Gehirngerecht Arbeiten

Hin zu einer Kultur der Konzentration

Eine umfassende Studie zu Fragmentierung im Büroalltag belegt eindrucksvoll, wie viel Zeit Beschäftigte tatsächlich durch Unterbrechungen und Multitasking verlieren. Maßnahmen des The-Focused-Company-Modells (TFC) können eine Antwort darauf liefern und sollten als kollektive Prinzipien in Organisationen verankert werden, um wirksam zu werden.

In vielen Unternehmen ist der Alltag geprägt von Lärm in Großraumbüros, Fragmentierung, Multitasking, Informationsüberflutung, ineffizienten Meetings und einer Kultur der ständigen Erreichbarkeit. Drei Tage pro Monat kosten uns Arbeitsunterbrechungen, ermittelte nun die erste große Tagebuchstudie zu Fragmentierung im Büroalltag, die in 25 Unternehmen aus zwölf Branchen durchgeführt wurde (Starker et al, 2022). «Tagebuchstudie» bedeutet hier, dass die Befragten mittels einer App an drei Arbeitstagen gebeten wurden, mehrfach pro Tag mit kurzen Fragebögen bzw. Strichlisten alle Unterbrechungen zu registrieren.

Zusätzlich erleben wir einen Boom der Online-Meetings, wobei die Studienteilnehmenden unabhängig davon, ob die Meetings in Präsenz oder virtuell stattfinden, angaben, dass mindestens 35 Prozent aller Meetings irrelevant für sie waren. So verlieren wir zwei weitere Tage und kommen auf insgesamt fünf Tage Zeitverlust pro Monat. Gleichzeitig mehren sich die Rufe nach einer 42-Stunden-Woche, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Dabei wurden laut Statista in Deutschland 2021 bereits über 1,7 Mrd. Überstunden geleistet. Eine Verlängerung der Arbeitszeit wäre lediglich mehr desselben, und das Potenzial gehirngerechteren Arbeitens, das die Studie ermittelt hat, bliebe unbeachtet.

Die gute alte E-Mail führt die Liste der Arbeitsunterbrecher an, auch wenn alle an der Studie beteiligten Unternehmen einen hohen Digitalisierungsgrad aufweisen. Die im Schnitt gemessenen 15 Unterbrechungen pro Stunde führen zu einem Zeitverlust von drei vollen Tagen pro Monat, weil unser Gehirn nach jeder Unterbrechung eine Re-Fokussierungszeit braucht. Diese liegt bei einfachen Aufgaben bei 15 Prozent, um die sich die Bearbeitung einer Aufgabe verlängert, und bei komplexen Aufgaben bei bis zu 28 Prozent. Von den 15 gemessenen Unterbrechungen erfolgen neun durch äußere Störungen und sechs sind darauf zurückzuführen, dass wir uns selbst unterbrechen, z. B. indem wir ohne äußeren Anlass den E-Mail-Posteingang prüfen. Offenbar sind wir die Unterbrechungsimpulse derart gewöhnt, dass wir sie aktiv suchen, wenn sie von außen nicht erfolgen. Diese per Tagebuch gemessenen Arbeitsunterbrechungen lösen eine Belastung von 58 Mrd. Euro p. a. für deutsche Unternehmen aus.

Wir verbringen zu viel Zeit in Meetings, die wir nicht brauchen oder die unproduktiv sind. Die in der Tagebuchstudie als irrelevant eingeschätzten 35 Prozent der Meetings bedeuten zwei volle Tage verlorene Zeit pro Monat pro Beschäftigtem und kosten die deutschen Unternehmen weitere 56 Mrd. Euro p. a. Hybrides Arbeiten verschärft die Situation: Laut der Microsoft Trend Studie 2021 ist ein rasanter Anstieg der Online-Meetings um 148 Prozent zu verzeichnen. Da 62 Prozent davon nicht geplant werden, wird der Arbeitstag noch stärker fragmentiert.

