In Zeiten kontinuierlichen Wandels steigt der Wunsch nach Orientierung. Das gilt für Gesellschaften wie für Organisationen. Dafür ist es jedoch nötig, aus dem täglichen Handeln auszusteigen und innezuhalten. Nicht selten wird jedoch entschleunigen als langsam sein fehlinterpretiert. Das führt dazu, dass wir nicht nur vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen, sondern uns immer mehr die Puste ausgeht. Wir alle kennen das Bild von der zu schärfenden Axt, die Frage ist aber vielmehr: Warum überhaupt eine Axt?
Um sich selbst auf die Schliche zu kommen und darüber nachzudenken, was gerade (wirklich) passiert und auf welchen Prämissen wir unser Handeln stützen, ist es essenziell, die eigenen Gewissheiten und Annahmen in den Blick zu nehmen. Und Gewissheiten werden derzeit vielfach erschüttert: Zahlreiche, widersprüchliche und unvorhersehbare Entwicklungen im Umfeld von Organisationen stellen Rahmenbedingungen und tradierte Entscheidungsprämissen in Frage. Der Erfolg der Vergangenheit ist der größte Feind der Zukunft, insbesondere wenn man glaubt, dass vergangene Antworten auf die Beantwortung zukünftiger Herausforderungen übertragbar sind. Beispiele gefällig? Veränderungsprojekte werden mit viel Elan und Engagement begonnen, versanden aber schnell, weil dem Tagesgeschäft Priorität eingeräumt wird. Es werden Entscheidungen durch die obere Führungsebene getroffen, die aber keine Folgeaktivitäten auslösen. Signale aus dem Umfeld der Organisation (Markt, Kundschaft) werden mit dem Hinweis, dass die Situation ganz anders sei, als irrelevant abgetan.
Ein Grund dafür ist, dass die Herausforderungen meist komplex, undurchschaubar und paradox sind. Sie lassen sich mit einem oftmals etablierten Schwarz-Weiß-Denken (Wandel ODER Stabilität?) nicht adäquat adressieren (Johnson & Schumacher, 2023). Wenn Zusammenhänge noch weniger zu durchschauen sind, Nicht-Wissen über zukünftige Entwicklungen besteht, Ambiguitäten und Paradoxien den Alltag in Organisationen prägen, reicht es nicht mehr, das Bestehende zu optimieren. Vielmehr muss dem Entweder-oder ein Sowohl-als-auch weichen. Doch wie kann dies gelingen?
Ein möglicher Weg ist es, latente Spannungen und Widersprüche zu reflektieren und sie explizit zu adressieren. Wir sind daher davon überzeugt, dass vor allem im Kontext tiefgreifender und komplexer Veränderungsanlässe Reflektieren eine überlebensnotwendige Qualität für Organisationen ist, die es bewusst einzusetzen und zu nutzen gilt. In diesem Beitrag führen wir in die spezifische Qualität von Reflexion ein und zeigen konkrete Möglichkeiten des Reflektierens im organisationalen Kontext auf.
Reflexion als eine Qualität im Denken und Handeln
Reflexion ist eines der sprachlichen Konstrukte, die alltäglich gebraucht werden, ohne dabei aber die dahinter liegende Vielschichtigkeit des Begriffs näher zu durchdringen. Es lohnt sich allerdings, diese einmal näher zu betrachten.
Was ist Reflexion?
Reflexion kann umschrieben werden als ein geplantes und systematisches Nachdenken über die eigenen Wahrnehmungen, Haltungen und Handlungen sowie den Kontext, in dem das Handeln stattfindet (siehe bspw. Thompson & Thompson, 2023). Dieses Nachdenken kann sich auf die Vergangenheit beziehen (reflection on action), im Handeln stattfinden (reflection in action) oder sich auf zukünftiges Handeln beziehen (reflection before action). Das «Nachdenken» geht dabei tiefer als die üblichen Denkprozesse. Wer reflektiert, möchte den Dingen auf den Grund gehen. Aber eben nicht «wissenschaftlich» und analytisch an der Sachfrage orientiert. Denkt beispielsweise eine Führungskraft intensiv über eine neue Strategie nach, dann ist das noch nicht unbedingt eine Reflexion. Erlebt sie jedoch, dass im Rahmen eines Strategieprozesses Porters Ansatz weniger wirksam ist, weil er nicht dem bislang unhinterfragten Strategieverständnis der Organisation entspricht, kann durchaus von Reflexion gesprochen werden. Erst wenn bestimme Qualitäten in diesen Denkprozess eingehen, sprechen wir also von Reflexion. Zur Reflexion gehört es, den Fokus des bewussten Denkens von der analytischen Sachfrage auf Erfahrungen, Normen, Werte und Emotionen sowie den Kontext des Handelns (strukturelle Faktoren, Machtfragen) zu lenken und in dieser Hinsicht die eigenen Handlungen, Haltungen und Gedanken zu hinterfragen.
Eine grundlegende Annahme für Reflexion ist, dass die Realität sozial konstruiert ist. Reflexionsprozesse docken nicht an objektiven Wahrheiten und Kausalitäten an, die es aufzudecken gilt. Unser Wissen bildet sich nicht auf Basis unbestreitbarer und neutraler Fakten, sondern besteht aus Konstruktionsprozessen, die durch politische, emotionale, kulturelle und weitere soziale Faktoren beeinflusst wurden und werden. Unserem Wissen liegen also Denkmuster, Prämissen, Glaubenssätze zugrunde, die zutiefst subjektiv sind und daher auch anders sein könnten. Sie lassen sich zudem verändern, wenn man sie für sich entdeckt und hinterfragt. Reflektieren bedeutet daher nicht «Fakten» zu sammeln und diese analytisch zu bewerten, sondern ist bedeutend mehr als das. Reflexion misstraut der Annahme, wir könnten uns auf unsere Beobachtungen und Wahrnehmungen einfach so verlassen und eindeutige, objektive Schlüsse aus unserem Denken ziehen. Reflexion setzt hier an als ein «Mittel, um unsere selbstverständlichen Erfahrungen zu hinterfragen, indem wir unsere Beziehung zu unserer sozialen Welt und die Art und Weise, wie wir unsere Erfahrungen erklären, in Frage stellen » (Hibbert & Cunliffe, 2015, S. 180).
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