ZOE: Torsten, hier in Berlin schütteln viele Leute verständnislos mit dem Kopf, wenn es um die öffentliche Verwaltung in der Stadt geht – sie hat keinen guten Ruf. Du begleitest als Coach Veränderungsprozesse sowohl in Unternehmen als auch in der öffentlichen Verwaltung. Inwiefern unterscheidet sich denn der Umgang mit Veränderung in Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung?
Dubbermann: Die Herausforderungen und Dynamiken rund um Veränderung sind in Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung letztlich die gleichen. Der eigentliche Unterschied liegt im wirtschaftlichen Ziel der Organisation und damit meist auch der Veränderungen: Privatwirtschaftliche Unternehmen sind gewinnorientiert. Die öffentliche Verwaltung ist hingegen vor allem der Qualität und Rechtssicherheit ihrer Produkte verpflichtet.
ZOE: Wie kommt es denn, dass die öffentliche Verwaltung dabei als veränderungsträge wahrgenommen wird?
Dubbermann: Es stimmt ja, Veränderungen in der Verwaltung stoßen oftmals auf Widerstände. Das hat allerdings in aller Regel nichts mit persönlicher Verweigerungshaltung, mangelnder Motivation oder Unlust zu tun. Quelle von Widerstand ist oftmals die – berechtigte – Sorge um die Güte und Rechtssicherheit von Verwaltungsprodukten, also Bescheiden, Verfahren etc. Verwaltung ist dem Recht und Gesetz verpflichtet, insofern ist die Rechtssicherheit hier ein hohes Gut. Meiner Erfahrung nach sind die besagten Vorbehalte gegen Veränderung daher oft angebracht.
ZOE: Aber woher kommt denn üblicherweise der Anstoß für Veränderung?
Dubbermann: Antreiber für große Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung kommen oft aus dem politischen Raum und ergeben sich aus der jeweiligen politischen Agenda. Das sind schon zwei recht unterschiedliche Perspektiven. Beide haben aber ihre Berechtigung und Wichtigkeit: Die Politik als Antreiber, um auf gesellschaftliche Veränderungen zu reagieren, und die Verwaltung als Hüterin der rechtssicheren Umsetzbarkeit.
ZOE: Aber die Politik ist doch sicher nicht der einzige Treiber von Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung. Welche Rolle spielen einzelne, engagierte Führungskräfte?
Dubbermann: Im Einzelfall spielen sie eine große Rolle, zumal wenn sie noch eher neu an der jeweiligen Stelle sind, dann gibt es immer wieder Führungskräfte, die sich energisch für bestimmte Veränderungen einsetzen. Klar, dass sie sich dabei an den Rahmen ihrer rechtlichen Aufgabenstellung halten müssen, aber mit so einer Rahmensetzung haben es Führungskräfte ja in jeder anderen Organisation ebenso zu tun. Und dann gibt es natürlich noch eine dritte Gruppe, die Veränderungen anstößt. Man darf nicht vergessen, welchen Stellenwert Mitglieder für eine selbstverwaltete Verwaltung haben.
ZOE: An welche Art von Selbstverwaltung denkst Du dabei?
Dubbermann: Nehmen wir zum Beispiel die gesetzliche Sozialversicherung, in der ich lange tätig war. Dort spielen die Arbeitgeber und die Versichertengemeinschaft eine enorme Rolle, sie haben sehr wohl eigene Interessen. Die wollen z. B., dass ihre Beiträge nicht allzu sehr steigen bei trotzdem guten Leistungen.
ZOE: Anlässe für Veränderung in der öffentlichen Verwaltung gibt es also verschiedene. Welche Reaktionen erlebst Du denn bei den Menschen, die in der öffentlichen Verwaltung arbeiten, wenn es um umfassende Change-Prozesse geht?
Dubbermann: Grundsätzlich ist allen Beteiligten klar, dass die politischen Machtverhältnisse sich alle vier, fünf oder sechs Jahre ändern können und dass damit Prioritätenwechsel einhergehen – das bedeutet dann eben auch Veränderungen für die öffentliche Verwaltung. Das gibt schon mal ein Augenrollen, ist aber grundsätzlich akzeptiert. Das ist ja Normalität, wird aber schon mal als aufgepfropft und praxisfern erlebt.
ZOE: Und, stimmt das? Wie gut informiert sind denn politische Entscheidungsträger*innen über die Funktionsweise und Spannungsfelder in der öffentlichen Verwaltung?
Dubbermann: Die Verwaltung wird oft als bloß ausführende Hand der Politik verstanden, aber das greift zu kurz. Die Anliegen, die ich von den Menschen dort immer wieder höre, sind elementarer Bestanteil gelebter Rechtsstaatlichkeit.
ZOE: Welche Aspekte genau sind denn das, die seitens der politischen Veränderungstreiber mehr Berücksichtigung finden sollten?
