden und sich mit der Zeit ausbreiten und verstetigen. Was musste zwangsläufig passieren? Die Projekte würden scheitern, weil bisher alle Projekte gescheitert sind. Wandel erfolgreich zu gestalten heißt also, die Erfahrungswelten sehr genau zu erkunden, in denen die Mitarbeiter*innen sind. Alles, was an deren Erfahrungen anschlussfähig ist, hat eine Chance; alles, was ihnen widerspricht, hat keine Chance. Daher ist eine der zentralen Interventionen, das Zuhören und die Erzählungen in den Mittelpunkt zu stellen und so die Erfahrungen der Mitarbeiter*innen zu heben. Eine narrativ intelligente Organisation muss also Erzählräume schaffen, in denen die Mitarbeiter*innen ihre Erfahrungen teilen können, sie muss zuhören lernen. Dies kann zum Beispiel mit dem Story Circle geschehen, einer einfachen Storylistening-Methode, die Raum für multiperspektivisches Erzählungen schafft (siehe Methodenbeschreibung im Kasten).

Ist das schon alles – einfach Erzählräume schaffen? Nein, noch nicht alles, aber in den meisten Fällen die wichtigste Intervention, um Wandel anzustoßen. Doch was geschieht, wenn die Erfahrungswelten der Mitarbeiter*innen so ganz und gar nicht zu der positiven, gewünschten Zukunft passen, wenn wir es mit einer «depressiven Organisation» zu tun haben? Im Wesentlichen gilt trotzdem immer noch, dass nichts gelingen kann, was nicht anschlussfähig an die erlebte Gegenwart ist. Doch darüber hinaus wird besonders wichtig, jene Narrative, jene Glaubenssätze herauszuhören, die die Organisation daran hindern, sich zu wandeln, ihr zu ermöglichen, die «Depression» zu überwinden.

Dominante Narrative und Störnarrative hindern uns oft daran, die Zukunft neu zu erzählen und den Weg dorthin, den Wandel zuzulassen. Störnarrative sind Glaubenssätze von Individuen oder sozialen Systemen, die nicht mehr funktional sind, an denen man aber in Ermangelung von Alternativen festhält. Sie sind «festgefroren», wie etwa der lange überkommene Glaubenssatz, dass Frauen weniger leistungsfähig seien, weil sie wegen der Zusatzrolle «Mutter» eingeschränkt seien. Kann man solche Störnarrative aus den Erzählungen der Mitarbeiter*innen herauskondensieren, muss eine narrativ intelligente Organisation nach Wegen suchen, aus diesen festgefrorenen Mustern zu entkommen. Ein neues Buch, an dem wir gerade arbeiten und das Mitte 2024 erscheinen wird, stellt sich eben der Frage, wie man Störnarrative erkennen und sie verändern kann. Wir nennen den dazu notwendigen Prozess «in Aktanz gehen» und schließen in diesen Neologismus die Bedeutungswelten von «Resonanz», «Akzeptanz», «Aktanten», also die Figuren in Geschichten und die Akte im Theater, sowie «Tanz» ein. In Aktanz gehen ist ein Tanz in die Leichtigkeit und Wendigkeit, die entstehen, wenn wir es schaffen, uns von alten, überkommenen Störnarrativen zu lösen.

Christine Erlach
Dipl.-Psych., Gründerin Beraternetzwerk Narrata Consult, Wissenstransferbegleiterin, Organisationsentwicklerin, Lehrbeauftragte Hochschule der Medien Stuttgart (HdM)

Prof. Dr. Michael Müller
Professor für Medienanalyse und -konzeption, Leiter Institut für Angewandte Narrationsforschung IANA der Hochschule der Medien Stuttgart (HdM)

Prof. Dr. Heiko Roehl
ZOE-Redakteur, Geschäftsführender Gesellschafter Kessel & Kessel GmbH

 

Literatur

Chlopczyk, J. & Erlach, C. (Eds.) (2019). Transforming Organizations – Narrative and Story-Based Approaches. Springer International Publishing: Springer Nature Switzerland AG.
Erlach, C. & Müller, M. (2022). Narrative Organisationsentwicklung. Ein Arbeitsbuch mit Fallbeispielen. Springer Gabler.
Erlach, C. & Müller, M. (2021). Zwischen den Zeilen. Narrative Ansätze für die Organisationsentwicklung. Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, Heft 2.
Erlach, C. & Müller, M. (2020). Narrative Organisationen. Wie die Arbeit mit Geschichten Unternehmen zukunftsfähig macht. Springer Gabler.
Erlach, C. (2013). Kapitel 5, Spezielle Wissenstransfermethoden: Transfer Stories. In: Erlach, C.; Orians, W. & Reisach, U. (2013). Wissenstransfer bei Fach- und Führungskräftewechsel – Erfahrungswissen erfassen und weitergeben. Hanser, 164-168.
Müller, M. (2020). Politisches Storytelling. Wie Politik aus Geschichten gemacht wird. Herbert von Halem Verlag.


Aus Ausgabe Nr. 2/23: Es wird einmal… – Narrative prägen den Wandel

Geschichten wirken. Sie haben eine eigenartige Magie. Egal, ob Drama oder Tragödie: Auf der Hinterbühne der Organisation erzählen sie sich wie von selbst und steuern so täglich das Verhalten. Besonders relevant wird das, wenn es darum geht, die Dinge anders anzugehen als bisher. Denn Organisationskulturen bestehen aus vielfältigen Erzählungen. In ihnen ist kollektive Erfahrung gespeichert. Dazu gehören auch die Geschichten des Wandels der Vergangenheit. Je nachdem, ob das Tellerwäscher-zum-Millionär-Stories sind, Geschichten über Entmündigung oder Befreiung, über Mut oder Verzagen, können sie unser Herz für die Veränderung öffnen – oder verschließen.

In dieser Ausgabe der OrganisationsEntwicklung schauen wir genauer hin, warum Geschichten ein so bedeutsames Thema für die Organisationsentwicklung sind und wie man die Erzählung der Organisation ganz neu schreiben kann.