Eindrücke statt Emissionen managen

Paradoxien im VW-Dieselskandal

Die Art und Weise, wie Organisationen oder deren Management mit Paradoxien, d. h. mit anhaltenden Widersprüchen zwischen voneinander abhängigen Anforderungen umgehen, wird oft glorifiziert. Wie der VW-Dieselskandal zeigt, haben paradoxe Versprechungen, wie z. B. die Lieferung eines schnellen, billigen und umweltfreundlichen Autos, ihre Schattenseiten und können zu fragwürdigem oder gar kriminellem Verhalten führen. Dabei spielen widersprüchliche und voneinander abhängige Ziele, die gleichzeitig schwer zu erreichen sind, eine zentrale Rolle. Dieser Artikel versteht sich als Warnung, dass Organisationen und ihre Mitglieder manchmal ihre eigene Fähigkeit überschätzen, Paradoxien erfolgreich zu managen.

Gesellschaft und Organisationen verändern sich unter dem Druck neuer Technologien, Krisen und komplexer Umweltbedingungen, was paradoxe Herausforderungen mit sich bringt: kurzfristige und langfristige Ziele, soziale und wirtschaftliche Ziele, Wandel und Stabilität. Solche Paradoxien werden zunehmend zu einem integralen Merkmal von Organisationen und stellen eine Herausforderung für Management- und Organisationswissenschaftler*innen sowie -praktiker*innen dar. Organisationen, die sich nicht für ein Entweder-oder entscheiden, sondern einen Sowohl-als-auch-Ansatz im Umgang mit Paradoxien verfolgen, sind in der Regel innovativer, nachhaltiger und origineller. Allerdings können Paradoxien auch zu Dysfunktion und Dramen führen, insbesondere wenn sie zu weit gehen.

Die Aufnahme von Paradoxien als «Stretch Goals» oder ambitionierte Ziele kann zu höheren Leistungen anregen und die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf sich ziehen (Cunha et al. 2017). Stretch Goals sind praktisch unerreichbare oder scheinbar unmögliche Ziele, die wenn sie nicht erreicht werden, zu einem Gesichtsverlust für die Protagonisten führen. Wenn solche Stretch-Ziele nicht erreicht werden, geben Protagonisten bisweilen ihr Scheitern nicht zu, sondern betreiben lieber Impression Management. Die widersprüchlichen Ziele werden als erreicht dargestellt, während die eigentlichen Ursachen der Spannungen, die dem Paradox zugrunde liegen, in der Praxis nicht angegangen werden. So wird das Paradoxon durch Illusionen und Rhetorik «aufgelöst» und nur zum Schein bearbeitet: Es entsteht eine Differenz zwischen dem paradoxen Versprechen und der tatsächlichen Praxis.

Dies entspricht dem von Goffman (1959) beschriebenen Prozess des Impression Managements, bei dem Menschen versuchen, die Wahrnehmung einer Person, eines Objekts oder eines Ereignisses durch andere zu beeinflussen. Ähnlich lässt sich der Versuch einer Organisation beschreiben, eine gewünschte Identität zu gewährleisten. So vermittelte beispielsweise die Werbung von Volkswagen für schnelle, billige und umweltfreundliche Fahrzeuge nach außen hin einen Eindruck, der nicht der Realität entsprach. Die gleichzeitige Erfüllung der Anforderungen an Leistung, Effizienz und Emissionen ist paradox, da die Anforderungen widersprüchlich sind und sich gegenseitig bedingen. Ein höherer Wirkungsgrad des Dieselmotors geht mit höheren Emissionen einher. Ebenso bedeutet eine höhere Leistung ab einer bestimmten Geschwindigkeit eine geringere Kraftstoffeffizienz.

Das Paradoxon war für viele Elite-Autohersteller nicht leicht zu lösen und auch VW schaffte es nur verbal. Die Herstellung eines schnellen, billigen und umweltfreundlichen Dieselmotors wurde durch den Einbau einer Abschalteinrichtung erreicht, die das Abgasreinigungssystem dann einschaltete, wenn die Fahrzeuge einer Abgasuntersuchung unterzogen wurden. Das paradoxe Stretch Goal, das sich als unerreichbar erwies, zeigt die dunkle Seite des Paradoxie-Managements. Diess versuchte, die tatsächliche Überforderung durch Impression Management zu kaschieren und wurde durch den von Angst und Einschüchterung geprägten Entscheidungskontext ermöglicht und aufrechterhalten.

