Next Generation Leadership

Abkehr von unzeitgemäßen Führungsmythen

Ein Gespenst geht um in deutschen Führungsetagen: Generationenwechsel. Es steigt eine Altersgruppe in Führungspositionen auf, die so ganz anders zu sein scheint als die (noch) dominierenden Baby Boomer. Unsere Erfahrung – gerade an der Unternehmensspitze – zeigt, dass «das Problem» aber oft nicht die nun nachfolgende Generation X/Y von Führungskräften ist. Es ist vielmehr die Generation der Baby Boomer, die sich jetzt selbst transformieren muss. Denn diese Generation ist es, die geprägt von alten Mythen der Führung – unhinterfragten Erfolgsmodellen – ihren Weg bis ganz nach oben gemacht hat.

Der Befund ist beunruhigend: Deutschland droht mit dem Generationenwechsel eine «Führungslücke» – ein Auseinanderklaffen des Bedarfs an Führung und der Bereitschaft zur Führung. Mit jüngeren Vertreter*innen der Generation X (Jg. 1965-1979) und der Generation Y (Jg. 1980-2001) steigen Mitglieder von Alterskohorten in Führungspositionen auf, die an ihrer Rolle als Führungskraft (ver-)zweifeln.

Generation Y – die Führungsmüden?

Die Bertelsmann Stiftung hat in ihrem Führungskräfte Radar 2020 eine Diagnose gestellt, die die Führungsspitzen vieler Deutscher Unternehmen beunruhigen sollte: 43,8 Prozent aller Führungskräfte der Generation Y haben Zweifel an der eigenen Führungsrolle (Abbildung 1). Dieser Zweifel ist Ausdruck tiefer Unsicherheit: Werde ich meinen eigenen Ansprüchen an Führung gerecht? Kann ich nicht als Geführte/r statt als Führende/r mehr beitragen? Bin ich sicher, dass mir Führung liegt? Empfinde ich meine Führungsverantwortung als Belastung? Viele der Jüngeren beantworten diese Fragen für sich negativ. Auch das Manager Barometer 2020-2021 der Personalberatung Odgers Berndtson zeigt kritische Befunde: Besonders stark rückläufig gegenüber den Vorjahren sind für die Generation Y Motivatoren wie «Freude an der Führungsarbeit» (45,6%; –5,1 pP) und «Einflussnahme/Gestaltungswille/Macht» (31,3%; – 14,4 pP).

Die Bertelsmann-Studie konstatiert, dass das Bild von Führungskräften, die einfach «stark» zu sein und «Druck standzuhalten» haben, nicht mehr zeitgemäß sei. Und warnt vor «Führungsmüdigkeit»: Zu viele jüngere Führungskräfte könnte ihr Zweifel dazu bewegen, prominenten Vorbildern nachzueifern – und «einfach aussteigen». Dies hat auch organisationale Ursachen wie mangelnde Klarheit in der Unternehmensstrategie und in den spezifischen Zielen bzw. Aufgaben der jungen Führungskräfte: komplexe operative Prozesse, die als Bürokratie empfunden werden; eine mangelnde Balance zwischen der geforderten hohen Identifikation mit dem Unternehmen und der persönlichen Work-Life-Balance. Und offenbar gelingt es oberen Führungskräften der Generation Baby Boomer und älterer Vertreter*innen der Generation X nicht, gelebte Werte und eine vertrauensvolle, wertschätzende Unternehmenskultur zu schaffen, die Sinnhaftigkeit der (Führungs-) Aufgabe zu vermitteln und die jüngeren Führungskräfte entsprechend ihrer persönlichen Stärken und Begabungen einzusetzen und weiterzuentwickeln. Diese Diagnose mag auf den ersten Blick naheliegend erscheinen – aber sie greift aus unserer Sicht zu kurz.

