Sie wollen Jubel

Ein Gespräch

Michael Sommer war viele Jahre Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Ein Gespräch über Führungskultur, Straßenbahnen und den Mut, die eigene Fakesness zu erkennen.

ZOE: Herr Sommer, sicher haben Sie in Ihrer Rolle als Vertreter der Arbeitnehmerschaft in den Jahrzehnten Ihrer Tätigkeit häufiger erlebt, dass Wandel zwar vollmundig versprochen, aber nicht eingelöst wurde.

Sommer: Ja, das habe ich oft erlebt. Es beginnt mit dem Phänomen, dass der öffentliche Auftritt vom Management nach außen und die Unternehmenskultur nach innen völlig auseinanderfallen. Das hat auch mit Führung zu tun.

ZOE: Wie verändert man denn Führungskultur?

Sommer: Die Frage, ob sich Führungskultur verändert oder nicht, hat nichts damit zu tun, dass sie jetzt den Schlips weglassen oder Turnschuhe tragen. Das hat mit der inneren Haltung zu tun. Und ich sehe in vielen Teilen des deutschen Managements nicht, dass sich die innere Haltung verändert hat. Im Gegenteil. Es geht oft immer noch nach Befehl und Gehorsam und nach dem Motto, wir bezahlen und du hast zu tun, was wir sagen. Was wir dagegen dringend brauchen, ist ein kooperativer Führungsstil und die Bereitschaft, tatsächlich in Kommunikation zu treten. Und auch mal einzugestehen: Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe mich geirrt. Dieser Anschein von Fehlerlosigkeit ist wirklich ein Problem. Im richtigen Moment zuzugeben, dass Sie einen Fehler gemacht haben, ist das Beste, was Sie machen können. Denn normalerweise tun ja alle so, als würden sie immer alles richtig machen. Als ob man es schon immer gewusst hat und schon immer auf der Straße der Sieger war. Diese Kultur des Vorspiegelns von etwas, das nicht ist, dieses Nichtakzeptieren von Mannschaftsspiel, aber auch diese mangelnde Klarstellung von Spielregeln ist vielerorts gang und gäbe. Was man häufig erlebt ist dieses Gerede über Diskussionen und Debatten, obwohl viele Topmanager nur Bestätigung und Zustimmung wollen. Viele wollen Jubel und Bewunderung. Sie wollen als große Unternehmensführer gefeiert werden und sind dabei doch ziemlich empfindlich – wenigstens da also zutiefst menschlich.

ZOE: Wenn oben einer steht, der nur gelobt werden will: Ist es da überhaupt opportun, Wahrhaftigkeit in den Wandel zu bringen? Wenn dort erzählt wird, was wirklich ist, wird man doch schnell einen Kopf kürzer gemacht?

Sommer: Ja klar. In dem Moment, wo man in einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis ist, ja. Das geht in meiner Erfahrung so weit, dass sogar Aufsichtsräte bevormundet werden. In der täglichen Arbeit gibt’s für Ehrlichkeit, auch von Aufsichtsräten oft: Patsch, Patsch, Patsch.

“Was wir dringend brauchen, ist ein kooperativer Führungsstil und die Bereitschaft, tatsächlich in Kommunikation zu treten. Und auch mal einzugestehen: Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe mich geirrt.”

ZOE: Und da spüren Sie dann, dass alles nur Fassade war?

Sommer: Ja, oft werden schon die Fragen zensiert. Ein Höhepunkt von Fake war für mich eine 360 Grad-Beurteilung. Ich bekam einen Fragebogen von einem Unternehmensberater, mit dem eine wichtige Führungskraft beurteilt werden sollte. Ich dachte, wer den ehrlich ausfüllt, der bekommt sowieso Ärger. Entweder ist er ihm untergeben, dann bekommt er direkt Ärger mit ihm, oder er ist über ihm, dann schreibt er natürlich nichts Schlechtes, weil er die Pfeife ja eingestellt hat. Und dann noch die weiteren Perspektiven der 360 Grad-Beobachtung: Kunden, Verkäufer und so weiter. Da finde ich ja das System von Amazon noch besser, da braucht man nur noch anklicken… zufrieden oder nicht. (lacht)

ZOE: Dort, wo Ehrlichkeit geschaffen werden soll, passiert genau das Gegenteil?

