ZOE: In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich damit, wie wir in unserer täglichen Zusammenarbeit – wie beispielsweise in einem Meeting – unmittelbar reflektieren können. Was hat Sie dazu veranlasst, den Schwerpunkt auf Reflexion, Bewusstsein und Handeln zu legen?
Svalgaard: Am Anfang meiner beruflichen Laufbahn las ich ein Zitat von Edgar Schein, in dem es darum ging, dass wir in Organisationen überleben, indem wir passiv bleiben. Ich fand das provokant und faszinierend. Als Organisationspsychologin arbeite ich schon sehr lange mit Gruppen in Organisationen. Ich war neugierig, warum es in Gruppen so oft ganz offensichtliche Prozesshinweise gibt, die die Mitglieder nicht bemerken oder wahrzunehmen scheinen, z. B. wenn jemand im Arbeitsprozess mit der gemeinsam getroffenen Entscheidung nicht zufrieden ist, jemand unkonzentriert ist oder jemand ständig auf sein Handy schaut. Meine Frage wäre da: Wenn es so offensichtlich ist, warum nehmen die Gruppenmitglieder den Hinweis nicht auf und arbeiten daran?
Bei meinen Programmen zur Entwicklung von Führungskräften habe ich festgestellt, dass diese in dem Moment, in dem das wirkliche Leben zuschlägt, also in Zeiten der Eile und Sorge, all ihre Erkenntnisse darüber, was zwischen Menschen geschieht, vergessen – egal ob es um sie selbst alleine oder über das eigene Verhalten in Gruppen geht. Die ganze Energie fließt in die primäre Aufgabe der Gruppe («Aufgabe 1») und nicht in das Management des Gruppenprozesses («Aufgabe 2»). Wo liegt dann der Sinn meiner Arbeit als Beraterin, wenn sie in dem Moment ausgeblendet wird, wo wir sie am meisten brauchen? Diese Frage hat mich wirklich beschäftigt. Wie können wir in Gruppen bei uns selbst und unseren Erkenntnissen bleiben, wenn wir sie am meisten brauchen? Ich war wirklich neugierig, was in diesem kurzen Moment passiert, in dem wir abschalten; diese Sekunde, in der wir unsere Einsichten loslassen, in der wir entweder nicht sehen, was direkt vor uns passiert, oder es nicht sehen wollen.
ZOE: In Ihrem Buch «The Elefant in the Room» nennen Sie diese Momente «in the middle of it all», dieser Ausdruck gefällt mir sehr. Sie sagen also, dass wir in diesen Situationen manchmal nichts mehr sehen. Woran liegt das?
Svalgaard: Wir brauchen den Raum dazwischen – also zwischen dem Reiz und der Reaktion –, um uns zu erden und zu reflektieren. Wenn wir an Aufgabe 1 und Aufgabe 2 arbeiten, ist Reflexion oft ein Rückblick – man schaut auf etwas im Sinne von «was haben wir getan?» Man denkt zum Beispiel auf dem Heimweg über einen Arbeitstag nach oder man reflektiert mit Kollegen und Kolleginnen ein Projekt und überlegt, was gut gelaufen ist oder was man beim nächsten Mal besser machen kann. Diese Momente der Reflexion sind unglaublich wichtig. Es ist essenziell, einen Schritt heraus zu treten, quasi vom Balkon aus einen Blick auf die eigene Arbeit und die eigene Welt zu werfen und darüber nachzudenken, wie man diese verändern kann, wie es einem gerade geht und wie man sich fühlt. Die Herausforderung ist, dass man von diesem Balkon dann auch wieder heruntergehen muss. Man muss schließlich wieder mitten ins Geschehen treten und die Überlegungen dabei mitnehmen, um tatsächlich danach handeln zu können. Das ist der entscheidende Moment. Das ist der Moment, in dem wir all unsere Gedanken und Einsichten zurückbringen.
ZOE: Vielleicht treten auch wir kurz einen Schritt heraus. Was bedeutet Reflexion eigentlich?
Svalgaard: Mein Verständnis von Reflexion ist: Wie können wir kleine Minuten, Sekundenbruchteile des Nachdenkens mitten in der Arbeit schaffen? In der Geschäftswelt hört man oft, dass wir dafür keine Zeit haben und nicht die ganze Zeit im Kreis sitzen können. Doch darum geht es gar nicht. Es geht nicht darum, viel Zeit mit dem Innehalten zu verbringen. Es geht darum, diese kleine Lücke zwischen Stimulus und Reaktion zu schaffen. In dem Moment, in dem man nicht automatisch reagiert, sondern sich kurz Zeit zum Nachdenken nimmt: Wie fühle ich mich? Wie geht es uns? Was ist jetzt die richtige Reaktion?