Die Frage der Verantwortung

Wir wagen eine deutlich radikalere Hypothese: Es herrscht ein eklatanter Mangel an positiven Vorbildern für das, was zeitgemäßes Führen heute bedeuten muss – gerade an der Unternehmensspitze. Das Phänomen der Führungsmüdigkeit ist nicht primär ein Problem der Generation Y. Im Gegenteil: Es sind die Baby Boomer und ältere Vertreter*innen der Generation X – gerade jene in Spitzenpositionen – die trotz aller Lippenbekenntnisse zu neuen Führungs-«techniken» und «New Work» noch zu oft ein überholtes Verständnis von Führung vorleben. Die Klage über die vermeintlich übertriebene Sinnsuche, Selbstbezogenheit, mangelnde Leistungsbereitschaft und geringe Resilienz der «Snowflakes» ist de facto Ausdruck einer Arbeitsverweigerung der Baby Boomer. Denn ihre adaptive Aufgabe wäre es, selbstreflektiv eigene Erfolgsmodelle fundamental in Frage zu stellen und sich persönlich zu inspirierenden Rollenvorbildern für die nachfolgenden Generationen weiterzuentwickeln. Nur so können «Next Generation Leaders» Führungs-Kraft entwickeln, um Deutschlands Unternehmen erfolgreich in die Zukunft zu navigieren. Die Generation der heute (noch) führenden Baby Boomer ist in der Pflicht zur «Selbst-Transformation» – und zur Überwindung ihrer überkommenen Mythen der Führung.

Die Baby Boomer und ihre Mythen

Welche Erfahrungen und Glaubenssätze haben die Baby Boomer geprägt, die heute die Top-Etagen der deutschen Wirtschaft bestimmen? Was haben diese Manager*innen während ihres Aufstiegs an die Führungsspitze in den 1990er und 2000er Jahren verinnerlicht? Der geistige Vater erfolgreichen Managements dieser Zeit war der im März 2020 verstorbene Jack Welch. Welch war 1981 bis 2001 Vorstandsvorsitzender des US-amerikanischen Industriegiganten General Electric. Er war der wirkmächtigste jener heroischen CEOs der 1980er und 1990er Jahre, die wie Popstars gefeiert wurden. Seine Überzeugung: «Business is a game, and winning that game is a total blast.» Für ihn, so schreiben Thomas Gryta und Ted Mann in ihrem Buch «Lights Out», «confrontation was his steady state». Der kometenhafte Aufstieg von GE nährte Jack Welchs Nimbus: Von 1980 bis 2000 stieg der Aktienkurs um mehr als das Vierzigfache. Selbst nach dem beispiellosen Absturz von GE blieb der Einfluss von Welchs Gedankengut ungebrochen – bis heute. Er war eine Heldenfigur – Führungskräfte unterschiedlichster Unternehmen pilgerten zum GE Training Center nach Crotonville, um zumindest ein wenig teilzuhaben an den berühmt-berüchtigten internen Trainings. Es begegnen uns bei vielen Klienten Top Manager*innen, die – so Ex-GE-ler selbstironisch – «in Crotonville gechipt worden sind»: Sie haben das Managen in schnellen Routinen, das Siegen, das Heldenhafte, das vermeintlich Angstfreie und das rationale Managen zutiefst verinnerlicht. Management nach den Methoden von GE definiert für viele Führungskräfte noch immer den Goldstandard. Diese Generation, die in den 1980er und 1990er Jahren studierte und ihre ersten Schritte ins Management machte, steht heute – über 30 Jahre später – an der Spitze vieler Unternehmen. Ist das nicht übertrieben? Nein, ist es nicht. In unseren Beratungsprozessen können wir immer wieder die gleichen Dynamiken und Verhaltensweisen in Vorständen und Geschäftsführungen beobachten, die sich als wiederkehrende typische Muster gezeigt haben. Diesen Mustern sind wir intensiver auf den Grund gegangen und haben in zahlreichen Gesprächen die dahinterliegenden Glaubenssätze erforscht. Die eindeutigsten Muster, die wir bei der Mehrzahl heutiger Top-Manager*innen wiederfanden, haben wir zu sieben Mythen verdichtet. Sie stellen in der Essenz das nach wie vor herrschende Führungsverständnis im Top Management dar. Diese «Mythen der Führung», denen zu viele Manager*innen unwillkürlich folgen, gelten nach wie vor als die Erfolgswährung in den Führungsetagen der Wirtschaft und sind Garanten einer erfolgreichen Karriere. Mythen sind dabei keineswegs neurotische Gebilde, sondern Schutzschilde gegen eine ungeschützt nicht zu ertragende Realität. Je komplexer die Welt, desto mehr halten viele Manager*innen an unhinterfragten Glaubenssätzen fest, die ihr Selbst-Narrativ stabilisieren. Aber unser Befund ist eindeutig: Diese Mythen der Führung sind gefährlich. Sie bringen dysfunktionale Verhaltensmuster hervor. So geben die Top Manager-Generation der Baby Boomer und manche ältere Vertreter*innen der Generation X ein nicht mehr zeitgemäßes Vorbild für nachfolgende Führungsgenerationen. Schon John F. Kennedy erkannte die Gefahr von Mythen: «The great enemy of truth is very often not the lie – deliberate, contrived and dishonest – but the myth – persistent, persuasive and unrealistic. Too often we hold fast to the cliches of our forebears.»
Führungsmythen sind vielen Führungskräften zur unhinterfragten Wahrheit geworden. Denn sie bieten ein Versprechen für genau das, was Führende am meisten brauchen: ein Wirksamkeitsversprechen. Aber ein trügerisches – denn Mythen geben Führung einen limitierenden Rahmen vor. Mythen sind Denk-, Sprech- und Verhaltensgebote. Sie ersetzen die eigene aktive Denkarbeit und den produktiven Zweifel am eigenen Handeln.

