Nordstern ökologischer Wandel

Die Debatte darüber, ob Klimawandel existiert, ist abgeschlossen. Nun geht es darum, bei Staat und Wirtschaft Einigkeit über die notwendige Tiefe der damit verbundenen ökologischen Transformation herzustellen. Wo wir hier derzeit in Deutschland und Europa stehen und welche Anstrengungen aller es weiterhin bedarf, erläutert Prof. Dirk Messner, Präsident des Bundesumweltamts. Eins ist dabei schon jetzt klar: Die für eine lebenswerte Welt notwendige Veränderungsarbeit können wir nur gemeinsam leisten.

ZOE: Corona hat uns umwelttechnisch eine «Verschnaufpause» beschert, spätestens seit der sukzessiven Öffnung geht es wirtschaftlich wieder aufwärts und damit auch mit den Emissionen. Was haben wir aus Corona für nachhaltiges Wirtschaften gelernt?

Messner: Nach den Lockdowns während der Pandemie gingen die Emissionen in Deutschland, Europa und weltweit wieder nach oben. Wir haben noch sehr viel zu tun. Dennoch: im Vergleich zur Finanzkrise in 2008/09, hat sich einiges fundamental verändert. Während in ihrem Nachgang vor allem Wachstum, Wachstum, Wachstum propagiert und Klima- und Nachhaltigkeitsfragen ausgeblendet wurden, führen wir in Deutschland und auch Europa im Kontext der Pandemie nun eine ganz andere wirtschaftspolitische Debatte.

ZOE: Woran erkennen Sie das?

Messner: Wir haben am Umweltbundesamt 2020 über 120 Reports aus vielen Ländern ausgewertet, die sich damit beschäftigten, wie Unterstützungsprogramme aussehen sollten, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu bekämpfen. Das interessante Ergebnis: nahezu alle setzen auf Klimaschutzinvestitionen, grüne Infrastrukturen, Umbau zu Nachhaltigkeit. Green Recovery, also die Frage wie wir soziale, wirtschaftliche und ökologische Folgen der Corona-Krise adressieren, wurde zum neuen Mainstream. Grünes Wachstum kann einen nachhaltigen, widerstandsfähigen und klimaneutralen Wandel ermöglichen – und stellt langfristig den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für die kommenden Generationen sicher. Der European Green Deal steht für diese Neuorientierung. Hierüber besteht auf europäischer Ebene, aber auch global Einigkeit, was sich in Glasgow gezeigt hat. Man kann sagen, dass Klimaneutralität das neue Leitbild für eine weltwirtschaftliche Debatte ist. Nun geht es darum, dass Investitionen sich daran grundlegend ausrichten, das muss in den 2020er Jahren passieren. Derzeit kann man noch nicht von einer weltweiten ökologischen Transformation sprechen. Mit den tiefgreifenden, systemischen Veränderungen, die nötig sind, um wirklich Klimaneutralität zu erreichen, fangen wir gerade erst an.

ZOE: Unternehmen übernehmen ökologische Aspekte mittlerweile immer stärker in ihre Zielbilder und Strategien. Wie ernst ist es ihnen mit der Umsetzung?

Messner: Auch hier hat sich in der letzten Dekade viel getan. Nachhaltigkeit und damit verbundener ökologischer Wandel sind der neue Nordstern, an dem sich viele Unternehmen nicht nur orientieren, sondern diesem bereits folgen. Das ist auch bei den Unternehmen und Wirtschaftsverbänden angekommen. Die BDI-Studie «Klimapfade 2.0» aus dem letzten Jahr zeigt anschaulich, wie man in Deutschland Klimaneutralität erreichen kann und konkrete Szenarien, Pfade und Ziele formuliert. Wir streiten uns also nicht mehr über das «Ob», sondern sind uns einig hinsichtlich der notwendigen Tiefe der Veränderung, die wir nur gemeinsam erreichen können. Das zeigt sich auch bei der Stiftung KlimaWirtschaft: Sie produziert und kanalisiert ein großes Interesse einer steigenden Anzahl an Unternehmen, die wirtschaftliche Wertschöpfung und Nachhaltigkeit ganzheitlich verstehen und umsetzen wollen. Langfristig kann es nur darum gehen, Klimaschutz zum Geschäftsmodell und Klimaneutralität zu einem internationalen und exportfähigen Markenzeichen des Wirtschaftsstandorts Deutschland bzw. Europa zu machen.

«Langfristig kann es nur darum gehen, Klimaschutz zum Geschäftsmodell zu machen.»