«Es geht nicht darum, viel Zeit mit dem Innehalten zu verbringen.»
Je mehr wir das üben und je besser wir uns dessen bewusst werden, desto mehr können wir Wege finden, es in dem Moment zu tun. Man muss seine Abwehrmechanismen kennen, diese persönlichen Warnsignale, die uns sagen: «Ich bin kurz davor, automatisch zu reagieren, normalerweise würde ich in so einer Situation automatisch mit einer Kampfreaktion antworten» oder dergleichen. Es sind diese kritischen 30 Sekunden, in denen wir einen Schritt zurücktreten und überlegen: Was ist jetzt die richtige Entscheidung? Worauf muss ich jetzt achten, damit ich nichts tue, was ich später bereue? Ich denke, dass diese Art der Reflexion in der Literatur und in der Forschung viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Wie schon gesagt: Reflexion wird oft als Rückschau verstanden. Natürlich kann man argumentieren, dass erst einmal etwas geschehen muss, bevor man darüber nachdenken kann. Aber wenn Führungspersonen mit sich selbst arbeiten und ihre Erkenntnisse aus der Leadership-Entwicklung einbringen, können sie lernen, diese kleinen Momente zu erkennen, in denen sie vielleicht dazu neigen, wegzulaufen oder Dinge zu vermeiden. Dann reflektieren sie für 30 Sekunden: «Ich kenne dieses Gefühl, doch jetzt bleibe ich in diesem Moment, stelle mir eine Frage, statt mich zu entziehen». Das ist eine Art von Reflexion, die viel mehr Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Bewusstsein erfordert als routinemäßiges Reagieren.
ZOE: Sie sprechen in Ihrem Buch von «doppelter Bewusstheit» (double awareness). Meint das die Konzentration auf die eigentlichen Aufgaben als Führungskraft (Aufgabe 1) einerseits und das Management des Gruppenprozesses (Aufgabe 2) andererseits?
Svalgaard: Ja, genau. Harold Bridger nennt das «doppelte Aufgabe». Ich übertrage das auf die «doppelte Bewusstheit» und frage: Können wir uns gleichzeitig beider Aufgaben bewusst sein, während wir mittendrin stecken? Wenn wir uns darin üben, wird es zunehmend mühelos, sich mit Leichtigkeit zwischen Aufgabe 1 und Aufgabe 2 hin und her zu bewegen und dabei zu reflektieren.
ZOE: Warum fällt es oft so schwer, «inmitten von allem» zu reflektieren?
Svalgaard: Während meiner Gruppenforschungen beobachtete ich zunächst die Gruppen und führte anschließend Einzelinterviews mit jedem Gruppenmitglied. Dabei stellte sich heraus, dass wir eine Menge unterschiedlicher Signale aufschnappen, wenn wir uns in Gruppen bewegen. Ich war wirklich erstaunt zu sehen, wie viel wir tatsächlich letztlich doch wahrnehmen. Aber wir sind eben auch sehr gut darin, uns selbst Geschichten zu erzählen, die uns dabei helfen, nicht auf die unterschwelligen Beobachtungen zu reagieren, wenn diese uns unbehaglich oder unbekannt vorkommen. Das ist es, was in dem Moment passiert, in dem wir ausweichen. Die Storys, die wir uns erzählen, sind Geschichten wie: «Nein, es ist besser, bis morgen zu warten. Ich bin wahrscheinlich die einzige, der das aufgefallen ist oder die das stört.» Oder: «Ich möchte nichts lostreten, von dem ich nicht weiß, wie ich es reparieren oder lösen kann; ich möchte nichts anstoßen, was unkontrollierbar ist.» Wir sind als Menschen sehr innovativ, wenn es darum geht, etwas zu vermeiden, das unangenehm oder das uns fremd ist.
ZOE: Wenn also jemand sehr wohl reflektiert, kann es sein, dass er oder sie trotzdem nicht auf seine eigene Beobachtung reagiert. Warum ist das so?
Svalgaard: Wir wollen auf der sicheren Seite bleiben. Das ist das Paradoxon der psychologischen Sicherheit: Viele Menschen möchten psychologische Sicherheit, weil das gut klingt. Doch um Vertrauen zu schaffen, muss man so tun, als wäre dieses bereits vorhanden. Und um Sicherheit zu schaffen, muss man sich auf das Unbekannte einlassen und das Gefühl zulassen: «Mmh, das fühlt sich etwas unsicher an». Um über den Elefanten im Raum sprechen zu können, ist psychologische Sicherheit die zentrale Voraussetzung. Können wir darauf vertrauen, dass wir mit den anderen Anwesenden Risiken eingehen können, dass wir benennen können, was uns unangenehm ist, und das ansprechen, was uns wichtig ist? Man kann das bei Hochleistungsteams, in denen psychologische Sicherheit herrscht, gut beobachten. Es ist genau der Punkt, an dem «doppelte Bewusstheit» mühelos wird. Denn dann sprechen die Leute über die Dinge, während sie sich schon weiterbewegen. Fragen wie «Du telefonierst, bist du auch hier bei uns?» oder «Du siehst nicht glücklich aus mit dieser Entscheidung, sind hier alle an Bord?» Solche Kommunikation gibt es in Hochleistungsteams ständig.