Wenn Paradoxien, die zu weit gehen, auf der obersten Hierarchieebene festgelegt werden und ein Scheitern kostspielig ist, besteht eine Möglichkeit des Umgangs auf der unteren Ebene darin, die Illusion zu erwecken, das Paradox erfolgreich zu lösen, statt sich tatsächlich mit diesem zu befassen. Ein typischer Fall ist das sogenannte Greenwashing, bei dem eine schlechte Umweltleistung mit einer positiven Kommunikation über grüne Werte verbunden wird – auch wenn dabei der erweckte Eindruck und die Realität erheblich auseinanderklaffen. Diese Praxis wird von Goffman als Gesichtsarbeit (face-work) beschrieben, etwa wenn Organisationen behaupten, Ziele erreicht zu haben, die bemerkenswert erscheinen, während die Realität nicht mit dem Image übereinstimmt. Organisationen geben dann z. B. vor, Vorschriften einzuhalten zu denen sie verpflichtet sind, indem sie oberflächliche Aktivitäten durchführen, um Legitimität zu erlangen, während sie ihr Business as usual fortführen.

Im VW-Dieselskandal wurde durch die Werbung und Kommunikation des Unternehmens der Eindruck eines erfolgreichen Paradoxien-Managements erweckt. Die damit verbundenen Täuschungen wirkten auf verschiedenen Ebenen, führten zu unbeabsichtigten Dynamiken, zu sich verselbstständigenden Verbindungen zwischen Versprechen und Handlungen und endeten in einem Teufelskreis. Der VW-Skandal stellt ein Extrembeispiel dar, an dem sich das Verständnis für die Gefahren von Paradoxien weiterentwickeln und Implikationen für das Management von Paradoxien ableiten lassen. Dieser Beitrag stützt sich auf Daten aus einer Vielzahl von veröffentlichten Quellen, wichtigen Medien, Unternehmens-Pressemitteilungen sowie Kongressanhörungen.

Die Chronologie des Skandals

Der Skandal wurde im September 2015 bekannt, als die amerikanische Umweltschutzbehörde (EPA) enthüllte, dass viele von VW in Amerika verkaufte Dieselfahrzeuge in ihren Motoren ein Gerät haben, das Labortests erkennen und Leistungsmessungen entsprechend verändern konnte. Nur mit dieser Vorrichtung war es möglich, die vorgeschriebenen Abgasnormen zu erfüllen. VW hat mittlerweile zugegeben, bei Abgastests in den USA betrogen zu haben.

Kaum ein anderes Unternehmen in Deutschland steht wie VW als Symbol für die technische Leistungsfähigkeit des Landes. Anfang der 2000er Jahre setzte sich das Unternehmen das Ziel, der weltweit führende Automobilhersteller zu werden. Dazu gehörte schon früh, die zufriedensten Kunden und die zufriedensten Mitarbeitenden zu haben und gute Unternehmensergebnisse zu erzielen, um über Investitionen in die Zukunft die besten Autos zu bauen. Das Ziel, bis 2018 der weltweit führende Automobilhersteller zu sein (Strategie 2018), geht bereits auf Ferdinand Piëch, den Pionier des Dieselmotors im Pkw, und auf die 1990er Jahre zurück, als VW auf Wachstum um jeden Preis setzte.

«Das paradoxe Stretch Goal zeigt die dunkle Seite des Paradoxie-Managements.»

Bei seinen Bemühungen, den für VW so wichtigen US-Markt zu erobern, um der weltweit führende Automobilhersteller zu werden, setzte VW vor allem auf Dieselfahrzeuge. Während diese in Europa beliebt waren, waren Dieselfahrzeuge in den USA unüblich. Dabei sind Dieselmotoren sparsamer und effizienter als Ottomotoren, stoßen aber aus technischen Gründen größere Mengen an Stickoxiden (NOx) und Ruß aus. Hinzu kam im Jahr 1990 die Überarbeitung des Clean Air Act durch den US-Kongress. Dies bewirkte, dass alle in den USA verkauften Autos wesentlich strengere US-Bundesabgasnormen erfüllen mussten.