Sommer: Genau. Auch, weil es ein Multiple Choice-Verfahren ist. Es fehlt das Vertrauen, dass solche Bögen dem Ziel dienen, jemandem ehrliche Hinweise für Verhaltensänderungen zu geben. Ich habe immer den Eindruck, das wird abgehakt. So wie viele dieser jährlichen Beurteilungsgespräche. Da habe ich immer gern gesagt: «So, jetzt füllen wir erstmal den Bogen aus und dann unterhalten wir uns richtig.»

ZOE: Aber gehört die Show nicht zum Geschäft?

Sommer: Es gibt neuerdings die Idee, dass man nicht mehr einfach sagt, was man macht, sondern man muss es erzählen. Man muss Narrative aufbauen, es muss eine Story her. Da ist, glaube ich, sehr viel Einfluss von einer angelsächsischen Kultur dahinter, die eher auf einer Show-Ebene stattfindet als auf einer Wahrheitsebene.

ZOE: Ist denn diese Show glaubwürdig? Wer braucht Märchenstunden?

Sommer: Nein, das ist oft nicht glaubwürdig, aber die Beteiligten wollen die Show. Das beginnt bei der Neigung, alles besser darzustellen, als es ist und endet bei den Menschen, die Titel tragen, die signalisieren, dass sie mehr sind als sie eigentlich sind. Als ich das erste Mal in den achtziger Jahren in den USA war, habe ich nur gestaunt, wie vielen Vice-Präsidenten ich begegnet bin, bis ich mitbekommen habe…

ZOE: … dass das kein besonderer Titel ist.

Sommer: Ja. Und dann wurde hier in Deutschland ja auch aus der Kraftfahrzeugtechnik das Fuhrpark-Management, aus dem Hausmeister der Facility Manager. Das entspricht natürlich ein Stück weit der menschlichen Neigung, sich besser und höher darzustellen als man ist und sich so einen Wert zu geben. Das hat auch sehr viel damit zu tun, dass der eigentliche, wahre Wert von Arbeit nicht wirklich anerkannt wird. Als ich 2002 DGB-Vorsitzender wurde, hatte ich ein Interview mit der der Zeit. Die Journalistin sagte zu mir: Wenn Sie jetzt darüber nachdenken, wo kann man denn noch zusätzlich Arbeit schaffen? Das war ja damals in einer Zeit hoher Massenarbeitslosigkeit. Da habe ich gesagt: Wir haben mit Sicherheit einen unglaublichen Bedarf an Arbeit an und mit Menschen. Da sieht sie mich an und sagt: Ach so, Sie meinen also einfache Arbeit. Ich sage: Wissen Sie was, Altenpflege ist keine einfache Arbeit. Daran sieht man natürlich, dass diese Art von Arbeit wenig Ansehen hat. Es gilt heute etwas, wenn Sie ein Messingschild vor sich hinstellen, auf dem «Associated Deputy Director» steht, auch wenn Sie nur am Emfang sitzen.


Michael Sommer – Biografie

Michael Sommer war von 2002 bis 2014 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes und von 2010 bis 2014 Vorsitzender des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Seit Beendigung seiner DGB-Karriere, ist er Stellvertretender Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie Vorsitzender des Investitionsausschusses des Verwaltungsrates des Zweiten Deutschen Fernsehens und Mitglied des internationalen Nachhaltigkeitsbeirats der Volkswagen AG.


ZOE: Viele Jahrzehnte war es Ihre Aufgabe, trennscharf zwischen Wahrheit und Show zu unterscheiden. Wie funktioniert das bei Ihnen? Haben Sie einen Bullshit-Detektor?

