Macht spielen

Mikropolitik gegen und für Geschlechtergerechtigkeit

Vor über 40 Jahren beschreibt Betty Harragan in ihrem Ratgeber «Games Mother never taught you. Spiele, die Mutter dir nie beibrachte» (1977) den Umgang mit männlichem Machtverhalten im Arbeitsleben als ernstes Spiel mit Regeln, die jeder Mensch beherrschen muss, der gewinnen will. Es ist dabei weder verharmlosend noch irreführend, von «Machtspielen» zu sprechen. Die Spielräume, die es zu nutzen gilt, haben nichts Verspieltes an sich, sondern sind Spiele im Sinn von Wettkämpfen, mit Gewinner*innen und Verlierer*innen. Das war damals so und ist heute immer noch so.

In Leitungsfunktionen haben wir es mit einem historisch relativ neuen Phänomen zu tun: der Konkurrenz zwischen Frauen und Männern um Positionen und Ressourcen. Lange Zeit waren Leitungsfunktionen für Frauen gänzlich tabu. Dann wurden sie zwar formal zugelassen, aber es war legitim, Frauen Führungsfähigkeiten abzusprechen. Erst seitdem Frauen gut ausgebildet sind und sich die gesellschaftlichen Werte hin zu mehr Egalität gewandelt haben, erscheint ihre geringe Teilhabe an Leitungspositionen als Skandal. Leitungspositionen sind in der Regel mit formalen Machtbefugnissen verknüpft. Jede Führungskraft macht jedoch die Erfahrung, dass Macht und Ohnmacht nahe beieinanderliegen, einem oft die Hände gebunden sind und formale Machtverhältnisse ausgehebelt werden.

Macht ist demnach nicht etwas, das Organisationsmitglieder haben, sondern etwas, das sie nach Maßgabe der Gegenmacht und der Widerstände, auf die sie treffen, in konkreten Situationen ausüben. Jedes Organisationsmitglied ist in ein Netzwerk von Beziehungen eingebunden, in dem es auf andere Mitglieder trifft, die alle mehr oder weniger zielstrebig mit dem Erwerb von Machtmitteln beschäftigt sind. Macht mag ungleich verteilt sein, aber sie ist immer verteilt.

Als Beziehungsphänomen wird Macht erst greifbar, wenn man die Ebene der Handlungen und damit der Machttaktiken betrachtet. Hier wird Macht konkret, sie wird aufgebaut, ausgebaut und genutzt, und dies ganz besonders auf Leitungsebenen. Auf der Handlungsebene wird der Aufbau und Einsatz von Macht als Mikropolitik bezeichnet. Mikropolitik heißt: Organisationsmitglieder bringen ihren Eigensinn ein und folgen nicht passiv der Unternehmenspolitik, sondern machen ihre eigene Innenpolitik oder «Tagespolitik». Die am Eigennutz orientierten Akteur*innen greifen auf eine umfangreiche Palette mikropolitischer Taktiken zurück: Informationen filtern, sich dumm stellen, Intrigen spinnen, aufs Abstellgleis schieben, eine Show abziehen, Sachzwänge schaffen, einschleimen, aussitzen, Seilschaften bilden. Oder wie es sachlicher in wissenschaftlichen Studien formuliert wird: Rationales Argumentieren, Hervorrufen von Begeisterung, einschmeichelndes Verhalten, Appelle an Loyalität und Freundschaft, Tauschgeschäfte, Koalitionsbildung, Druck und Rechtfertigungsstrategien. Solche Taktiken werden tagtäglich am Arbeitsplatz eingesetzt, ohne dass sie (immer) als solche erkannt werden. In der Perspektive von Macht und Mikropolitik sind Organisationen Arenen interessengeleiteter Interventionen und Aushandlungen.

Was bedeutet das für Frauen in Leitungsfunktionen? Zunächst handeln sie unter bestimmten Rahmenbedingungen, nämlich dass sie in der Regel gegenüber Männern in der Minderheit sind. Die Zahl der Frauen in Führungspositionen steigt langsam an, entspricht aber längst nicht ihrem Anteil an qualifizierten Arbeitskräften. Sie dringen als relativ «Neue» in eine klassische Männerdomäne ein, die lange, je nach Bereich und Branche, ohne Frauen ausgekommen ist und das auch nicht sonderlich bedauert hat. Die typische Führungskraft ist aber nicht nur zahlenmäßig meist ein Mann, sondern sie wird auch männlich stereotypisiert. D. h., männliche Stereotype wie Aktivität, Kompetenz, Durchsetzungsvermögen und Leistungsstreben überschneiden sich laut Studienergebnissen mit dem Bild vom idealen Manager, und zwar sehr stabil trotz neuer Anforderungen an «soft skills». Stereotyp maskuline Eigenschaften werden als erwünschter für einen guten Manager angesehen als stereotyp feminine Eigenschaften wie Empathie oder Beziehungsorientierung. Es herrscht nach wie vor das «think-manager-think-male-Phänomen».