Die Herausforderung für VW bestand darin, die intern gesetzten Wachstumsziele und die gestiegenen externen Anforderungen in Einklang zu bringen. Die Lösung sahen die Ingenieure darin, einen Dieselmotor zu entwickeln, der effizient, leistungsstark und sauber war. In Europa war VW bereits führend bei der Einführung des Dieselmotors für Pkw und produzierte Motoren mit geringerem Geräusch- und Geruchspegel bei gleichzeitig hervorragender Beschleunigung und niedrigem Kraftstoffverbrauch. Das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Leistung auf Kosten höherer Emissionen blieb jedoch bestehen, auch wenn der Dieselmotor und die Abgastechnologie als Piëchs persönliches Innovationsideal verstanden wurden.

Bei seinem Versuch, den US-Markt zu erobern, baute VW auf die Idee des sauberen Diesels und warb in den USA 2015 mit Fernsehspots, in denen VW-Dieselfahrzeuge als «saubere Diesel» beworben wurden, welche die US-Abgasnormen erfüllen. Die bessere Leistung und die geringeren Emissionen bedeuteten, dass sich die Besitzer*innen sowohl für Subventionen als auch für Steuerbefreiungen qualifizierten. VW-Mitarbeitende hatten sich schon früh darüber beschwert, dass die Emissionsanforderungen der kalifornischen EPA unrealistisch und für VW fast unmöglich zu erfüllen seien. Dies galt insbesondere in Verbindung mit den formulierten Leistungs- und Effizienzzielen. Für diejenigen, die das paradoxe Versprechen eines «schnellen, billigen und umweltfreundlichen» Dieselfahrzeugs einlösen mussten, erwies es sich als ein unlösbares technisches Rätsel.

Die Wettbewerber des Unternehmens gingen mit diesem Paradoxon unterschiedlich um. Sowohl BMW als auch Mercedes-Benz stellten fest, dass dies ein nahezu unmögliches Ziel war. BMW erfüllte die Emissionsanforderungen durch eine Verringerung der Kraftstoffeffizienz. Dies erhöhte letztlich den Preis des Fahrzeugs, da zusätzliche technische Maßnahmen erforderlich waren – für Piëchs ideale Lösung war dies nicht akzeptabel. Um Leistungsdefizite auszugleichen, spritzte Mercedes-Benz zusätzlich Harnstoff ein, um NOx in weniger schädliche Stoffe umzuwandeln. Der Ansatz führte zu mehr Leistung und geringerem Kraftstoffverbrauch, erforderte aber einen separaten Tank für den Harnstoff. Dieser musste regelmäßig nachgefüllt werden, was zusätzliche Kosten und Unannehmlichkeiten für die Autobesitzer*innen bedeutete, was wiederum für das VW-Ideal, den Dreifacherfolg zu erzielen, nicht akzeptabel war. Ungeachtet dieser Herausforderung drängte VW weiterhin auf einen Dieselmotor, der die Kundenwünsche nach Leistung und Effizienz erfüllt und zugleich die US-Emissionsziele erreicht.

Kontext des Skandals

Ehrgeizige Ziele waren bei VW unter dem früheren Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch und CEO Martin Winterkorn die Regel, getreu dem Motto «Geht nicht, gibt’s nicht». Piëch war dafür bekannt, Ingenieure mit schwierigen Aufgaben zu betrauen Bei Nichtbestehen drohte ihnen die Entlassung. Wenn Ingenieure berichteten, dass sie den Abgastest angesichts der Technologie nicht bestehen könnten, sagte Piëch: «Ihr werdet bestehen, ich verlange es! Oder ich werde jemanden finden, der es schafft». Zwischen 2008 und 2015 verkündete VW dann öffentlich, das Paradox gemeistert und Leistung, Effizienz und Emissionen in Einklang gebracht zu haben. In der Praxis gelang es den VW-Ingenieuren jedoch nicht, dieses Ziel zu erreichen.