Sommer: Ich merke es schon am übertriebenen Auftreten. Mir sind Menschen lieber, die argumentieren, die in Austausch gehen, wo man genau weiß, sie setzen sich auseinander. Aber auch die darf man nie unterschätzen, denn man sollte Lautstärke und Durchsetzungskraft nie miteinander verwechseln. Ein weiterer Hinweis ist, wenn unglaublich viel Wortgeklingel um Sachen gemacht wird. Oft wird man hellhörig, wenn es nur noch um die höchsten Sphären von irgendwelchen Strategien geht. Man geht im Übrigen nie strategisch Pleite, sondern nur operativ. Je mehr Wolken, desto vorsichtiger muss man sein. Wenn rumschwadroniert wird um den Kern. Wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes argumentieren wie ein Spiralnebel, nur damit man nicht merkt, dass in der Milchstraße nichts ist außer einem schwarzen Loch. Brecht hat mal gesagt, «die Wahrheit ist immer konkret, der Imperialismus hat Namen und Hausnummer». Da ist was dran: Wahrhaftiges kann man immer auch direkt sagen. Für mich sind die großen Charts in Aufsichtsräten oder Vorstandssitzungen der Unternehmen immer ein Höhepunkt. Man muss oft sehr genau hinschauen, was wirklich draufsteht, weil: Die eigentliche Botschaft steht meist in der untersten Zeile oder in der drittletzten Zeile unten rechts.

ZOE: Das grenzt doch an Manipulation, oder?

Sommer: Früher hat man Unternehmensstrategien in Fließtexten formuliert. Da wurde auch viel versteckt in der Anlage 35. Aber das wurde dann abgelöst durch diese angelsächsische Tradition der Charts.

ZOE: Powerpoint.

Sommer: Der Kern ist immer derselbe. Es wird eine Logik vorgegaukelt, die nicht da ist; die Wahrheit wird nur verschlüsselt transportiert und vieles wird schlicht und ergreifend verschleiert. Ab 20 Charts sollte man wirklich aufpassen. Ab 25 kann man damit rechnen, übers Ohr gehauen zu werden. Ab 60 wird man übers Ohr gehauen. Ab 100 wird man für dumm verkauft. Ich habe es häufig erlebt, dass dieses Mittel benutzt wird, um Manipulation zu transportieren, nicht Information.

ZOE: Merken die Menschen im Unternehmen denn, dass sie manipuliert werden?

Sommer: Nicht immer – weil das Ganze gut gemacht und als alternativlos dargestellt wird. Oder schauen Sie auf das Phänomen der Entpersonalisierung, das schon bei Dolf Sternberger gezeigt wird. Es beschreibt, wie man mit Sprache passiviert und entpersonalisiert. Wenn Sie immer passiv und generalisiert, also mit «man» formulieren, dann ist es schwer, Verantwortung festzumachen. Im Verwaltungshandeln spielt das eine große Rolle. Und das findet auf höherer Ebene dann mit Folien statt: «Man hat entschieden, dass Menschen entlassen werden». Das sind klassische Mechanismen, die von Führungskräften genutzt werden.

ZOE: Wie deprimierend. Sind die Menschen denn nicht aufgeklärter und wahrhaftiger geworden in den Unternehmen?

Sommer: Es gibt zwei Führungsstile, den kommunikativen und den befehlenden. Der befehlende bedient sich gerne des Manipulativen. Der kommunikative auch. Natürlich bewegen wir uns langsam weg von diesem altmodischen Befehl-und- Gehorsam-Stil. Aber Vorsicht: Bloß weil sich der Chef kollegial zeigt, bedeutet das nicht, dass er sich vom Modell Alleinherrscher verabschiedet hat.

ZOE: Trotz der Turnschuhe wird also vieles im Hinterzimmer gedealt. Was ist denn mit der überall proklamierten Hinwendung zum kommunikativeren Führen?

Sommer: Meistens leider nicht viel. Wenn, dann gibt es eine Hinwendung zu einer kommunikativeren Verpackung. Kommunikatives Führen setzt ja voraus, dass ich bereit bin, andere Meinungen ernst zu nehmen, meine eigene Entscheidung in Frage zu stellen, zu überdenken, zu überprüfen, möglicherweise auch zu verändern. Darum geht es aber oftmals in der Realität gar nicht. Sondern es geht darum, die bereits gefundene, eigene Entscheidung kommunikativ durchzusetzen.

ZOE: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in diesem Zusammenhang?