ZOE: Es ist also zum einen die Aufgabe des Teams, psychologische Sicherheit zu schaffen, aber zum anderen auch für jeden Einzelnen, die eigenen Abwehrmechanismen zu kennen…?
Svalgaard: Es geht um beides, um Gruppen und Einzelpersonen. Natürlich entstehen in Gruppen Gewohnheiten, und das schafft eine Kultur. Gruppen können Kulturen schaffen, in denen man die beschriebenen Dinge nicht anspricht. Das macht es noch schwieriger. Denn dann geht es wieder darum, ob eine einzelne Person anfangen kann, Fragen zu stellen, einen Subtext zu setzen, zu hinterfragen: Warum tun wir das? Können wir das Störsignal aufgreifen? Können wir an unseren Reaktionen etwas ändern? Bei der Arbeit mit Gruppen ist es wichtig, dass nicht ein Einzelner die Reflexionsarbeit im Namen der ganzen Gruppe übernimmt, sondern es gilt, Wege zu finden, um alle zu mobilisieren. Man muss der Gruppenintelligenz vertrauen und sagen: Das ist es, was wir uns gegenseitig zumuten; können wir uns gegenseitig helfen, aus diesem Muster herauszukommen? Da braucht es jemanden mit dem Mut, die Dinge anzupacken.
ZOE: Kommen wir zu typischen Abwehrmechanismen, die Reflexionsmomente verhindern. Wie funktionieren diese Abwehrmechanismen im beruflichen Kontext?
Svalgaard: Wir rationalisieren, um zu erklären, warum wir das tun, was wir tun. Wenn man zum Beispiel Feedback gibt und das Gegenüber nicht wirklich zuhört, sondern direkt anfängt zu erklären, warum er oder sie das macht, und so weiter. Es geht darum, ob man für die Erfahrungen anderer offenbleiben kann. Rationalisierung hält uns von der Erfahrung in diesem Moment ab. Ein Beispiel: Es gibt einen Konflikt zwischen zwei Personen in einer Gruppe, die aneinander herumnörgeln. Die verantwortliche Führungskraft würde rationalisieren, sich selbst Erklärungen geben, warum es legitim ist, nicht einzugreifen. Zum Beispiel mit dem Argument, «ich bin heute müde, es ist besser, bis morgen zu warten». In diesem Moment entschuldigt man sich und erfindet Geschichten für sich selbst, warum es eine gute Idee ist, sich rauszuhalten.
ZOE: Zum Reflektieren braucht man natürlich den Verstand. Aber es gibt auch eine körperliche Komponente, die wichtig ist. Können Sie uns etwas darüber erzählen?
Svalgaard: Bei der körperlichen Komponente geht es darum, Signale aufzufangen. Es geht darum, die eigenen Valenzen, die eigenen Stolperfallen, die eigenen Abwehrmechanismen kennenzulernen. Da geht es um das Erkennen von Frühwarnsignalen. Wenn ich mit Führungskräften an schwierigen Situationen arbeite, flüchten sie vielleicht, haben Schwierigkeiten, sich auf einen Konflikt einzulassen. Sie können rationalisieren, warum es gut ist, sich zurückzuziehen, statt vorwärtszugehen. Wenn ich mit ihnen erforsche, was das allererste Signal ist, das ihnen sagt: «Jetzt bin ich dabei zu fliehen, jetzt fange ich an, ein automatisches Verhalten an den Tag zu legen», erzählen sie sehr oft, dass das allererste Signal diese Spannung im Magen ist oder das Gefühl, die Beine fangen an zu zittern, oder sie bekommen rote Wangen. Wenn Sie das an sich wahrnehmen können, sollten Sie 30 Sekunden lang innehalten und sich fragen: «Okay, ich fühle das, was sagt mir das?» Die Antwort wäre: «Es sagt mir, dass ich im Begriff bin, eine automatische Reaktion auszuführen, die weder für mich noch für die Gruppe, noch für die Aufgabe hilfreich ist.» Sie verstehen, dass Sie auf dieses Gefühl hören und eine bewusste Entscheidung treffen müssen. Und dann eine andere Richtung einschlagen, die Ihnen selbst oder der Gruppe wirklich helfen kann. Eine Richtung dorthin, wo ich spreche, wo ich fühle, wo ich ehrlich zu mir selbst und meinen Signalen bin, und wo ich mich mit dem befasse, was im Moment ist. Oft sagen uns diese Signale im Körper, dass es Zeit für eine Reflexion ist. Betrachten wir es als einen Anstoß zum Reflektieren. Denn ich weiß, wenn ich diese Spannung im Bauch habe, dass etwas auf dem Spiel steht. Und dass ich es bereuen werde, wenn ich jetzt nicht Farbe bekenne und es anspreche, statt mich weg zu ducken.