Dubbermann: Von außen werden leicht die zahlreichen Zielkonflikte übersehen, mit denen es die Verwaltung zu tun hat. Diese Zielkonflikte sind kein Unfall, sondern normal und notwendig. Nehmen wir zum Beispiel ein Digitalisierungsprojekt, wie es gerade viel vorkommt. Eines der wichtigsten Ziele ist dabei zunächst die Steigerung von Effektivität oder Effizienz. Dem gegenüber steht dann aber ein Ziel wie Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit.
ZOE: Das klingt vielleicht paradox – gehen Effizienz, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nicht in die gleiche Richtung?
Dubbermann: Nicht unbedingt. Neue IT-Lösungen versprechen mittel- und langfristig eine höhere Effizienz, also kostengünstigere Leistungen. Das Problem: Kurzfristig führen sie zu erheblichen Mehrkosten und einem Rückgang der Leistungen. Das steht im Widerspruch zur Sparsamkeit, die eher kurzfristig betrachtet wird. Man denkt in öffentlichen Verwaltungen weniger in Kategorien von «Return on Investment nach X Jahren», sondern achtet auf Haushaltsdisziplin, darauf, dass jährliche Budgets nicht überschritten werden. Das sind die Maßstäbe, und die werden im Grunde genommen durch einen gewissen Rechtsrahmen vorgegeben, je nachdem welches Finanzierungssystem vorliegt.
ZOE: Welche Finanzierungssysteme hast Du da im Sinn?
Dubbermann: Was einem als erstes in den Sinn kommt, sind natürlich Steuergelder. Die öffentliche Verwaltung hat es aber auch mit Beitragsgeldern von Mitgliedern zu tun, zum Beispiel in der Sozialversicherung. Und über diese Mittel dürfen Verwaltungen eben nur nach klaren rechtlichen Vorgaben verfügen. Hier wie da gilt: Die Betrachtungsweise ist häufig sehr periodenbezogen. Und aus dieser Perspektive sind Maßnahmen zur langfristigen Effizienzsteigerung für die aktuelle Finanzierungsperiode erst mal ein Rückschritt. Insofern stellen Effizienzsteigerungen und Sparsamkeit durchaus einen Zielkonflikt dar.
ZOE: Welche anderen typischen Zielkonflikte begegnen Dir in Veränderungsvorhaben in der öffentlichen Verwaltung?
Dubbermann: Nehmen wir als Beispiel das Spannungsverhältnis von Mitsprache und Effizienz. Einerseits haben wir zunehmend verbriefte Verpflichtungen zur Bürgerbeteiligung, man denke zum Beispiel an größere Baumaßnahmen im öffentlichen Raum. Das Thema Mitsprache betrifft aber genauso die Beteiligung des eigenen Personals aus personalvertretungsrechtlichen Gründen. Diese Formen der Beteiligung sind heute immer wichtiger – und sie werden aufwändiger. Dann wird schnell klar, dass Beteiligung Zeit und Geld kostet. Insofern hat die öffentliche Verwaltung mit einem Zielkonflikt zwischen Mitsprache und Effizienz zu tun, dem sie nicht entrinnen kann.
ZOE: Wenn ich es richtig verstehe, gab es diese Zielkonflikte schon immer. Es klingt so, als hätten sie aber in den letzten Jahren an Schärfe zugenommen.
Dubbermann: Das stimmt. Zielkonflikte gab es schon immer, aber die Schere geht weiter auf. Die Anforderungen an Verwaltung nehmen zu, der Wirtschaftlichkeitsdruck nimmt zu. Wir haben es heute mit mehr Regeln, einer höheren Komplexität und größerem Zeitdruck für Verwaltungsprozesse zu tun.
ZOE: Ich würde gerne auf die Digitalisierung zurückkommen, das dürfte ja eine der größten Umwälzungen in der öffentlichen Verwaltung nach sich ziehen. Wie steht es mit der Veränderungsbereitschaft in der öffentlichen Verwaltung in Digitalisierungsprojekten?
Dubbermann: Ein zentraler Zielkonflikt bei der Digitalisierung betrifft das Verhältnis von Komplexität und Standardisierung: Verwaltungen sind ja wie gesagt der Umsetzung von Recht und Gesetz verpflichtet. Das zugehörige Rechtssystem für öffentliche Verwaltung ist im Laufe der Zeit viel umfassender, viel komplexer geworden. Das macht es zunehmend schwieriger, ein rechtssicheres Produkt herzustellen. Gleichzeitig versucht man mit der Einführung von Software solche Produkte und die dahinterliegenden Prozesse zu standardisieren und zu vereinfachen. Im Idealfall sollten dafür natürlich bestehende Software-Lösungen zum Einsatz kommen. Solange es um klassische Querschnittsprozesse wie Human Resources oder Finance, Controlling geht, funktioniert das auch noch einigermaßen. Hier sind die Ähnlichkeiten zwischen der Unternehmenswelt und der öffentlichen Verwaltung groß genug, dass die ursprünglich für den Konzern-Kontext angebotenen Software-Pakete dann auch für den öffentlichen Verwaltungsapparat funktionieren. Ganz anders sieht es allerdings aus, wenn es um einen Leistungsbescheid in einer Krankenkasse geht oder eine Baugenehmigung zu modellieren ist. Das ist mit Standard-Software praktisch nicht mehr möglich, und dann gibt es im Grunde genommen keine Muster mehr. Kann gut sein, dass sich da künftig mehr Standard-Software-Pakete herausbilden, aber bislang ist der Anspruch an Standardisierung angesichts der Komplexität der Anforderungen kaum umsetzbar.