ZOE: Wenn Unternehmen all das leisten können, wozu braucht es dann überhaupt noch den Staat?

Messner: Den Staat braucht es für die Rahmenbedingungen, damit unternehmerisches Handeln durch Nachhaltigkeit möglich wird. So hat die Bundesregierung 2021 einen CO2-Preis für Wärme und Verkehr eingeführt. Über diesen nationalen Emissionshandel erhält der Ausstoß von Treibhausgasen beim Heizen und Autofahren einen Preis. Investitionen in den Klimaschutz werden forciert. Die Bundesregierung reinvestiert die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung in Klimaschutzmaßnahmen oder entlastet die Bürgerinnen und Bürger. Ergänzt wird der CO2-Preis durch klimaorientierte Sektorpolitik: Aufbau von Ladeinfrastruktur im Verkehr, Standards für klimaneutrales Bauen, Regeln für klimaschonende Landwirtschaft. Ein weiteres Beispiel ist die Kreislaufwirtschaft, also Produktion und Verbrauch, bei dem bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden. Diese muss mit der gleichen Wucht vorangetrieben werden wie Klimaneutralität. Da brauchen wir Anreize: technische Standards, um Zirkularität zu vereinfachen, Bepreisung von Ressourcenverbräuchen oder Forschung, um Innovationen zu stärken. In der zirkulären Wirtschaft ist noch sehr viel zu tun. Zudem bedarf es Schutzzonen für Biodiversität, damit die Ökosysteme als «Netzwerke des Lebens» stabilisiert und Kipp-Punkte im Erdsystem vermieden werden. Und nicht zu vergessen: All das Neue muss sozial ausgewogen eingeführt werden, sonst erzeugt man Widerstand. Dabei ist die Rolle des Staates essenziell. Um schnell klimaneutral zu werden und die ambitionierten Klimaziele der Bundesregierung und der EU zu erreichen, haben wir leider nur wenig Raum für Selektivität. Fast alles was möglich ist, muss gemacht werden. Und dabei darf der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht auf der Strecke bleiben.

ZOE: Deshalb schauen auch zivilgesellschaftliche Organisationen genau hin…

Messner: Ja, sie halten den Druck aufrecht oder wie es unsere ehemalige Kanzlerin Angela Merkel einforderte: «Fallen Sie uns weiter penetrant auf die Nerven, damit die Politik sich bewegt». NGO, Bürgerräte und auch die Wissenschaft spielen neben Staat und Unternehmen eine zentrale Rolle und das ist gut so. Dabei sollten wir uns nichts vormachen, denn in vielen Ländern gibt es auch zivilgesellschaftliche Gegentransformationen, die eine ökologische Wende in Frage stellen, autoritäre Muster und Nationalismus predigen, Wissenschaft angreifen. Ich denke, zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Ziel der Klimaneutralität nur im globalen Verbund erreicht werden kann, bei dem Staat, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und übrigens auch multilaterale Organisationen enger zusammenwirken müssen als bisher.

«Es gibt zivilgesellschaftliche Gegentransformationen, die eine ökologische Wende in Frage stellen.»

ZOE: Wie kann dieses interorganisationale Zusammenspiel aussehen, wo doch die Zielsetzungen unterschiedlicher nicht sein könnte?

Messner: Es kommt jetzt darauf an, dass der Staat klare Rahmenbedingungen schafft, die es Unternehmen und Organisationen erleichtern, den nächsten Schritt zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Wertschöpfung zu gehen. Wie wir aus der Organisationstheorie wissen, sind Organisationen nicht nur «Anpassungsmaschinen». Der Druck zu nachhaltigem Wirtschaften kommt auch von innen, in vielen Organisationen arbeiten immer mehr Menschen, die es für unumgänglich halten, Nachhaltigkeit als oberstes Leitprinzip zu verfolgen.

ZOE: Sie sprechen neue Generationen an, die ganz anders auf Arbeit und ihr Arbeitsumfeld schauen?

Messner: Ja, der Generationenwechsel in Organisationen ist ein zentraler Hebel für die notwendige Dynamik. Während ältere Generationen nicht selten Schwierigkeiten haben, sich eine grüne Produktion vorzustellen und Pfadabhängigkeiten im Denken und Handeln wirksam bleiben, ist das für junge und noch folgende Arbeitnehmergenerationen mehr oder weniger gesetzt. Umbrüche wie ein ökologischer Wandel werden nicht nur akzeptiert, sondern bewusst eingefordert.

ZOE: Sie sprachen von einer Transformation durch Reduktion. Wie verhält sich eine unternehmerische Profitorientierung mit reduzierten Wachstumserwartungen?