Als VW mit der Entwicklung des umweltfreundlichen Motors begann, wurde bald klar, dass dieser nicht gleichzeitig die Erwartungen der Kunden als auch die neuen, strengeren US-Abgasnormen erfüllen konnte. Anstatt das Versagen einzugestehen, entwickelten die VW-Ingenieure also eine Software, die erkannte, wann das Auto einem Test unterzogen wurde, und die Emissionskontrollen ein schaltete. Nach Bekanntwerden des Skandals bekannte sich einer der beteiligten Ingenieure schuldig und gab die Entwicklung zu, die die Abgasreinigung unter Laborbedingungen automatisch aktivierte. Die Abschalteinrichtung
sorgte dafür, dass der saubere Diesel von VW den Anschein erweckte, Leistung, Effizienz und Emissionen in Einklang zu bringen: das TDI-Wunder. Anfangs waren Technologen und Umweltschützer gleichermaßen von der neuen VW-Technologie fasziniert. Skeptische Experten fragten sich schon damals, wie diese Autos so gut sein konnten. Als einige Datenunregelmäßigkeiten auftauchten, wuchs der Argwohn. Eine unabhängige Analyse ergab, dass die Software den Fahrzeugen ermöglichte, einen niedrigeren Kraftstoffverbrauch auf Kosten höherer Stickoxidemissionen zu erreichen, wobei die NOx-Emissionen auf der Straße bis zum 40-fachen der Norm lagen. Der Abgasskandal flog am 18. September 2015 auf. VW gab später zu, dass die Software in elf Millionen Autos installiert wurde, von denen acht Millionen Fahrzeuge in Europa und fast eine halbe Million in den Vereinigten Staaten verkauft worden waren. Obwohl die Abschalteinrichtung – letztlich nur ein paar Zeilen Computercode – in der Entwicklung nur einige Tausend Euro kostete, führte sie zu einem gigantischen wirtschaftlichen Schaden.

Der weitere Verlauf des Skandals wurde von mehreren Dementis und verschiedenen Anschuldigungen begleitet. So beschuldigte der US-VW-Vorstandsvorsitzende Michael Horn vor einem Kongressausschuss die Software-Ingenieure und behauptete, der Betrug sei nicht von der Unternehmensspitze ausgegangen. Weitere Untersuchungen ergaben allerdings, dass der Betrug systematisch betrieben, die Vertuschung auf höchster Unternehmensebene inszeniert und gebilligt wurde, dieser mehr als ein Jahrzehnt dauerte und dabei Dutzende von Ingenieuren beteiligt waren.

Verschärfend zu dem, was in der Branche als normal galt, war die VW-Führungskultur von Angst und Einschüchterung geprägt. Zudem bestand im Unternehmen eine Führungsstruktur, die durch Familienkontrolle, Staatseigentum und Mitarbeitereinfluss gekennzeichnet war und die VW von externen Stimmen und Einflüssen abschirmte. Diese Mischung in Verbindung mit einem Führungsstil, der durch «Führen durch Angst» beschrieben wird, könnte erklären, warum diejenigen, die das paradoxe Versprechen einlösen mussten, eher zur Täuschung griffen, als ein Scheitern zuzugeben. Als Reaktion auf die gravierenden Regelverstöße betonte der Nachfolger Winterkorns, wie wichtig es sei, das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit nach dem Skandal wiederherzustellen. Er versprach verbesserte Betriebsabläufe sowie Berichts- und Kontrollsysteme, um die Verantwortlichkeiten zu klären und ein robusteres System für Hinweisgeber zu gewährleisten. Vier Jahre nach dem Skandal endet der Werbespot von VW mit «in the darkness, we found the light», unterlegt mit «Hello darkness, my old friend». Damit unterstreicht das Unternehmen sein Engagement für die Elektromobilität, einhergehend mit der Zustimmung, zwei Milliarden Dollar für die Infrastruktur von Elektrofahrzeugen auszugeben und den Skandal so hinter sich zu lassen.

«Geldstrafen, Entschädigungen, Rückrufkosten, Auswirkungen auf die Autopreise, höhere Kreditkosten.»

Die Auswirkungen

Der VW-Dieselskandal hatte drastische Folgen für Investoren, Händler sowie Kunden und wirkte sich auf die gesamte Automobilbranche aus – u. a. verloren Dieselmotoren massiv an Popularität. Neben Auswirkungen rechtlicher Natur führte der Skandal zu Umsatzeinbußen sowie zu einem Image- und Reputationsverlust der Marke. Die Werbung für «saubere Dieselfahrzeuge» führte zu einer systematischen Täuschung der Kunden. Betroffene Käufer sahen sich einem geringeren Wiederverkaufswert gegenüber, da der Name der Marke durch den Skandal in Verruf geraten war.