ZOE: Als jemand, der anspruchsvolle Veränderungen in der öffentlichen Verwaltung kennt: Welchen Ratschlag hättest Du an die dortigen Führungskräfte?
Dubbermann: Das Zielsystem der öffentlichen Verwaltung insgesamt im Blick zu haben, sich über die immanenten Zielkonflikte im Klaren zu sein. Und das möglichst schon bevor der eigentliche Change-Prozesse beginnt. Erfahrungsgemäß gelingt das am besten, wenn Führungskräfte bereits früh im Prozess dafür sorgen, dass die verschiedenen Beteiligten an einen Tisch kommen und mögliche Zielkonflikte ausloten – gemeinsam mit Mitarbeitenden und mit Hilfe externer Beraterinnen und Berater.
ZOE: Und wenn Du den Mitarbeitenden, die von größeren Veränderungsprozessen in der öffentlichen Verwaltung betroffen sind, einen Wunsch mit auf den Weg geben könntest?
Dubbermann: Mitarbeitende möchte ich gerne ermutigen, ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse, ihre Interessen, ihre Ziele in solche Prozesse einzubringen. Auf eine möglichst produktive Art und das heißt oftmals rechtzeitig. Ziel sollte sein, gar nicht erst in die Verlegenheit zu kommen, sich auf eine Verweigerungshaltung, Abwehrhaltung oder Augenrollen zu beschränken, sondern alle Gelegenheiten zur konstruktiven Mitgestaltung zu nutzen. Denn diese Möglichkeiten sind ja in aller Regel gegeben, zum Glück. Es gibt da ein starkes Personalvertretungsrecht und klare Tarifverträge, die schaffen die sichere Basis für Mitspracherechte, und die sollten Mitarbeitende aktiv nutzen. Das beinhaltet auch, das Gespräch mit Führungskräften zu suchen.
ZOE: Und schließlich die Beratenden – was sollten die bei Change-Prozessen in der öffentlichen Verwaltung besonders beherzigen?
Dubbermann: Externe Beratung spielt bei manchen Projekten eine immer größere Rolle, Stichwort Digitalisierung. Gerade Beraterinnen und Beratern in der Fachberatung, also z. B. bei externer IT-Expertise, würde ich immer mitgeben: Macht Euch ein differenziertes Bild der Situation und schaut Euch die Zielsysteme in ihrer Komplexität an. Geht dabei nicht davon aus, dass Eure in der Unternehmenswelt geprägten Annahmen einfach eins-zu-eins auf die öffentliche Verwaltung übertragbar sind.
ZOE: Wo muss ich als Berater*in denn hinschauen, um etwas über die relevanten Zielsysteme zu erfahren?
Dubbermann: Zunächst stelle ich als Berater*in sicher, dass alle betroffenen Mitarbeitenden im Projekt einbezogen werden. Dass all das relevante Praxiswissen an Bord ist und in der Projektgruppe abgebildet werden kann. Dazu genügt es nicht, sich auf die formellen und technischen Vorgaben zu beschränken. Notwendig sind immer separate Befragungen der Anwender*innen, aber auch systematische Alltagsbeobachtungen: Wie laufen die Arbeitsschritte im Alltag tatsächlich ab? Hieraus lässt sich dann ableiten, welche Kalküle und Ziele die Beteiligten tatsächlich heranziehen. Das kann auch mal heißen, widerstreitende Ziele zu erkennen und diesen in der Projektgruppe eine Stimme zu geben.
ZOE: Zu guter Letzt: Du warst jahrelang Führungskraft in der öffentlichen Verwaltung, warst stellvertretender Behördenleiter und Dezernatsleiter und hattest mit zahlreichen größeren Veränderungsprojekten zu tun. Gibt es etwas, was Du an Deiner Zeit in der Verwaltung vermisst? Oder eine Botschaft, die Du damals gerne gekannt hättest?
Dubbermann: Was mir immer viel Freude an der Arbeit in der öffentlichen Verwaltung gemacht hat, ist Verantwortung zu haben und einen besonderen Beitrag zu leisten für das Gelingen von gesellschaftlichem Zusammenleben. Noch nicht so klar wie heute war mir, wie wichtig ein positives Menschenbild und wertschätzender Umgang in der Arbeitswelt und speziell für meine eigene Zufriedenheit sind.
Torsten Dubbermann
Dubbermann | Coaching & Mediation
Marcus Quinlivan
Partner und CEO denkmodell GmbH