Sieben Mythen der Führung als Erfolgswährung im Top Management

Um in einer sich radikal verändernden Welt wirksam zu sein, müssen heutige Top Manager*innen den Mut haben, die Mythen der Führung zu durchbrechen. Erst dann können sie Führung neu denken und gestalten. Welche Mythen also leiten die Generation heutiger Top Manager*innen? Und welche Folgen haben diese in der konkreten Führungsarbeit?

1. Der Aktions-Mythos
… mit der Devise «Im Zweifel handeln – sofort» verengt den Blick des Managers auf Probleme, die schnell mit seinen Routinen zu lösen sind. Unter ständigem Handlungsdruck löst er Probleme «technisch»: routiniert im Rahmen gewohnter Strukturen, Prozesse und Systeme. Immer dann aber, wenn adaptive Herausforderungen auftreten, wenn also tief verwurzelte Überzeugungen infrage gestellt werden müssen, greifen technische Lösungsroutinen zu kurz. Jede Konfliktsituation, jedes Veränderungsprojekt hat mit solchen adaptiven Herausforderungen zu kämpfen. Die Beteiligten müssen ihre Loyalitäten neu ausrichten, Verlustängste und Unsicherheiten überwinden, Einstellungen hinterfragen und neue Verhaltensweisen erlernen. Diese adaptiven Probleme nimmt der Manager im Aktionsmodus meist nicht wahr, weil sie außerhalb seines Fokus liegen – oder er interpretiert diese Probleme extrem verkürzt. Das am weitesten verbreitete Führungsversagen entsteht daraus, dass Führungsverantwortliche versuchen, «technische» Symptom-Lösungen auf «adaptive» Herausforderungen anzuwenden. Führen jenseits des Aktions-Mythos beginnt also nicht mit schnellem «Ent»-scheiden, sondern mit dem «Unter»-scheiden: Was sind die adaptiven Elemente eines Problems – und was sind seine technischen Elemente? Manager*innen müssen dem Impuls zu handeln widerstehen und mehr Zeit in die Problem-Diagnose und die angemessene Lösungsfindung investieren.

«Mythen bieten ein Versprechen für genau das, was Führende am meisten brauchen: ein Wirksamkeitsversprechen.»