Die finanziellen Auswirkungen für das Unternehmen waren vielfältig: Geldstrafen und Entschädigungen, Rückrufkosten, Auswirkungen auf die Autopreise und höhere Kreditkosten. Nach dem Skandal wurden Sammelklagen und mehrere Klagen gegen VW eingereicht. Diese kamen von Aufsichtsbehörden, Verbraucher*innen, Investor*innen und dem Vertragshandel. Für das Managementteam war der Skandal mit zahlreichen Klagen, strafrechtlichen Verurteilungen, Rücktritten, Suspendierungen und Untersuchungen verbunden.

Der Betrugsprozess in Deutschland gegen vier ehemalige VW-Manager kommt nur langsam voran, weil die meisten Zeugen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Viele Verhandlungstermine wurden wegen der Corona-Pandemie abgesagt, der Vorstandsvorsitzende Winterkorn ist wegen eines ärztlichen Gutachtens noch nicht vor Gericht erschienen. Seit 2018 läuft zudem ein Gerichtsverfahren, in dem vor allem institutionelle Anleger Ansprüche in Milliardenhöhe geltend machen. VW soll lange Zeit Informationen über den Abgasskandal geheim gehalten haben, wodurch Anleger einen finanziellen Schaden erlitten haben.

VW gibt zu, dass sich die Kosten für Rückkäufe, Reparaturen und Rechtsstreitigkeiten bisher auf mehr als 32 Milliarden belaufen – vor allem in Form von Bußgeldern und Schadensersatzzahlungen in Nordamerika. Ein zentrales Thema für Aufsichtsbehörden und Umweltbehörden war der Status der Vergünstigungen, die VW für seine angeblichen Umweltinitiativen gewährt wurden. VW beging Betrug, indem das Unternehmen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Steuererleichterungen in Anspruch nahm, um den Verkauf vermeintlich schadstoffarmer Autos zu fördern. Ironischerweise wurde VW in den Jahren 2009 und 2010 die Auszeichnung «Umweltfreundlichstes Auto des Jahres» verliehen. Auch wenn die Auszeichnung später zurückgezogen wurde, bot sie für lange Zeit kostenlose Werbung.

Die Auswirkungen auf den Aktienmarkt waren für VW immens: In den ersten beiden Handelstagen nach Bekanntwerden des Skandals verlor die Aktie rund ein Drittel ihres Wertes und verharrte lange Zeit auf diesem Niveau. Die Anleger beklagten, dass VW den Finanzmärkten Informationen über den Dieselbetrug vorenthalten habe, wofür sie angesichts des durch den Betrug verursachten Wertverlusts eine Entschädigung fordern. Der Skandal betraf aber auch die Automobilindustrie als Ganzes. Andere Automobilhersteller gerieten ebenfalls ins Visier der Aufsichtsbehörden. Händler mussten mit einem Bestand an schwer verkäuflichen Autos umgehen und stoppten den Verkauf, Zulieferer von Komponenten für die Dieseltechnologie und andere von VW abhängige Lieferanten waren massiv betroffen. Die gesamte Branche wurde in Mitleidenschaft gezogen. Schließlich litten auch die Beschäftigten unter den folgenden Kostensenkungs-und Rationalisierungsprogrammen.

Die Folgen für Umwelt und Gesundheit sind schwer zu beziffern. Die verursachte Luftverschmutzung begünstigte Smog und wurde mit einer Zunahme von Asthma- und Atemwegserkrankungen sowie vorzeitigen Todesfällen in Verbindung gebracht. VW versuchte, den Schaden durch Vergleiche, Entschädigungen, Rückrufe und eine Behebung der Mängel durch technische Änderungen an den betreffenden Modellen zu beheben. In den meisten Fällen konnten die Fahrzeuge in Europa mit einem einfachen Software-Update und einer kurzen Fahrt zur Werkstatt repariert werden. In schwierigeren Fällen war eine kleinere Hardware-Reparatur erforderlich.

In den USA, insbesondere bei Fahrzeugen der ersten Generation, war die Angelegenheit komplizierter. VW schlug den Geschädigten vor, einen neuen Katalysator in diese Fahrzeuge einzubauen. Der Versuch, die Motoren zu reparieren, um die Abgasnorm zu erfüllen, beeinträchtigte allerdings die Leistung und Effizienz, diese stand allerdings im Mittelpunkt des Versprechens von VW. Die Kunden beschwerten sich daraufhin, dass ihre Fahrzeuge einen höheren Kraftstoffverbrauch und eine geringere Leistung aufwiesen. Bei der Anhörung vor dem US-Kongress räumte der für das US-Geschäft zuständige CEO ein, dass die Leistung der Fahrzeuge leiden könnte, wenn die Abgasnormen eingehalten würden. Auf die Frage einer Kongressabgeordneten, warum VW kein Auto baue, das diese Ziele erfülle, erklärte er «ich denke, weil Schummeln billiger ist.»