Sommer: Zunächst einmal: Gewerkschaftler sind nicht per se die besseren Menschen. Über unsere eigenen Schwächen könn- te ich Ihnen auch ein ganzes Interview geben. Dennoch: Die Gewerkschaft ist die Organisation der Arbeit. In Wahrheit sind wir vor allem die Organisation zur Durchsetzung von Mitgliederinteressen. Die erste Aufgabe von Gewerkschaften ist es, dafür zu sorgen, dass ihre Mitglieder nicht unter die Räder kommen. Hinzu kommt der gesellschaftspolitische Anspruch, denn wir arbeiten sowohl gesellschafts- als auch betriebspolitisch. Beispielweise kämpfen wir um Standorte in Deutschland auch deshalb, weil wir wissen: Wenn die Unternehmensentscheidungen nicht mehr in Deutschland, sondern in den USA fallen, fallen sie unter anderen Kriterien als in Deutschland. Gleichzeitig haben wir eine ziemlich interne Sicht auf die Menschen in den Unternehmen, die zu uns kommen und Dinge erzählen, die sie bei ihren Chefs nicht loswerden.

ZOE: Ist das die wahrhaftigere Perspektive auf das Unternehmen?

Sommer: Ich bin immer wieder überrascht, wie genau Gewerkschaftler wissen, was in den Unternehmen los ist.

ZOE: Was bedeutet das für organisationalen Wandel?

Sommer: Gewerkschaftler beobachten Wandel genauer als das meist angenommen wird. Ein Beispiel: Mein ehemaliger Chef bezeichnete die Reaktion des Managements auf Veränderungsansagen immer als «Straßenbahnsyndrom». Als es noch Schaffner in den Straßenbahnen gab, kam der Schaffner und bat die Fahrgäste darum, nach hinten durchzutreten. Was die Leute aber getan haben, ist, so zu tun, als ob sie sich nach hinten bewegten, obwohl sie nur auf der Stelle traten. Ein klassisches Syndrom; das gibt es immer wieder. Auch bei Umstrukturierungen wird oft so getan als ob, ohne dass die wirklich durchgreifenden Veränderungen tatsächlich stattfinden. Dann kommen die Widerstände. Das hat viel mit eigener Angst vor Veränderung zu tun. Das Verrückte ist, dass Beharrungskräfte dort stark sind, wo eigentlich die meiste Veränderungsenergie sein müsste, im Mittleren Management. Diese mittlere Lehmschicht, die sozusagen die Osmose nur nach unten betreibt, sie aber nie nach oben weitergibt, sorgt dafür, dass sich nichts verändert. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum viele Unternehmen jede Umstrukturierung überstehen, sich aber nicht wirklich verändern.

ZOE: Ist das nicht auch funktional? Das mittlere Management hat doch auch die Aufgabe, die Produktion vor dem Unsinn zu schützen, der von oben kommt?

Sommer: Ja, zum Teil stimmt das. Zu einem anderen Teil aber ist sie auch sich selbst schützend. Das sind oft Systeme, die sich mit sich selbst befassen und trotzdem denken, sie hätten unglaublich viel Arbeit. Das ist alles ziemlich selbstreferenziell.

ZOE: Echokammern, in denen Systeme nur sich selbst hören …

Sommer: Auch eines der großen Probleme unserer Art von Kommunikation heute. Systeme, die mit sich selbst arbeiten. Die nicht mehr mit ihren Kunden sprechen, sondern nur mit sich selbst. Die sich selbst als Maßstab haben.

ZOE: Wie kann man sich dagegen schützen?

Sommer: Entscheidend sind Counterparts, die einem ab und zu die Wahrheit sagen. Wichtig ist, immer wieder an die Wurzeln, an seine Basis zu gehen. Dass Sie sich auch wirklich ernsthaft einer Diskussion stellen mit Kunden, Mitgliedern, Beschäftigten. Indem Sie offene Kommunikation zulassen und nicht nur so tun als ob Sie kommunizieren. Und indem Sie wirklich lernen, es zu machen, statt darüber zu sprechen. Mir hat mal ein sehr guter Kollege gesagt: Am Anfang von jeder Veränderung steht die Bitternis der Analyse. Eine ehrliche, deutliche Analyse. Die nicht sagt, wie ich mich sehen möchte, sondern die sagt, wie ich bin. Die Frage ist: Wie bekomme ich eine gute Erdung in meine Arbeit, in mein Leben? Über zwei Mechanismen. Erstens über die Fähigkeit zur inneren Selbstkritik ohne Selbstlügen. Eine Selbstkritik, die die Bereitschaft mit sich bringt, Konsequenzen zu ziehen. Und zweitens: Indem ich tatsächlich immer wieder versuche, mich der Bitternis der Analyse der äußeren Wirklichkeit zu stellen. Ich würde jeder Führungskraft den Rat geben, in sich selbst reinzuhorchen, sich nicht selbst zu belügen. Eine der schlimmsten Sachen ist es, wenn Sie anfangen, sich selbst zu belügen. Und wenn Sie dann noch Mechanismen aufbauen, wie Sie am besten von anderen belogen werden.

