Ab dem Moment, wo erste Gerüchte über eine bevorstehende Fusion, Übernahme oder Umstrukturierung durchs Haus wehen, ist nichts mehr wie es war. Über allen Projekten, Investitionen und Vorhaben schwebt plötzlich ein unsichtbares Verfallsdatum. Gleich ob der Tag, an dem die Neuerungen in Kraft treten, bereits fest terminiert ist oder unbestimmt in der Zukunft liegt: Der Status quo, den alle wie selbstverständlich ins Unendliche extrapoliert hatten, ist unwiderruflich dahin; ab sofort lebt man in einer Übergangszeit.
Das stellt sämtliche Zukunftsinvestitionen in Frage – nicht nur finanzielle, auch emotionale. Lohnt es sich überhaupt noch, so fragen sich die Mitwirkenden, Zeit und Kraft in ein laufendes Projekt zu stecken oder ist ungewiss, was daraus unter den veränderten Umständen werden wird? Die Frage zu stellen, heißt, sie zu beantworten. Also erlahmt die Energie, und Projekte schlafen entweder ein oder schleppen sich untot dahin.
Dieses «Abschlaffen» ist keineswegs voreilig und irrational, wie manche im Management schimpfen. Es ist völlig rational. Um sich für ein Vorhaben zu engagieren, muss man daran glauben, dass etwas daraus werden wird: Dass es etwas bringt, dass es die Welt, wenigstens die eigene kleine Welt oder Abteilung, ein Stückchen besser machen wird. Wenn man daran nicht mehr glauben kann, wäre es irrational, sich weiter zu engagieren. Also hören die Leute auf damit.
Durchhalteparolen
Oft gibt das Top-Management in dieser Situation die Parole aus: «Wir machen erst einmal weiter wie bisher, so als ob es keine Fusion, Übernahme oder Umstrukturierung gäbe. Mit guten Ergebnissen kann sich schließlich jede*r am besten für die bevorstehenden Entscheidungen positionieren.» Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend und vernünftig – und ist auf den zweiten blanker Unsinn. Denn «wie bisher» gibt es nicht mehr: Der Schatten der Zukunft, wie es der Kooperationsforscher Robert Axelrod genannt hat, hat auf einen Schlag seine Gestalt verändert und ist zu einer dunklen, bedrohlichen Wolke geworden.
Trotzdem hat die Ansage Wirkung. Die Adressaten verstehen sie – richtigerweise – so, dass das Management von ihnen erwartet, so zu tun als ob nichts wäre. Und zumindest bei offiziellen Anlässen keine insistierenden Fragen zu stellen. Was ihre Sorgen und Ängste natürlich nicht beseitigt, sondern nur in den Untergrund drängt. Aber immerhin: Vordergründig herrscht Ruhe.
«Man hört überhaupt nichts», wunderte sich eine Personalchefin. «Ich frage mich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist.» Naja, es ist das eigene Echo: Man sagt ja auch nichts.
Jede*r kämpft für sich alleine
Die Beschäftigten entnehmen der Weiter-so-Ansage vor allem eines: Von ihren Vorgesetzten ist in dieser Angelegenheit keine Hilfe zu erwarten. Jede*r kämpft für sich alleine. Also tun alle wie geheißen und simulieren Normalität. Die eine recherchiert schon mal in Job-Portalen, der andere reaktiviert sein Netzwerk von der Uni. Der dritte gründet mit Mitbetroffenen eine Yammer-Gruppe. Die vierte überlegt, ob jetzt nicht der ideale Zeitpunkt wäre, noch ein zweites Kind zu bekommen. Der fünfte brütet, wie es seine Art ist, dumpf vor sich hin. Und natürlich stellt der Betriebsrat markante Forderungen, schon um die eigene Ratlosigkeit zu verdecken.
Nur für eines interessiert sich in dieser Situation kaum noch jemand, nämlich für die Kundschaft. Was deshalb gefährlich ist, weil das die Richtung ist, aus der das Geld kommt – allerdings nur, wenn zuvor eine halbwegs akzeptable Leistung erbracht wurde.
Halt, falsch, wir wollen nicht ungerecht sein: Für die Lieferanten interessiert sich auch keiner mehr. Auch für andere externe Stakeholder nicht. Nur der Webshop reagiert weiter mit stoischem Gleichmut auf eingehende Bestellungen. Allenfalls bei den Auslieferungen und bei Reklamationen kann es zu Ausfällen kommen, weil hier – Pech gehabt – wieder Menschen im Spiel sind.
Im Gegensatz zu anderen Arten besitzt der Mensch die Fähigkeit, sich über die Zukunft Gedanken – sprich, Sorgen – zu machen. Und er macht reichlich Gebrauch davon. Was kommen wird oder kommen könnte, quält die meisten Menschen mehr als die Widrigkeiten der Gegenwart. Befürchtetes Unheil kann eine im Grunde erträgliche Realität zur Hölle machen, bezeugte schon Michel de Montaigne: «Mein ganzes Leben war geprägt von Katastrophen, von denen die allermeisten nie eingetreten sind.»
Wegen dieser «Ausnahmebegabung zum Vorausfürchten» tun sich Menschen sehr schwer damit, mit Übergangssituationen zu leben. Sobald klar ist, dass sich die Lage ab einem bestimmten (oder unbestimmten) Termin grundlegend ändern wird, ist die Gegenwart im Grunde vorbei – man befindet sich mental im Wartezimmer. Und je bedrohlicher die Schatten der Zukunft erscheinen, desto mehr verklären viele die Gegenwart, an der sie noch bis vor kurzem ziemlich viel auszusetzen hatten.
Zwar hat Morgan Housel wahrscheinlich recht, wenn er sagt: «A big takeaway from economic history is that the past wasn’t as good as you remember, the present isn’t as bad as you think, and the future will be better than you anticipate.» Aber es ist schwer, sich an solchen Weisheiten aufzurichten, wenn der Schatten der Zukunft so dunkel und bedrohlich wirkt.
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