Die dunkle Seite des paradoxen Managements

Der Verlauf des VW-Skandals zeigt, wie das Unternehmen Impression Management einsetzte, um mit Paradoxien umzugehen, die durch internen (hochgesteckte Ziele und Ambitionen) und externen Druck (gesetzliche Anforderungen, starker Wettbewerb, Kundenerwartungen) ausgelöst wurden. Der von Angst und Einschüchterung geprägte Führungskontext spielte dabei eine entscheidende Rolle.

Die vermeintliche Behebung eines technischen Problems mit einer Lösung, die sich letztlich als Illusion herausstellte, führte dazu, dass VW sich noch tiefer in das ursprüngliche Paradoxon verstrickte. Ohne eine technische Lösung für die Herausforderung erwies sich die Bewältigung des Paradoxons als unmöglich. Der dramatische Fall zeigt deutlich die Schattenseiten des falschen Umgangs mit Paradoxien und organisatorischem Fehlverhalten.

Die Kombination aus paradoxen Versprechen, Stretch Goals, technischer Unmöglichkeit und externem wie internem Druck kann Unternehmen dazu verleiten, Fassaden zu entwickeln, die mit der Realität wenig zu tun haben. Der VW-Abgasskandal zeigt eindrucksvoll die Risiken und dysfunktionalen Folgen eines Impression Managements, welches die Kluft zwischen paradoxen Versprechen und der Praxis überbrückt.

In Anbetracht des paradoxen, von der Unternehmensleitung gesetzten ambitionierten Ziels kann man davon ausgehen, dass die Manager*innen der unteren Ebenen keine andere Wahl hatten, als die Unmöglichkeit zuzugeben – oder die Illusion zu schaffen, das Unmögliche erreicht zu haben. Sie waren machtlos angesichts einer Lose-Lose-Situation – verdammt, etwas zusagen, verdammt, dies nicht zu tun.

In gewisser Weise delegierte die Unternehmensleitung ein unmögliches Paradoxon an die Ingenieure, was letztlich zu einer Diskrepanz zwischen den Unternehmenszielen und den Handlungen der Akteure sowie zur Aufrechterhaltung einer Illusion führte. Während das Topmanagement in Unternehmen solche Paradoxien als lösbare Herausforderung ansieht, erleben untere Ebenen sie als unlösbar und managen angesichts der Unmöglichkeit wie im Fall von VW eher Eindrücke als Emissionen.

Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen und organisatorischen Komplexität, des Wandels und diverser Knappheiten wird die Fähigkeit, mit Paradoxien umzugehen, immer wichtiger. Es ist unbestritten, dass Führungsstrukturen, die Organisationsmitglieder davon abhalten, schlechte Nachrichten zu übermitteln, genau wie eine Kultur, in der «der Zweck die Mittel heiligt» und Angst und Einschüchterung vorherrschen, sowie Anreizsysteme, die zu unethischen Verhaltensweisen einschließlich Betrug und Fälschung führen, ein zweifelhaftes Management von Paradoxien wie im Fall von VW fördern. In einem solchen Kontext begünstigt der permanente Druck auf das mittlere Management nach Ergebnissen und Zielen die Entwicklung eines Umfelds, in dem die unausgesprochene Akzeptanz von Illegalität und das Wegschauen bei Abweichungen zum akzeptieren Ausweg werden.

Noch bedrohlicher ist, dass das falsche Management von Paradoxien dazu führt, dass die oberste Führungsebene ihre eigenen Problemlösungskapazitäten und die Ressourcen des Unternehmens überschätzt und möglicherweise Eindrucksmanagement und Selbstbetrug weitertreiben. Aus Angst, das Gesicht zu verlieren und kritisiert zu werden, bemühen sich die unteren Ebenen, das von der Spitze geschaffene Narrativ zu schützen, statt das Topmanagement mit den praktischen Schwierigkeiten eines «Sowohl-als-auch»-Ansatzes zu konfrontieren.