Zwar wirken Geschlechterstereotype im Allgemeinen und das männliche Managerideal im Besonderen im modernen Gleichbehandlungs- und Führungsdiskurs ziemlich antiquiert, aber gerade deshalb müssen Frauen in Führungspositionen diese kennen und erkennen. Häufig werden die damit verbundenen Probleme nicht ernst genommen oder es wird versucht, mit Sachverstand und hervorragender Leistung von sich zu überzeugen. In der mikropolitischen Arena geht es aber nicht um Leistung, sondern um Eigeninteressen. Dies zu verschleiern und den Leistungsmythos aufrecht zu erhalten trägt dazu bei, dass Frauen häufig übermäßig viel Energie in ihre Leistung investieren, ohne dass sich der gewünschte Erfolg einstellt. Denn die neue Konkurrenz durch Frauen wird mit Hilfe von Stereotypisierungen abgewehrt. Direkter Ausschluss wäre heutzutage nicht mehr legitim. Der sog. interne Ausschluss von Frauen läuft subtil ab: Er bedeutet Ausschluss trotz Mitgliedschaft und zeigt sich beispielsweise darin, dass Frauen nicht über wichtige Dinge informiert werden. Informationen zurückzuhalten gehört zu den gängigen mikropolitischen Strategien. Oder die neue Kollegin wird nicht nach Feierabend mit in die Kneipe eingeladen, wo auch über Geschäftliches gesprochen wird. Auch sexualisierte Diskriminierung bedeutet Ausschluss durch Abwertung der professionellen Rolle der Frau. Solche Strategien nehmen möglicherweise in dem Maße zu, wie die Konkurrenz durch Frauen steigt. Deshalb sollten Frauen selbst mikropolitisch aktiv werden. Mikropolitik hat für Frauen aus dreierlei Gründen eine besondere Bedeutung: Erstens, Machtwille und Machtstreben sind nicht im weiblichen Geschlechterstereotyp enthalten, zweitens, die Minderheitenposition erfordert ein besonderes mikropolitisches Geschick, und drittens, etablierte Gruppierungen setzen ihrerseits Mikropolitik gegen die neue Konkurrenz ein, um ihre Machtpositionen zu sichern. Wenn Mikropolitik besagt, dass für alle Beteiligten Handlungsspielräume bestehen, sind Frauen keineswegs in der Opferrolle, sondern in der Lage, ins Geschehen einzugreifen und es gemäß ihren Zielen zu beeinflussen.

«Machtvoll» zu handeln heißt Optionen zu erkennen und zu nutzen sowie Taktiken zielgerichtet einzusetzen. Dies ist nicht der einzige Ansatz, um mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen, ist aber eine Möglichkeit, erfolgreich(er) in der mikropolitischen Arena zu agieren und sich nachhaltig innerhalb dieser Matrix aus Interessen, Koalitionen und Strategien zu platzieren.

Prof. Dr. Daniela Rastetter
Professorin für Personal und Gender an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg, Fachbereich Sozialökonomie

Literatur

• Cornils, D., Mucha, A. & Rastetter, D. (2014). Mikropolitisches Kompetenzmodell. Organisationsberatung, Supervision, Coaching, 21(1), 3-19.
• Krell, G., Rastetter, D. & Reichel, K. (2012) (Hg.). Geschlecht Macht Karriere in Organisationen. Analysen zur Chancengleichheit in Fach- und Führungspositionen. Edition sigma.
• Mucha, A. & Rastetter, D. (2012). Macht und Gender. Gruppendynamik und Organisationsberatung. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, 43(2), 173-188.
• Mucha, A. (2014). Die mikropolitische Situation von Frauen in technischen Berufen. Nomos.
• Neuberger, O. (2006). Mikropolitik und Moral in Organisationen. Herausforderung der Ordnung. Lucius + Lucius.
• Rastetter, D. & Jüngling, Ch. (2018). Frauen, Männer, Mikropolitik. Geschlecht und Macht in Organisationen. V&R.
• Schein, V. E., Mueller, R., Lituchy, T. & Liu, J. (1996). Think Manager – Think Male: A Global Phenomenon? Journal of Organisational Behavior, 17 (1), 33-41.


Aus Ausgabe Nr. 2/22: Macht und Wandel – Erfolgsfaktor Change Governance

Dass Organisationen keine trivialen Maschinen sind, bedeutet vor allem, dass ihr Wandel eben nicht detailliert planbar ist. Je umfassender der Change, umso weniger ist deshalb auch initial einschätzbar, welche Verschiebungen sich auf den Vorder- und Hinterbühnen der Macht ergeben. Ganz gleich, ob es sich um eine kulturorientierte Organisationsentwicklung, eine Post-Merger-Integration oder eine harte Restrukturierung handelt: Im Verlauf jedes tiefgreifenden Veränderungsprozesses tauchen ungeahnte Kräfte auf, die am Wandel zerren.

In dieser Ausgabe der ZOE geht es um die Frage, wie Change-Prozesse am besten in das Machtgefüge der Or­ga­nisation eingebettet werden. Wie man sie schützt und dafür sorgt, dass eine Alli­anz der Willigen bei den Mächtigen auch dann erhal­ten bleibt, wenn unpopuläre Entscheidungen gefällt werden müssen.