2. Der Sieger-Mythos
… mit dem verbreiteten Credo «Ich muss gewinnen, immer» reduziert die Welt vieler Top Manager*innen auf zwei Sphären: «Ich Selbst» und «die Anderen». Trotz aller Bekenntnisse zu Teamplay und Zusammenarbeit denken viele Baby Boomer dichotomisch: Der Zweite ist der erste Verlierer. Manager*innen, die dem Sieger-Mythos folgen, haben sich im Laufe ihrer Karriere mit Energie, Entschlossenheit und Siegeswillen gegen alle
Konkurrenten durchgesetzt. Ihr Glaube, auch gegen ihre Teammitglieder gewinnen zu müssen, verhindert echte Kollaboration. Deshalb treffen wir in unserer Arbeit häufig auf dysfunktionale «Pseudo-Teams» an der Unternehmensspitze. Die kollektive Intelligenz der Manager*innen bleibt dabei weit hinter den Möglichkeiten zurück. Das sind keine Teams, sondern eine Gruppe von individualistischen Siegern. Hinzu kommt: Manager*innen, die dem Sieger-Mythos folgen, agieren im Mindset eines «endlichen Spiels». Das endliche Spiel hat den Sieg eines Spielers zum Ziel – es geht darum, «Erster» zu sein. Der Ehrgeiz richtet sich darauf, Meisterspieler zu sein, der immer gewinnt – ein Alleswisser («Know it all»). Wirtschaft aber ist ein «unendliches Spiel»: Es gibt keinen klaren Sieger. Wichtigstes Ziel ist, im Spiel zu bleiben. Ein Manager, der im Mindset eines unendlichen Spiels agiert, muss sich permanent an verändernde Bedingungen anpassen. Der unendliche Spieler ist daher ein Alleslerner («Learn it all»), der auf Unvorhergesehenes und Komplexität vorbereitet ist. Führen jenseits des Sieger-Mythos beginnt also mit einer Veränderung im Kopf: vom Alleswisser im endlichen Spiel zum Alleslerner und seinem besten Beitrag für das unendliche Spiel.

3. Der Antwort-Mythos
… mit der Devise «Ich muss die Antwort wissen» lässt Top Manager*innen glauben, dass stets schnell eine Antwort parat zu haben ein Zeichen von Führungskompetenz ist. Fragen zu stellen dagegen schadet der Reputation, ist ein Zeichen von Schwäche. Das gilt ganz besonders in den obersten Führungsebenen. Impression Management – den Eindruck der Unangreifbarkeit zu wahren – ist einer der Gründe, warum sich gerade dort dieser Mythos so hartnäckig hält. Das beliebte inquisitorische Fragen – gerne auch als «Challengen» verharmlost – ist das genaue Gegenteil von inspirierendem Fragen. Die Frage ist in diesem Fall oft kein Instrument der Führung, sondern der Über-Führung. Adaptive Fragen – transformativer oder reflexiver Natur – aber sind das entscheidende Instrument des Erfolgs in einer hochkomplexen Welt. Transformative Fragen zwingen zum «infrage stellen» der eigenen Werte, Denkroutinen und mentalen Modelle. Ziel ist, neue Fakten, Perspektiven und Interpretationen zu gewinnen und so neue Handlungsoptionen im strategischen «äußeren Spiel» am Markt zu erschließen. Reflexive Fragen hingegen, wie Edgar Schein sie versteht, zielen auf das «innere Spiel», nicht auf das WAS, sondern auf das WIE. Reflexives Fragen wird im Management noch weniger praktiziert als transformatives Fragen. Denn reflexive Fragen machen implizite, fundamentale Annahmen transparent und ziehen sie in Zweifel. Führen jenseits des Antwort-Mythos beginnt also mit der mutigen Entwicklung der großen adaptiven Fragen auf der Suche nach neuen Perspektiven.