Je mehr Technik, desto erschöpfter sind wir

In der Tagebuchstudie konnte ermittelt werden, dass bei höherem Digitalisierungsgrad die Multitasking- und Unterbrechungshäufigkeit höher ist und damit einhergehend das Stresserleben. Mit anderen Worten: Je mehr digitale Tools Beschäftigte verwenden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie durch diese Tools unterbrochen werden oder sich dazu verleiten lassen, mehrere Aufgaben parallel zu bearbeiten. Um die Informationsdichte und die Anforderungen zu bewältigen, schalten die meisten Beschäftigten in den Multitasking-Modus, um möglichst viel erledigt zu bekommen. Allerdings ist das menschliche Gehirn nicht dazu in der Lage, zwei oder mehr konzentrationsbedürftige Inhalte parallel zu bearbeiten. Auf der Strecke bleiben wichtige kognitive Kompetenzen wie Fehlererkennung oder Entscheidungsfindung sowie emotionale Ausgeglichenheit und Impulskontrolle. Die Folge: mehr Fehler und noch mehr Stress. Nach Schätzungen der BAuA entfallen jährlich 36,1 Mrd. Euro – das entsprach 2019 über ein Prozent des Bruttonationaleinkommens – auf stressbedingte Ausfallkosten. Mehr digitale Tools machen also nicht automatisch produktiver, sondern bergen die Gefahr, uns unproduktiver zu machen. In der Studie wurde deutlich, dass eine hohe Identifikation mit der Führungskraft eine stresssenkende Wirkung hat, allerdings stellten wir auch fest, dass der aus Fragmentierung und Multitasking resultierende Stress ein spezifischer Stress ist, der nicht über Identifikation und gute Führung kompensiert werden kann. Es braucht die Fragmentierung reduzierende Maßnahmen, um ihn zu minimieren. Dabei hat die Führungskraft natürlich eine Vorbildfunktion. Die Studie zeigt allerdings, dass Meeting-Intensität und Fragmentierung des Arbeitsalltags in der Hierarchie nach oben hin ansteigen.

Gehirngerechtes Arbeiten als Antwort

42,3 Prozent der Wertschöpfung in Deutschland sind laut Statista den wissensintensiven Dienstleistungen zuzuordnen. Die Fragmentierung der (Wissens-)Arbeit stellt daher ein ernstzunehmendes Problem dar, insbesondere wenn wir über Innovation und Kreativität sprechen. Im Gegensatz zu den individuell ausgerichteten Selbst- und Zeitmanagementansätzen der vergangenen zehn Jahre, die auf das Individuum zielten, sind nun systemisch-integrierte Ansätze nötig, da es in der vernetzten Arbeitswelt mit ihrer wechselseitigen Abhängigkeit (z. B. in der Projektarbeit), nicht mehr ausreicht, wenn Einzelne gut organisiert sind. Denn schon ein einziges Teammitglied kann durch unproduktives Zeit- und Arbeitsverhalten, wie das Senden von zu vielen E-Mails an zu große Verteiler, ständig verspätetes Eintreffen bei Meetings, Kalenderüberbuchung etc. viele andere Menschen in ihrer Produktivität stören. Daher braucht es kollektive Prinzipien, die systemisch wirken. Nachfolgend werden ausgewählte Maßnahmen des The-Focused-Company-Modells (TFC) vorgestellt, das Unternehmen ermöglicht, systematisch konzentriertes und fokussiertes Arbeiten einzuführen. Das Modell wird als Framework eingesetzt und adressiert die relevanten Handlungsfelder innerhalb eines Unternehmens, um spezifische Lösungen zu finden, Arbeit gehirngerechter und fokussierter zu gestalten. Das Vorgehen gemäß TFC-Modell umfasst zunächst eine Standortanalyse, der drei Remote Sprints zur Diskussion und Vereinbarung von Maßnahmen folgen. Der Weg zu einer Focused Company wird begleitet durch ein Prozesshandbuch sowie die Ausbildung von Führungskräften und internen Coaches zu «hybrid gehirngerechter Führung». Nach ca. 18 Monaten wird die Wirksamkeit gemessen und ggf. nachgesteuert.