Messner: Der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedmann sprach davon, dass die einzige Verantwortung von Unternehmen darin besteht, Profit zu machen. Das greift offensichtlich zu kurz. Unternehmen übernehmen heute Verantwortung, die weit über Profit hinausgeht. Sie umfasst Aspekte des sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders ebenso wie Umwelt oder Moral und Ethik. Das Wohl von Menschen und Umwelt sollte dabei Ziel des Wirtschaftens sein. Hier reden wir nicht von blumigen Botschaften in Jahresberichten, sondern gänzlich neuen Geschäftsmodellen. Um global wirkliche Transformationswirkungen spüren zu können, müssen wir über die Unternehmens- und Landesgrenzen hinausschauen – die nachhaltige Ausrichtung globaler Wertschöpfungsketten wird immer wichtiger. Erst wenn wir global vernetzt handeln, was Unternehmen und Staaten umfasst, werden wir den Ansprüchen einer auch in Zukunft lebenswerten Welt gerecht.

ZOE: Was genau heißt das für die Ausrichtung von Organisationen?

Messner: Im Kern geht es um die Entwicklung neuer, ambitionierter Geschäftsmodelle, die neben ökonomischen auch normative Handlungsprämissen beinhalten, die auf Klimaschutz einzahlen. Wir müssen anerkennen, dass wir für Erdsystemstabilität verantwortlich sind. Hierfür empfehle ich die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Sie fassen regelmäßig den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand über die Beeinflussung des Erdsystems durch die Menschheit und daraus entstehender Auswirkungen zusammen. Wir Menschen sind der größte Einflussfaktor auf das Klima und verantwortlich für die Klimakrise. Wenn wir dieses Wissen mit globalem Handeln verbinden, landet man bei globaler Gerechtigkeit.
Schon heute lösen die Folgen der Klimakrise massive Ungleichgewichte in der Welt aus, die wir uns bewusst machen müssen. Nicht zuletzt sollte eine intergenerationale Perspektive Teil unseres Handelns und der Debatten in Organisationen sein. Wir handeln im Interesse einer Zukunft, die wir vermutlich nicht mehr selbst erleben werden, aber dennoch für sie verantwortlich sind. Wenn man diese  Handlungsprämissen als Grundlage nimmt, entsteht ein normativer Führungs- und Gestaltungsanspruch für organisationale Wertschöpfung.

ZOE: Was kann die Umsetzung fördern?

Messner: Immanuel Kant spricht so trefflich von den «Bedingungen der Möglichkeit». Diese haben wir in den letzten 20 Jahren geschaffen. Wir sind aber zu langsam. Auch Zielbilder haben wir, wie die Sustainable Development Goals, den European Green Deal oder das Klimaschutzgesetz. Damit diese umgesetzt werden, benötigen wir institutionelle Rahmenbedingungen. Diese müssen so aufgesetzt sein, dass Unternehmen oder Bürgerinnen und Bürger ihr Handeln danach ausrichten. Sie schaffen also einen neuen Kontext, der Transformation ermöglicht. Die Menschen fordern diesen schon heute ein, das zeigt u. a. unsere Umweltbewusstseinsstudie. Es ist also keine Frage des Wollens, sondern eher des Könnens.

ZOE: Wie müssen wir einen Wandel gestalten, der Wege in eine grüne Zukunft aufzeigt?

Messner: Für mich geht es hier um fünf Dinge, um die Motivation von Menschen für den Wandel zur Nachhaltigkeit zu stärken: (1) Das Problem und die damit verbundene Dringlichkeit und Notwendigkeit muss klar und verständlich sein. (2) Gleichzeitig müssen wir Lösungen anbieten, die umsetzbar und leistbar sind. Hier haben wir enorme technologische, aber auch regulatorische Fortschritte gemacht. (3) Es müssen Zugänge und Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, die jeder und jede von uns nachvollziehen kann. Aktive  Beteiligungsmöglichkeiten unterstützen den Wandel. Hier spielt Kommunikation eine wichtige Rolle, aber letztendlich müssen Menschen erleben, dass sie Treiber und Treiberinnen des Wandels und nicht Getriebene sind. Das mag für Menschen, die sich täglich beruflich mit Veränderung beschäftigen nicht bahnbrechend sein, trotzdem stehen wir in einigen dieser Themen noch am Anfang. (4) Bei alledem muss es fair und gerecht zugehen. (5) Wir müssen Klima- und Ökosystemschutz verbinden mit Entwürfen attraktiver Zukünfte. Das motiviert Menschen mitzumachen. Viel zu oft schauen wir auf vermeintliche Zumutungen des Klimaschutzes, auf das, was dieser uns abverlangen könnte. Das halte ich für irreführend. Klimaschutz ist Risikovorsorge und kann mit mehr Lebensqualität verbunden werden.