4. Der Helden-Mythos
… mit der Devise «Ich muss selbstgewiss und überlegen auftreten» steigert die Selbstüberschätzung des eigenen Wissens, der eigenen Leistungsfähigkeit und Bedeutung. Die Versuchung, den eigenen Beitrag in der Lösung von Problemen zu überschätzen, ist groß an der Unternehmensspitze – und das hat Folgen. Weil viele Manager*innen systematisch den eigenen Erfolg oder die Qualität der eigenen Führungsarbeit überhöhen, ist es dringend notwendig, dass sie sich selbst hinterfragen. Doch genau das verhindert der Helden-Mythos, denn: Ein Held macht keine Fehler. Wenn Selbstbewusstsein in Selbstüberschätzung umschlägt, wird es zur Waffe gegen andere – aber letztendlich auch gegen sich selbst. Mitstreiter resignieren oder gehen auf Vermeidungskurs. Ein Vorstandsmitglied hat es so formuliert: «Ich werfe mich doch nicht vor den Zug – was glauben Sie was passiert, wenn ich meinem CEO widerspreche? Ich werde abgebügelt.» Demotivation und das Gefühl, nichts ändern zu können, wirken ansteckend. Die Folgen sind schnell konkret spürbar: Es wird einsam um den «Selbstüberschätzer». Weil er die kollektive Leistungsfähigkeit der Führungsmannschaft nicht nutzt und sich selbst zum Nadelöhr macht, steigt seine Arbeitslast – und so fühlt er sich noch unentbehrlicher und bestätigt. Es ist ein Teufelskreis. Führen jenseits des Helden-Mythos beginnt also damit, Selbstüberschätzung zu vermeiden und einen «Beginners Mind» zu kultivieren: sich selbst als Lern-Experiment zu verstehen und aus der Komfortzone gehen – und Sinn über Ego zu stellen, um Followership für die Sache, nicht die eigene Person zu schaffen.

5. Der Angst-Mythos
… mit der Devise «Ich kenne keine Angst» ist der hinterhältigste unter den Führungsmythen. Denn jeder Mensch hat Ängste – und Manager*innen sind Menschen. In der Zwickmühle zwischen Mythos und Realität bleibt dem Manager scheinbar nur ein Ausweg: seine Ängste zu verdrängen. Manager*innen, die diesem Mythos folgen, haben ihre Ängste so «erfolgreich» aus ihrem Bewusstsein verbannt, dass sie überzeugt sind, über ihrer Angst zu stehen. Selbst dann, wenn diese Ängste für ihr Umfeld deutlich sichtbar sind – wie die Angst «nicht abzuliefern», die Angst vor Kontrollverlust, die Angst zu scheitern. Der Angst-Mythos lässt sie glauben, dass Ängste zuzulassen Schwäche bedeutet. Doch das Gegenteil ist der Fall: Wer tieferliegende Ängste unterdrückt, leugnet oder nicht anerkennt, schwächt nicht nur die eigene Führungsarbeit. Er schwächt auch die Organisation. Manager*innen mit verdrängten Ängsten erzeugen Kulturen der Angst. Risiken werden vermieden, Probleme werden vertuscht, Verantwortung wird gescheut oder permanent nach oben delegiert. Der implizite Verhaltenskodex lautet: Nur nicht den Chef verärgern und keine Fehler machen, um nicht Position und Anerkennung zu riskieren. Das Gegenmodell zur Angst-Kultur ist eine Kultur der psychologischen Sicherheit: eine Kultur, in der jeder offen seine Meinung sagen, Fehler zugeben und Fragen stellen darf – ohne Angst haben zu müssen, herabgewürdigt zu werden. In einer Kultur der psychologischen Sicherheit ist Offenheit nicht nur erlaubt, sie wird erwartet. Führen jenseits des Angst-Mythos beginnt also damit, den eigenen Ängsten bewusst zu begegnen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und Distanz zu schaffen. Und die Angst als das zu entdecken, was sie auch sein kann: ein Lehrer – oder wie Gerald Hüther es formuliert, ein «großer Modellierer».

6. Der Mythos der starken Hand
… mit der Devise «Ich darf keine Schwäche zeigen» perpetuiert das klassische Bild der Führungskraft, die vorangeht, gerade in Zeiten der Unsicherheit. In solchen Zeiten, so der Glaubenssatz, vertrauen Mitarbeitende auf klare Führung: Sichtbare Stärke, Handlungswillen, Durchsetzungskraft und auch klare Dominanz sind gefordert. Verletzlichkeit wird zwar gerne als höchste Führungskompetenz gepredigt, aber tatsächlich gilt sie in der Druckkammer des Managements nicht als Erfolgswährung. «Daring Leaders» nennt Brené Brown jene Führungskräfte, die bereit sind, diesen Mythos zu durchbrechen und sich der verunsichernden Emotion der Verwundbarkeit bewusst zu stellen – «Führungskräfte, die etwas wagen». Diese gehen bewusst das Risiko ein, sich selbst als ganzer Mensch sichtbar und damit angreifbar zu machen. Sie legen die Rüstung der Unverwundbarkeit ab und signalisieren dem Gegenüber, von dessen Integrität und guten Absichten überzeugt zu sein. So wird Verwundbarkeit zum Treibsatz von Vertrauen, der wichtigsten Grundlage für jede Führungsarbeit – ganz besonders dort, wo Vertrauen besonders rar ist: in der Hochrisikozone an der Spitze von Unternehmen. Führen jenseits des Mythos der starken Hand beginnt damit, den eigenen Panzer der Unfehlbarkeit abzulegen – und sich den Zweifeln zu stellen, die damit verbunden sind. Das ist es, was in Zeiten von Ungewissheit, Komplexität und rasanter Veränderung dringend notwendig ist. Denn in diesen Zeiten ist nur eines sicher: Führende werden Fehler machen. Die Frage ist nicht ob, sondern wann.