ZOE: Damit sind wir bei der inneren Wahrhaftigkeit angekommen. Wie funktioniert der Fake auf der Personenebene?

Sommer: Mit Selbstbestechung. Wenn Sie sehen, dass Sie Erfolg haben, dann vernachlässigen Sie die Kehrseite Ihres Erfolges. Sie brauchen einen relativ festen Maßstab dafür, für sich selbst sagen zu können: Das ist gut oder das ist schlecht, das bin ich oder das bin ich nicht. Bin ich wirklich weitergekommen, ja oder nein? Ich glaube, dass der Fake tatsächlich im Inneren anfängt. Und sich dann nach außen überträgt. Nicht umgekehrt.

“Wenn Sie sehen, dass Sie Erfolg haben, dann vernachlässigen Sie die Kehrseite Ihres Erfolges. Sie brauchen einen relativ festen Maßstab dafür, für sich selbst sagen zu können: Das ist gut oder das ist schlecht, das bin ich oder das bin ich nicht.”

ZOE: Jetzt sind wir beim Thema Lebenslügen, oder?

Sommer: Ein bisschen. Das Thema Burnout, ist, glaube ich, ein klassisches Beispiel dafür. Burnout ist eine echte Krankheit, die nicht bagatellisiert werden darf. Menschen flüchten in sich hinein, weil sie subjektiv gesehen versagt haben. Oder aber tatsächlich verbrannt sind, weil sie die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit nicht erkannt haben. Es gibt ja beide Varianten. Beide haben aber eines gemeinsam: Sie sagen sich selbst nicht die – schmerzhafte – Wahrheit.

ZOE: Ein Satz wie: Ich kann das hier nicht mehr, ich bin hier überfordert.

Sommer: Ja. Oder: Ich kann das nicht, ich muss da nochmal lernen, oder ich brauche nochmal einen Tag zum Nachdenken.

ZOE: Solche Sätze lernt man aber nicht in der Business School.

Sommer: Da war ich ja nie, aber ich vermute nicht. Gefährlich wird es, wenn der eigene Fake nach außen erfolgreich ist.

ZOE: Dann wird das eigene Narrativ zur subjektiven Wirklichkeit.

Sommer: Genau. Ich glaube, dass diejenigen am stärksten sind, die sich am wenigsten selbst täuschen. Alles beginnt mit dem Glauben an sich selbst und der Fähigkeit, sich nicht selbst zu belügen. Und damit, zu diesem Glauben zu stehen, zur eigenen Persönlichkeit zu stehen. Und mit dem Versuch, die eigenen Stärken und Schwächen zu kennen und mit beiden gut zu leben.

ZOE: Herr Sommer, wir danken Ihnen für dieses inspirierende Gespräch. 


 

Das Gespräch führte: Prof. Dr. Heiko Roehl,
ZOE-Redakteur sowie Geschäftsführender Gesellschafter Kessel & Kessel GmbH


Aus Ausgabe Nr. 1/21: Fake Change – Wandel als leeres Versprechen

Die Chartsätze werden immer eindrucksvoller, das Storytelling immer wirksamer. Es war noch nie so einfach, Wandel in Organisationen überzeugend darzustellen. Doch ob die Darstellung der Wirklichkeit entspricht, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Denn viele Veränderungsprojekte sind im Rückblick mehr Schein als Sein. Wenn das von vornherein so  beabsichtigt war, dann war der Wandel gefälscht, fake.

In diesem Heft widmen wir uns der Frage, wie Fake Change eigentlich funktioniert. Warum gibt es überhaupt Projekte mit «geplanter Folgenlosigkeit» (K. Doppler)? Wie ist in der Praxis mit groß angekündigten Projekten umzugehen, die sich irgendwann als heiße Luft, Schauveranstaltung oder mikropolitischer Schachzug erweisen? Wie erkenne ich, was hinter der bunt bemalten Legitimationsfassade des Projekts steht?