ZOE: Derzeit herrscht Krieg in Europa, was Vieles grundlegend auf den Kopf stellt. Was bedeutet das für die Klimapolitik?

Messner: Die Entwicklungen in Osteuropa bereiten mir wie sicher vielen anderen Menschen große Sorgen. Daneben treibt mich um, dass wir für einen globalen Klimawandel eine globale Kooperationsarchitektur benötigen, die derzeit eher wankt und taumelt, denn vorangeht. Bei der Resolution im UN-Sicherheitsrat im Februar 2022 gegen den Einmarsch Russlands in die Ukraine haben sich gut 30 Länder enthalten. Darunter wichtige aufstrebenden Staaten, wie China und Indien, aber auch eine signifikante Zahl afrikanischer Länder, die wir für die Bekämpfung des Klimawandels dringend brauchen. Ich interpretiere das als Signal, dass man dem Westen nicht mehr so folgt, wie wir uns das eventuell wünschen. Wir müssen uns selbstkritisch fragen, warum es in Teilen der Welt eine gehörige Skepsis gegenüber dem Westen gibt: der Irak-Krieg, Abu Graib, die ungleiche Verteilung der Impfstoffe während der Pandemie; die Liste an Vorbehalten ist lang. Damit sich die Aggression Russlands nicht in eine umfassende Weltordnungskrise übersetzt und dabei auch die Klimaverhandlungen erschüttert, müssen wir in unsere internationalen Netzwerke investieren. Wir sollten den Konflikt um die Ukraine nicht als «Russland gegen der Westen» framen: hier geht es um universelle Grundprinzipien der globalen Ordnung. Es sind fundamentale Fragen, die der Krieg aufwirft.

ZOE: Wie verändert sich dadurch die klimapolitische Diskussion in Deutschland?

Messner: Hierzulande beobachte ich nicht, dass unsere gesetzten Ziele für Klimaschutz in Frage gestellt würden. Stattdessen scheint die Entwicklung der vergangenen Monate den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu beschleunigen. Zugleich muss man nüchtern feststellen, dass der Krieg die Aufmerksamkeitsökonomie verändert: wir müssen hart daran arbeiten, die Klima- und Nachhaltigkeitsthemen auf der Agenda zu halten. Zudem können öffentliche Investitionen nicht beliebig ausgebaut werden, so dass es kein Selbstläufer ist, die notwendigen
Ressourcen in die Klimaneutralität zu lenken. Die Ziele der Klimaneutralität zu erreichen und weltweit die Leitplanke von 1,5 – 2°C nicht zu reißen, wird im Kontext der schwierigen internationalen Lage eine Herkulesaufgabe. Aber: manchmal lassen sich gerade in Krisenzeiten kühne Vorhaben leichter durchsetzen als in «Normalzeiten».

 

Prof. Dr. Dirk Messner
Präsident des Umweltbundesamtes

 

Literatur:

BDI-Studie «Klimapfade 2.0 – Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft» (2021).
European Green Deal.
Fünfter Sachstandsbericht des IPCC.
Klimavertrag der Bundesregierung.
Stiftung KlimaWirtschaft.
Ziele für nachhaltige Entwicklung.


Aus Ausgabe Nr. 3/22: Bitte wenden! – Wege in die grüne Zukunft

Während wir noch immer die Potenziale und Herausforderungen einer digitalen Gesellschaft entdecken, stehen wir in der seit Jahren schwelenden ökologischen Krise mittlerweile an einem kritischen Wendepunkt. Anders als in der Digitalisierung, die in vergleichsweise kurzer Zeit mitunter radikale Veränderungen in Organisationen ausgelöst hat, ringen wir auch 50 Jahre nach der durch den Club of Rome veröffentlichten Studie «Die Grenzen des Wachstums» weiterhin um passende Antworten auf menschengemachte Umwelt- und Klimaveränderungen. Dabei sind die Beharrungskräfte, die einem kollektiven Handeln skeptisch gegenüberstehen, mindestens so kritisch wie die Krise selbst – die Knowing-Doing-Gap lässt grüßen.

In dieser Ausgabe der ZOE geht es um die Frage, wie Organisationen für eine lebenswerte Welt nachkommender Generationen Verantwortung übernehmen können und beginnen, sich mit dem Blick auf ökologischen Wandel neu aufzustellen.