«Der Heilige Gral des rationalen Managements existiert nicht.»

7. Der Mythos vom rationalen Manager
… mit der Devise «Emotionen sind nicht relevant» negiert eine biologische Tatsache: Menschen sind nicht «thinking machines, but feeling machines that think». So hat es Antonio Damasio, einer der Begründer der Neurowissenschaften, auf den Punkt gebracht. Manager*innen müssen anerkennen, dass ihre Emotionen weit mehr Einfluss auf ihre Ratio haben als umgekehrt. Das (Trug-)Bild jedoch, dass Manager*innen von sich selbst haben, ist, dass ihr eigenes Denksystem unabhängig von ihren Emotionen funktioniert. Noch immer klammert man sich an das Zerrbild, Manager*innen seien der Idealtypus des «homo oeconomicus», der rein rational nach objektiven Kosten- und Nutzen-Gesichtspunkten entscheidet. Und noch immer werden Management-Teams als rationale, regelbasierte Systeme betrachtet. Doch der Heilige Gral des rationalen Managements existiert nicht. Auch Manager*innen sind eben keine modellhaften «Econs», sondern «Humans» – wirkliche Menschen, die nicht rational sind und es auch gar nicht sein können. Es waren vor allem die Kognitionspsychologie und die Neurowissenschaften, die in den vergangenen 25 Jahren überzeugende Beweise dafür vorgelegt haben, dass Descartes irrte – und wir alle mit ihm: Nicht «weil ich denke, bin ich», sondern «auch weil ich fühle, bin ich». Führen jenseits des Mythos vom rationalen Manager beginnt damit, vom Bild des rationalen Selbst Abschied zu nehmen – nicht mit dem Ziel, den Emotionen die Kontrolle zu überlassen. Sondern mit dem Ziel, zu lernen, sich der eigenen Emotionen und der anderer bewusst zu werden, um diese wirksam managen zu können. Selbstbestimmt führen heißt zu erkennen, als Manager*in in einem permanenten Spannungsverhältnis zu leben – zwischen Emotio und Ratio.

«Es braucht Mut, sich von den eigenen Routinen in der Führung und von jedem einzelnen der Mythen zu verabschieden.»

