Wider die Gleichsetzung von Macht und Hierarchie

Macht in Organisationen hat ein schlechtes Image. Mit Macht in Verbindung gebrachte Begriffe klingen abschreckend: Intrigen, Grabenkämpfe, Cliquen- und Koalitionsbildung, Radfahren, nach oben buckeln und nach unten treten, Informationsfilter, Mauscheleien, Regimekritiker, trojanische Pferde, Konkurrenten ausstechen. Macht wird assoziiert mit Egoismus, Machiavellismus und Missbrauch.Entkleidet man den Machtbegriff von negativen Konnotationen, dann drückt er die Fähigkeit aus, bei anderen ein Verhalten zu erzeugen, das sie spontan nicht angenommen hätten (so die bekannte Bestimmung in Max Webers «Wirtschaft und Gesellschaft»).

Mit Macht etwas durchsetzen zu wollen, ist ein Phänomen, das man in Organisationen tagtäglich antrifft. Dennoch wird es selten offen thematisiert. Stattdessen trägt man die Konflikte, die aus dem Anspruch oder der Erwartung entstehen, andere mögen sich anpassen, gehorchen und unterwerfen, versteckt aus. In Machtbeziehungen werden Handlungsmöglichkeiten getauscht. Das sind die Fähigkeiten, für andere wichtige Probleme zu lösen oder Hilfe und Unterstützung zu verweigern (Friedberg, 1993, S. 117 f.). Dabei hängt die Macht von der Relevanz der Handlungsmöglichkeiten für andere und von der Autonomie und Nichtersetzbarkeit der Akteure ab. Eine Vertriebsmitarbeiterin, die einen privilegierten Zugang zu einem wichtigen Kunden hat, besitzt einen Trumpf, mit dem sie wuchern kann. Je weniger eine EDV-Expertin wegen ihrer detaillierten Kenntnisse eines in der Firma selbstgestrickten Programms zu ersetzen ist, desto stärker ist ihre Position gegenüber Personen, die von diesem Programm abhängig sind.

Dabei ist Macht eine Austauschbeziehung, die zwar asymmetrisch, aber stets wechselseitig ist. Eine Person oder Personengruppe kann die eigenen Auffassungen nur dann durchsetzen, wenn eine andere Person oder Personengruppe bereit ist, sich mit dieser in eine Beziehung einzulassen. Ein Meister kann nur anordnen, solange der Arbeitende ihm folgt. Sobald sich eine Person der Beziehung zum Beispiel durch Kündigung entzieht, ist die Austauschbeziehung und damit das Machtverhältnis zu Ende. Schon gewisse Verweigerungen, wie die, Überstunden zu arbeiten, kann den Meister in Bedrängnis bringen. Er wird seinen Leuten eine Kompensation, eine Gefälligkeit anbieten müssen. Aus einer Machtbeziehung ziehen also immer beide Seiten etwas. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es sich um einen fairen Austauschprozess handeln muss. Es verweist aber darauf, dass auch der vermeintlich Machtlose ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Machtbeziehung hat.

Die Rolle von Macht wird besonders in dramatischen Konfliktsituationen deutlich. Allerdings sind solche Konflikte in Machtbeziehungen eher die Ausnahme als die Regel. Machtbeziehungen basieren darauf, dass sie von den beteiligten Akteuren geteilt und mehr oder minder akzeptiert werden. Zwar lauert im Hintergrund immer die Drohung, dass man die Machtbeziehung eskalieren lassen kann; in der Regel ist die Machtbeziehung jedoch dadurch gekennzeichnet, dass sich beide Seiten in diese fügen und Sanktionen und Drohungen latent gehalten und nur vorsichtig angedeutet werden. Macht stützt sich auf die Kontrolle relevanter Unsicherheitszonen. Diese können ganz unterschiedlicher Natur sein. Hierarchen stützen ihren Einfluss darauf, formale organisatorische Regeln erlassen zu können, die das Aktionsfeld der Untergebenen einengen oder erweitern können. Experten, beispielsweise IT-Fachleute oder Marketingspezialisten, gewinnen ihre einflussreiche Stellung aus der Beherrschung von in der Organisation relevantem Sachwissen. Personen, die Relaisstellen zur Umwelt darstellen, ziehen Machtmöglichkeiten daraus, dass sie einen privilegierten Zugang zu Kunden, zentralen Zulieferern, Kooperationspartnern oder einflussreichen staatlichen Stellen haben. Gatekeeper, z. B. ein Sekretär oder eine persönliche Referentin, ziehen ihren Einfluss aus der Kontrolle wichtiger interner Kommunikationskanäle und Informationsquellen (Crozier & Friedberg, 1979).