Fokuszeit im gesamten Unternehmen

Kernmaßnahme von TFC ist die Einführung einer zweistündigen kollektiven Fokuszeit, in der die gesamte Belegschaft aller Hierarchieebenen des Unternehmens bis auf die notwendigsten Kommunikationskontakte ungestört und konzentriert arbeiten kann (Starker & Schneider, 2020). Die zu bearbeitenden Inhalte der Fokuszeit werden selbstbestimmt festgelegt, sodass automatisch das Selbstwirksamkeitserleben erhöht wird. Dieses geht oft verloren, wenn Beschäftigte den Arbeitstag komplett fremdbestimmt verbringen müssen. Die Fokuszeit sollte idealerweise auf den Vormittag gelegt werden, weil dann der Cortisolspiegel in der Regel am höchsten ist. Studien bestätigen, dass Beschäftigte versuchen, in Meetings ihre Aufgaben abzuarbeiten, wenn längere Treffen am Vormittag keinen Raum für Konzentration lassen (Cao et. al, 2021). Diese Meetings sind daher deutlich unproduktiver. Wenn Beschäftigten und Führungskräften hingegen die Möglichkeit eingeräumt wird, ihre konzentrationsbedürftigen Aufgaben am Vormittag ungestört zu erledigen, bekommt der Tag eine stressfreiere Dynamik (Busch, 2021).

Fokussierter Einsatz digitaler Tools

Es ist nicht die Menge an Tools, die uns produktiv macht – im Gegenteil. Im Rahmen des TFC-Modells wird ein zielgerichteter und intelligenter Einsatz von Technik angestrebt. Gleichzeitig wird festgelegt, über welche Kanäle synchrone bzw. asynchrone Kommunikation geführt wird. Da dies unternehmensspezifisch ist, gibt es keine Blaupause. Jedes Unternehmen findet über die Anwendung des TFC-Modells als Framework eigene Lösungen.

Radikale Meeting-Inventur

Meeting- und E-Mail-Overflow haben viele Firmen längst als Problem erkannt und reflexhaft mit Regeln darauf reagiert: E-Mail-Regeln, Slack-Regeln, Meeting-Regeln etc. Hinterfragt man deren Wirksamkeit, erntet man allerdings Kopfschütteln. Unnötige Meetings frustrieren und demotivieren; umgekehrt zeigen Studien (Kauffeld & Lehmann-Willenbrock, 2012), dass eine hohe Effizienz von Meetings mit Unternehmenserfolgen korreliert. Um Meetings, insbesondere im hybriden Arbeiten, effizienter zu gestalten, braucht es eine kollektive Meeting-Inventur im gesamten Unternehmen. Das lässt sich nicht über Meeting-Regeln lösen, sondern nur über den unternehmerischen Entschluss, Wertschöpfung insgesamt fokussierter zu gestalten, denn die Meeting-Problematik liegt auf der Symptom- und nicht auf der Ursachenebene. Ob Meetings effizient durchgeführt werden, darf künftig nicht mehr dem Zufall oder den Kompetenzen Einzelner überlassen werden; ein unternehmensweites funktionsorientiertes Verständnis von Meetings ist unerlässlich und zentrale Führungsaufgabe.

Fokussierung der Initiativen

Viele Unternehmen starten mehrere Veränderungsprozesse parallel, wie z. B. Leitbildprozesse, agile Führung, New Work, digitale Transformation, Werteprozesse, betriebliches Gesundheitsmanagement, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig gibt es operative Initiativen, die isoliert davon ablaufen, u. a. in Vertrieb und Marketing. Das alles spaltet den Fokus und nimmt Energie, zumal diese Prozesse oft nicht in ein strategisches Gesamtkonzept integriert sind. Eine deutliche Reduzierung und Fokussierung der strategischen Initiativen, die in die Unternehmensstrategie übernommen werden müssen, lässt einen roten Faden entstehen und erhöht die Umsetzungswahrscheinlichkeit.

Neue Wertschätzungsanker

Überstunden machen, keine Pausen nehmen, ständig erreichbar sein und eine hohe (Meeting)-Präsenz – das wird von vielen Führungskräften als Engagement wahrgenommen und entsprechend wertgeschätzt. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist das Gegenteil förderlich. Um eine hohe Produktivität, Kreativität und Innovationskraft zu fördern, sollten Führungskräfte die Grundmechanismen von gehirngerechter Führung kennen, die ebenfalls im TFC-Prozess vermittelt werden. Wertzuschätzen, wenn jemand regelmäßig seine Pausen nimmt, so effizient und effektiv arbeitet, dass selten Überstunden notwendig sind, und im Urlaub abschaltet, lässt eine Kultur entstehen, in der konzentriertes, produktives Arbeiten wichtiger ist als ständige Erreichbarkeit – und in der eine hohe Leistungsfähigkeit entsteht (Sonnentag, Venz & Casper, 2017).