Eine Revolution von oben

Es ist genau die heute an der Unternehmensspitze dominierende Generation – die Vorstände, Geschäftsführer*innen sowie HR- und Transformationsverantwortlichen –, die sich von den Mythen der Führung verabschieden und eine «Revolution von oben» vorantreiben muss, aber zu oft genau das Gegenteil tut. Natürlich ist die Arbeit an den oben genannten organisationalen Ursachen für die Führungsmüdigkeit der jüngeren Generationen unerlässlich. Hilfreich wären sicher auch die Institutionalisierung generationenübergreifender Reflexions- und Dialogformate wie zum Beispiel Reverse Mentoring. Entscheidend ist aus unserer Sicht aber die Entwicklung einer neuen Führungskultur im Top Management in Abkehr von den Mythen der Führung. Dies ist eine kollektive Aufgabe der Führungsspitzen – aber immer auch eine individuelle Aufgabe. Alles beginnt beim einzelnen Top Manager als Vorbild. Gerade sie werfen mit ihrem Verhalten einen Schatten in ihre Teams und in ihre gesamte Organisation – einen «Shadow of Leader». Manager*innen, die verantwortungsvoll handeln wollen, muss klar sein: Nicht nur ihre expliziten, bewussten Führungsimpulse, sondern alle im Alltag sichtbaren Verhaltensweisen prägen das Handeln auf den nächsten Führungsebenen. Für Manager*innen der Baby Boomer-Generation und älterer Vertreter*innen der Generation X bedeutet das, ihre Vorbildrolle bewusst wahrzunehmen, den eigenen Schatten zu reflektieren und alle Nebenwirkungen im Blick zu behalten. Doch auch wenn das Gros der Führungskräfte unbeirrt den Mythen der Führung folgt: Es gibt positive Beispiele. Vasant Narasimhan, CEO und – wie er sich selbst nennt – «unboss» des Pharmariesen Novartis, ist ein solches Beispiel. Oder Satya Nadella, CEO von Microsoft und einer der erfolgsreichsten Top Manager unserer Zeit. Er hat Microsoft in wenigen Jahren von einem strauchelnden Software-Dino zum globalen Marktführer in Cloud-basierten, AI-getriebenen Geschäftsmodellen transformiert. Nadella ist fast schon zur Ikone eines neuen Führungsstils geworden, der den Führungsmythen diametral entgegensteht. Sein Rezept? Bescheidenheit und Empathie als Person gepaart mit Unbescheidenheit im Anspruch an Innovation und Transformation im Unternehmen. Er setzt seine hohe Ambition mit leisen Tönen um und lenkt damit den Fokus auf die Sache statt auf seine Person.

 

Das macht Mut, ist aber zu wenig. Um Forderungen der nachwachsenden Führungskräftegenerationen zu bedienen und ein positives Vorbild für Führung zu sein, müssen Top Manager*innen konsequent an ihrer Führungshaltung und ihrem Führungsverhalten arbeiten. Drei Schritte haben sich in unserer Arbeit bewährt:
Schritt 1: Der Mythen-Check
«Confront the brutal facts» ist das oberste Gebot für die bewusste Abkehr von den Mythen. Das heißt, sich konsequent anhand konkreter Situationen im Führungsalltag die eigenen Denk- und Verhaltensroutinen vor Augen zu führen. Welche Glaubenssätze und typischen Denkroutinen treiben das eigene Führungsverhalten, gerade unter Druck? Ziel ist, sich anhand der sieben Mythen und ihrer Glaubenssätze die eigenen Routinen bewusst zu machen. Und das ist nicht nur eine Aufgabe für Führungskräfte – das ist auch eine permanente Aufgabe für die Arbeit als Coach: in der Selbstreflexion oder in der Arbeit zu zweit als Reflecting Team.
Schritt 2: Das Experimentieren
Die Unsicherheit auch unter Manager*innen ist groß. Das spüren wir täglich. So beklagte ein Vorstandsmitglied eines Finanzdienstleisters irritiert, wie sein Team auf seine Ideen zur Veränderung reagiert hat. Sein Ziel war es gewesen, eine Innovationszelle in der traditionellen Konzernwelt zu schaffen. Er hatte sich selbst und sein Team zum Vorreiter für neue, agile Führung gemacht – und erlebte die Verunsicherung seines Teams hautnah. Er wurde von seinen Führungskräften mit der harschen Frage konfrontiert: «Was ist denn dann noch unsere Aufgabe in der Führung, wenn wir unsere Expertise nicht mehr einbringen sollen und die Details anderen überlassen? Nur unsere Leute befähigen, Probleme aus dem Weg räumen und optimale Bedingungen für Erfolg schaffen? Das kann doch nicht alles sein!» Solche Bedenken sind kein Einzelfall – das Loslassen und die Abkehr von den Führungsmythen als Erfolgswährung sind ein schmerzlicher, aber lohnender Prozess (Abbildung 3). Diese bewusste Abkehr und die Überwindung der Mythen liefern damit zugleich ein Koordinatensystem für ein neues Führungsverständnis im Sinne von «Next Generation Leadership», um die anstehenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Herausforderungen zu meistern.
Schritt 3: Das Durchhalten
Sich von den Mythen loszusagen und der nachfolgenden Generation von Führungskräften ein Vorbild zu sein, ist ein schwieriger und langer Weg. Aber er lohnt sich. Auf den Punkt gebracht hat dies ein ehemaliger Klient, der uns kürzlich eine E-Mail schrieb. Er war gleich mehreren Mythen unbeirrt gefolgt und hatte durch kritische Selbstreflexion und Mut zum Experimentieren einen neuen Weg in seiner Führungsarbeit eingeschlagen: «Ja, ich habe es gewagt. Raus aus der Komfortzone und einen neuen Weg einschlagen. Wer jetzt aber denkt, das war nach zwei Monaten geschehen, der liegt vollkommen schief. Sowohl meine Führungsmannschaft, wie auch die Mitarbeiter fragten sich sichtlich «Was will er denn jetzt schon wieder?» Nach fast zwei Jahren intensiver Arbeit haben wir heute ein vollkommen neues Miteinander. Dies gilt für das tägliche Business, aber auch beim Blick nach vorne. Und gerade dieser wird heute sehr stark durch Mitarbeiter geprägt. Nach dem Motto «Können wir das mal ausprobieren?» Aber Vorsicht – nicht alle Vorgesetzten sind auf dem Weg der Erkenntnis schon so weit gelangt.»
Es braucht Mut, sich von den eigenen Routinen in der Führung und von jedem einzelnen der Mythen zu verabschieden. Und zugleich ermöglicht dieser Mut, sich als Führungskraft neu zu erfinden und der künftigen Generation von Top Manager*innen ein echtes Vorbild zu sein, nicht nur in der Führung, auch in der Veränderung.