Umgang mit Paradoxien

Der VW-Dieselskandal ist ein Beispiel für eine paradoxe Herausforderung, bei der das Unmögliche möglich erscheint. Ein Fall, in dem der falsche Umgang mit Paradoxien zu dysfunktionalen Verhaltensweisen führt und in einem kolossalen Misserfolg mündet, und in dem Erzählung und Praxis auseinanderdriften. Paradoxien, die technisch nicht zu bewältigen sind, sollten Anlass für Organisationen, ihre Mitglieder und Berater*innen sein, achtsamer und bescheidener mit ihnen umzugehen und übereilten «Lösungen» für komplexe Probleme kritischer gegenüberzustehen.

Manager*innen sollten sich bewusst sein, dass vertraute und einfache Lösungen mit der Zeit zur Selbstverständlichkeit und im Laufe der Zeit zu einem Problem werden können. Lösungen können gerade dann problematisch werden, wenn sie automatisch greifen und unhinterfragt bleiben, nur weil sie in der Vergangenheit funktioniert haben. Es ist daher wichtig, eine kritische Haltung gegenüber routinemäßigen Lösungen und Organisationsrezepten zu entwickeln. Immer dann, wenn eine Lösung schleichend zur Gewohnheit wird, birgt sie das Risiko, zum Problem zu werden.

Der vorliegende Fall zeigt, wie der Umgang mit Paradoxien zu unangenehmen Überraschungen und Teufelskreisen führen kann, die sich nur schwer einfangen lassen. Die Arbeit am System statt im System, das Überschreiten bestehender Grenzen und das Erforschen und Sichtbarmachen gegensätzlicher Ansichten sind wichtige Voraussetzungen für ein wirksames Paradoxie Management. Auch und gerade die nähere Beschäftigung mit den Schattenseiten paradoxer Konstellationen eröffnet Organisationen die Möglichkeit, komplexe Situationen positiv und nachhaltig zu gestalten. Eine Organisationskultur, die Führungskräften und Mitarbeitern*innen ausreichend Gelegenheit gibt, aus Verlusten zu lernen und die die psychologische Sicherheit bietet, Misserfolge zuzugeben, ist eher in der Lage, mit komplexen und widersprüchlichen Zielen umzugehen.

Berater*innen können für Organisationen, die mit Paradoxien konfrontiert sind, unterstützend hilfreich sein, um organisatorische Herausforderungen und deren Kompromisse verständlich zu machen, zum Umdenken aufzufordern und einen Entwicklungsraum zu schaffen, in dem widersprüchliche Ziele diskutiert und bewältigt werden können. Ihre Rolle kann z. B. darin bestehen, latente Spannungen sichtbar zu machen oder eine andere Rahmung der Spannungen anzubieten, um so die Paradoxien besser handhabbar zu machen. Oder sie dienen als «dritte Person», um widersprüchlichen Ideen genügend Raum zu geben und eine Außenseiterperspektive einzubringen.

Organisationen oder Führungskräfte neigen mitunter dazu, Widersprüche durch Entweder-oder-Lösungen aufzulösen (siehe Interview mit Barry Johnson auf Seite 33), um sehr managementorientiert zu erscheinen. Ein solcher Umgang mit Paradoxien mag kurzfristig ein gutes Image vermitteln und Ängste abbauen, es birgt aber die Gefahr, langfristig ineffektiv zu sein. Auch hier können Berater*innen hilfreich sein, indem sie gemeinsam Annahmen entlarven, den Status quo in Frage stellen, Spannungen und Widersprüche sichtbar machen und die Fähigkeit zu paradoxem Denken und Handeln fördern. Beratende können einen Raum schaffen und Manager*innen dazu ermutigen, Widersprüchlichkeit zuzulassen und gegensätzliche Forderungen zu vertreten, ohne dass das eine auf Kosten des anderen gehen muss. Genauer gesagt, können sie Manager*innen dabei helfen, die Neugierde auf Widersprüche und versteckte Gegensätze, die Akzeptanz von Konflikten, die Fähigkeit und Freiheit, Fragen zu stellen, die Bereitschaft, Komplexität zu steigern, statt diese zu reduzieren, und die Wertschätzung widersprüchlicher Erkenntnisse zu fördern. Ein erfolgsversprechender Bearbeitungsprozess setzt voraus, dass die Gegensätze nicht (mehr) als unabhängig betrachtet werden. Ein solcher Ansatz schafft die Voraussetzung für das Erkennen der Verbindung zwischen den in Spannung stehenden Kräften, integriert Perspektiven und ermöglicht ein Verständnis, dass die Welt auch Spannungen und Widersprüchen besteht.