Fazit

Arbeiten im digitalen Zeitalter muss gehirngerecht gestaltet werden. Hier setzt das TFC-Modell an, indem es in einem zeitlich sehr komprimierten Remote-Prozess eingeführt und maßgeblich autonom durch das Unternehmen gesteuert wird. Ausgangspunkt ist eine digitale Standortbestimmung, um die Veränderungserfolge gezielt messen zu können. Durch die sofortige Einführung der Fokuszeit wird die Veränderung unmittelbar für jeden positiv erlebbar, was erfahrungsgemäß dazu führt, dass der zu beobachtende Kulturwandel nicht mehrere Jahre dauert, sondern schon nach dem Durchlaufen des Prozesses erreicht wird.

 

 

Vera Starker
MBA, Wirtschaftspsychologin, Autorin und Co-Founderin des Berliner Think Tanks Next Work Innovation

Dr. Eva Bracht
Beraterin, Netzwert Partner GmbH

Dr. Katharina Roos
Expertin für Unternehmensbefragungen, Geschäftsführerin Netztwert Partner GmbH

Prof. Dr. Rolf van Dick
Professor für Sozialpsychologie, Wissenschaftlicher Direktor des «Center for Leadership and Behavior in Organizations» (CLBO) und Vizepräsident an der Goethe Universität Frankfurt

 

Literatur

• Busch, V. (2021). Kopf frei. Wie Sie Klarheit, Konzentration und Kreativität gewinnen, 153-154.
• Cao et. al (2021). Large Scale Analysis of Multitasking Behavior During Remote Meetings, Proceedings of the 2021 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems.
• Kauffeld, S. & Lehmann-Willenbrock, N. (2012). Meetings Matter: Effects of Team Meetings on Team and Organizational Success, Small Group Research, 43(2), 130-158.
• Sonnentag, S., Venz, L. & Casper, A. (2017). Advances in recovery research: What have we learned? What should be done next? Journal of Occupational Health Psychology, 22(3), 365-380.
• Starker et. al (2022). Kosten von Arbeitsunterbrechungen für deutsche Unternehmen. Auswirkungen von Fragmentierung auf Produktivität und Stressentwicklung. Wissenschaftlicher Beirat der Studie: Prof. Dr. Volker Busch und Prof. Dr. Rolf van Dick.
• Starker, V. & Schneider, M. (2020). Endlich wieder konzentriert arbeiten! Wertschöpfung im digitalen Zeitalter wirklich, wirklich neu denken. The Focused Company. New Work-Book für Unternehmen, Rossberg.


Aus Ausgabe Nr. 4/22: Die Nächsten, bitte – Millennials als Change-Treiber

Vier Generationen arbeiten derzeit in Organisationen zusammen. Deren unterschiedliche Arbeitsweisen und Einstellungen werden an vielen Stellen sichtbar und führen mitunter zu Spannungen. Die spürbar veränderte Lebens- und Arbeitseinstellung der Millennials fungiert dabei als Change-Treiber und zeigt nicht nur das Potenzial, Arbeitskulturen zu verändern, sondern auch gesellschaftliche Wandelprozesse anzustoßen.

In dieser Ausgabe der ZOE beleuchten wir u. a. mit Generationenforscher*innen und weiteren Expert*innen aus unterschiedlichsten Bereichen, welche Vorstellungen von Arbeit und Leben die Jüngeren prägen sowie was sich daraus jetzt schon an Veränderungen für Organisationen abzeichnet. Zugleich suchen wir organisationale Antworten darauf, wie diese Generation mit ihren Talenten in den Arbeitsprozess integriert werden kann, damit sie ihr volles Potenzial entfalten und die anstehenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Transformationen meistern kann.