 

Dr. Kai W. Dierke
Partner, DierkeHouben Leadership Advisors, Schweiz, und Lecturer an der HHL Leipzig Graduate School of Management

Dr. Anke Houben
Partner, DierkeHouben Leadership Advisors, Schweiz, Lecturer an der HHL Leipzig Graduate School of Management und Coach am INSEAD Global Leadership Centre

 

Literatur

• Dierke, K.W. & Houben, A. (2021). Die Sieben Mythen der Führung. Ein Neuanfang, DH Publishing.
• Dierke, K.W. & Houben, A. (2013). Gemeinsame Spitze. Wie Führung im Top-Team gelingt, Campus.
• Dierke & Houben. Der Führungs-Podcast. Überall wo es Podcasts gibt, kostenlos, donnerstags.
• Dierke, K.W. & Houben, A. (2016). Teaming an der Unternehmensspitze. Wirksam intervenieren in Top Management Teams, OrganisationsEntwicklung, Heft 1.
• Dierke, K.W., Houben, A., Winkler, B. & Meynhardt, T. (2014). Wie aus Alpha-Managern ein Team wird. Ein Expertengespräch mit Kai Dierke und Anke Houben über Coaching von Top-Management Teams, OrganisationsEntwicklung, Heft 4.
• Winkler, B. & Kets de Vries, M. (2013). Am Wendepunkt. Ein Expertengespräch mit Manfred Kets de Vries über die Veränderungskraft von Coaching, OrganisationsEntwicklung, Heft 3.


Aus Ausgabe Nr. 4/22: Die Nächsten, bitte – Millennials als Change-Treiber

Vier Generationen arbeiten derzeit in Organisationen zusammen. Deren unterschiedliche Arbeitsweisen und Einstellungen werden an vielen Stellen sichtbar und führen mitunter zu Spannungen. Die spürbar veränderte Lebens- und Arbeitseinstellung der Millennials fungiert dabei als Change-Treiber und zeigt nicht nur das Potenzial, Arbeitskulturen zu verändern, sondern auch gesellschaftliche Wandelprozesse anzustoßen.

In dieser Ausgabe der ZOE beleuchten wir u. a. mit Generationenforscher*innen und weiteren Expert*innen aus unterschiedlichsten Bereichen, welche Vorstellungen von Arbeit und Leben die Jüngeren prägen sowie was sich daraus jetzt schon an Veränderungen für Organisationen abzeichnet. Zugleich suchen wir organisationale Antworten darauf, wie diese Generation mit ihren Talenten in den Arbeitsprozess integriert werden kann, damit sie ihr volles Potenzial entfalten und die anstehenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Transformationen meistern kann.