Hierarchie begründet also nur eine Unsicherheitszone unter vielen und man begeht einen groben analytischen Fehler, wenn man Hierarchie mit Macht gleichsetzt. Sicherlich: Manager entscheiden nicht nur über Arbeitsprozesse oder Strategien mit, sondern als Vorgesetzte bestimmen sie auch maßgeblich über die Einstellung, Entlassung und Karriere ihrer Mitarbeitenden. Sie beherrschen damit eine zentrale Unsicherheitszone ihrer Mitarbeitenden – jedenfalls solange diese keine attraktiveren Alternativen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie können zugleich über weitere Unsicherheitszonen wie den Kontakt zur Umwelt oder Fachkenntnisse verfügen, aber nicht automatisch, quasi qua Amt. Häufig haben Untergebene sogar mehr Fachwissen als Vorgesetzte. Aufgrund des wachsenden Bedarfs an spezialisiertem Fachwissen
können Führungskräfte nicht mehr alle Themenfelder in ihrem Bereich übersehen und müssen zulassen, dass ihre Mitarbeitenden sachverständiger sind als sie. Auch die Kontakte nach außen sind nicht an der Spitze monopolisiert. Gerade in größeren Organisationen ist es nötig, dass die Organisationsspitze die Pflege der Außenkontakte delegiert. Die Führungskraft hat zudem nicht die Möglichkeit, alle Kommunikationen in der Organisation zu regulieren. Schon die häufige Klage von Führungskräften über vermeintlich falsche Gerüchte zeigt, dass Kommunikationen in Unternehmen ganz anders laufen, als es sich die Führungskräfte vorgestellt haben (Luhmann, 1971).

Oftmals findet man Situationen in Organisationen, in denen sich die Hierarchen nicht unbegrenzt durchsetzen können, weil ihre Untergebenen wichtige Unsicherheitszonen beherrschen. So können in Krankenhäusern die vermeintlichen «Götter in Weiß» trotz ihrer formalen Befugnisse die Abläufe nicht eindeutig bestimmen. Pflegekräfte beherrschen für Ärzte wichtige Unsicherheitszonen und können diese als Tauschgut einsetzen. So sind die Ärzte von den Pflegekräften abhängig, weil sie jeweils häufig nur kurz in den Stationen verweilen. So können Aushandlungsverhältnisse entstehen, in denen die Pflegenden die Bereitschaft zur Übernahme von größerer Verantwortung gegen stärkere Mitsprache bei der Patientenbetreuung eintauschen. Selbst in Gefängnissen sind die Gefangenen den Wärtern nicht hilflos ausgeliefert.
Zwar können diese Verfehlungen der Gefangenen melden und deren Bestrafung fordern, dies würde jedoch den Eindruck vermitteln, dass die Justizbeamten ihre Gefangenen nicht im Griff haben. Um dies zu vermeiden, entstehen Tauschbeziehungen, in denen die Wärter Regelverletzungen der Gefangenen durchgehen lassen, solange sie sich insgesamt kooperativ verhalten (vgl. Mechanic, 1962).

Die Machtentfaltung stößt jedoch auf Grenzen, weil es in der Regel ein gemeinsames Interesse an der Fortdauer des Spiels gibt. Im Hintergrund lauert immer die Drohung eines Akteurs, das Machtspiel und damit die Austauschbeziehung zu beenden. Daran haben die Akteure jedoch kein Interesse. Sie wollen etwas vom anderen, das sie zu so günstigen Bedingungen von niemand anderem bekommen können, oder sie haben keine Möglichkeit, das Machtspiel zu beenden, weil sie die andere Person nicht durch Entlassung aus der Organisation entfernen können. Trotz der Machtspiele wird eine Organisation in der Regel nicht zu einer Löwengrube, in der sich die Machtspielenden gegenseitig in einem darwinistischen Überlebenskampf bekriegen.

 

Prof. Dr. Stefan Kühl
Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld und Senior Consultant bei Metaplan

Literatur

  • Crozier, M. & Friedberg, E. (1979). Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns. Athenäum Verlag, 40.
  • Friedberg, E. (1993). Le pouvoir et la règle. Éditions du Seuil.
  • Luhmann, N. (1971). Zweck – Herrschaft – System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers. In: ders. (Hrsg.): Politische Planung. Westdeutscher Verlag, 90-112, 99f.
  • Mechanic, D. (1962). Sources of Power of Lower Participants in Complex Organizations. In: Administrative Science Quarterly 7, 349-364.

Aus Ausgabe Nr. 2/22: Macht und Wandel – Erfolgsfaktor Change Governance

Dass Organisationen keine trivialen Maschinen sind, bedeutet vor allem, dass ihr Wandel eben nicht detailliert planbar ist. Je umfassender der Change, umso weniger ist deshalb auch initial einschätzbar, welche Verschiebungen sich auf den Vorder- und Hinterbühnen der Macht ergeben. Ganz gleich, ob es sich um eine kulturorientierte Organisationsentwicklung, eine Post-Merger-Integration oder eine harte Restrukturierung handelt: Im Verlauf jedes tiefgreifenden Veränderungsprozesses tauchen ungeahnte Kräfte auf, die am Wandel zerren.

In dieser Ausgabe der ZOE geht es um die Frage, wie Change-Prozesse am besten in das Machtgefüge der Or­ga­nisation eingebettet werden. Wie man sie schützt und dafür sorgt, dass eine Alli­anz der Willigen bei den Mächtigen auch dann erhal­ten bleibt, wenn unpopuläre Entscheidungen gefällt werden müssen.