Schließlich sollten Führungskräfte in die Tiefe und in die Breite gehen. Sie müssen in die Tiefe gehen, um ihre Organisation zu verstehen. Und sie müssen in die Breite gehen, um die Welt und ihre komplexen Zusammenhänge zu verstehen. Unabdingbar dafür sind Zeit oder Raum für Reflexion, um nicht den einfachen Weg zu wählen, sondern Gelegenheiten wahrzunehmen, sich mit Paradoxien auseinanderzusetzen, die Chancen des Lernens durch Erkundung zu nutzen und Rückblick, Einsicht und Vorausschau zu verbinden.

Prof. Miguel Pina e Cunha
Nova School of Business and Economics, Carcavelos, Portugal

Prof. Medhanie Gaim
Associate Professor und Dozent, Umeå School of Business and Economics, Schweden

Prof. Dr. Stewart Clegg
Emeritus Professor, UTS Business School und Professor, University of Sydney Faculty of Engineering, School of Project Management

Prof. Dr. Thomas Schumacher
ZOE-Redakteur, Prof. für Organisation und Führung, Kath. Hochschule Freiburg, Lehrbeauftragter Univ. St. Gallen, Partner osb-international, Wien

Literatur

• Berti, M. & Simpson, A. V. (2021). Die dunkle Seite der organisatorischen Paradoxien: The dynamics of disempowerment. Academy of Management Review.
• Borgeest, K. (2021). Manipulation von Abgaswerten. Springer Fachmedien.
• Cunha, M. P., Giustiniano, L., Rego, A. & Clegg, S. (2017). Mission impossible? The paradoxes of stretch goal setting. Management Learning.
• Cunha, M. P., Clegg, S. R., Rego, A. & Berti, M. (2021). Paradoxien von Macht und Führung. Routledge.
• Ewing, J. (2017). Schneller, höher, weiter: The inside story of the Volkswagen scandal. Random House.
• Gaim, M., Clegg, S. & Cunha, M. P. (2021). Managing Impressions Rather Than Emissions: Volkswagen und die falsche Beherrschung des Paradoxen. Organization Studies.
• Gaim, M., Clegg, S., Cunha, M.P. & Berti, M. (2022). Organisatorisches Paradoxon. Cambridge University Press.
• Goffman, E. (1959). Die Darstellung des Selbst im täglichen Leben. Anchor.
• Lutz, B. (2015). Ein Mann etablierte die Kultur, die zu VWs Abgasskandal führte: A diesel dictatorship. Road and Track.
https://zoe-online.org/vw-diesel-fiasco
• Pradies, C., Tunarosa, A., Lewis, M. W. & Courtois, J. (2021). Von bösartigen zu tugendhaften paradoxen Dynamiken: Die sozialsymbolische Arbeit von Unterstützungsakteuren. Organization Studies.
• Smith, W. & Lewis, M. (2022). Beides und Denken. Harvard Business Review Press.

 


Aus Ausgabe Nr. 1/23: UND & ODER – Paradoxien bewusst gestalten

Der Umgang mit Spannungen und Dilemmata ist laut OECD eine der wichtigen Kompetenzen, um die Zukunft zu gestalten. Tatsächlich bestimmen Gegensatzpaare wie Effizienz und Innovation, Stabilität und Wandel, Dezentralität und Zentralität oder kurz- und langfristige Anforderungen immer mehr unsere (Organisations-)Welt.

Paradoxien sind Teil des organisationalen Normalzustands, keine vorübergehende Betriebsstörung, die es zu beheben gilt. Sie treten auf, wenn Beteiligte versuchen, konkurrierenden Anforderungen gerecht zu werden. Gute Führung schärft ihren Blick und entwickelt die Fähigkeit, Paradoxien als interdependent, widersprüchlich und ständig vorhanden anzunehmen, statt sie zu ignorieren. Die aktuelle Ausgabe der ZOE liefert dazu spannende Einblicke und inspirierende Erkenntnisse.