ZOE: Sie verwenden in diesem Zusammenhang die Begriffe «tragen » und «lesen». Welche Rolle spielen sie hier?
Svalgaard: Ich finde, das sind zwei hilfreiche, sehr sinnvolle Begriffe. Man muss seinen eigenen Rucksack kennen, den man mit sich herumträgt. Man sollte sich so gut kennen, dass man weiß worauf man tendenziell reagiert und was die eigenen Valenzen sind. Dazu gehört z. B. auch die Familie, in der ich aufgewachsen bin: Wie reagiere ich auf Autorität, wie gehe ich mit Konflikten um aufgrund der Erfahrungen in meinem Rucksack? Wenn man sich dessen nicht bewusst ist und unbedarft in eine Situation geht, sind die Signale undeutlich und es wird schwieriger sie zu deuten. Man muss erkennen können, was zu einem selbst gehört und was zur Gruppe.
ZOE: Könnten Sie das noch etwas erläutern?
Svalgaard: Ein sehr einfaches Beispiel: Die Stimme von jemandem könnte Sie an Ihren Lehrer in der ersten Klasse erinnern, der Ihnen immer schlechte Noten gegeben hat. Wenn Sie sich dessen nicht bewusst sind, könnten Sie unbewusst etwas mit dieser Person verbinden und ihr zuschreiben: «Das ist eine Person, die mich verurteilt und mir nicht helfen wird, die nicht zu meinen Gunsten arbeitet.» Wenn man nicht tiefgründig an sich arbeitet, fällt es einem schwer, zu reflektieren und diese Reflexion in die Mitte von allem zu bringen.
ZOE: Neben der Reflexionsfähigkeit vertreten Sie, dass wir Menschen negative Fähigkeiten brauchen. Was meinen Sie damit?
Svalgaard: Negative Fähigkeit bedeutet für mich die Fähigkeit, mit dem Unbekannten umzugehen. Mit Unwissenheit, Unordnung und Verwirrung. Es ist die Fähigkeit, dranzubleiben, bis man weiß oder spürt, dass das jetzt die richtige Reaktion ist. Statt Nicht-Wissen und Konfusion mit einer schnellen Reaktion zu beantworten, weil man einfach aus der Sache herauskommen will. Das ist die eigentliche Kluft zwischen Stimulus und Reaktion: Bleib dran, auch wenn es chaotisch und verwirrend ist.
ZOE: Ein entscheidender Moment ist der Übergang vom Reflektieren zum Handeln. Sie haben dafür ein Rahmenkonzept mit den Komponenten Vertrauen, Wahrheit und Transparenz als Kernelementen entwickelt. Warum sind gerade diese wichtig und wie wirken sie zusammen?
Svalgaard: Die drei Elemente haben sich aus meiner Forschung ergeben. Dabei bin ich von der Frage ausgegangen, was Situationen kennzeichnet, in denen Gruppen und Einzelpersonen wirklich in der Lage sind, bei dem zu bleiben, was sie mitten im Geschehen bemerken, und auch danach zu handeln. Meine Erkenntnisse habe ich zu diesen drei Konzepten verdichtet. Es besteht natürlich die Gefahr, dass das alles etwas nach Frieden, Liebe, Harmonie klingt. (lacht) Aber ich habe versucht, das so zu einem Rahmen zu verdichten, um herauszufinden, auf welche Weise man mit diesen drei «T» (trust, truth and transparency) arbeiten kann. Das erste der drei T ist die Wahrheit im Augenblick. Das ist das, was hier und jetzt vor sich geht. Transparenz, das zweite T, ist das Erschließen von Daten über die Situation, damit Sie und Ihre Gruppe sich in der Situation zurechtfinden können. Es ist, als würde man eine Karte mit möglichst vielen Informationen erstellen, um gut navigieren zu können. Wenn Sie sich also in einem unbekannten Gebiet befinden, welche Fragen müssen Sie stellen, um möglichst viel Klarheit über die Aufgabe, die Gruppe, sich selbst und die anderen zu schaffen? Ein Beispiel: Sie schaffen keine Klarheit, wenn Sie mit etwas, das in einer Sitzung passiert, unzufrieden sind, dann zur Kaffeemaschine laufen und mit einer Kollegin darüber reden – und dann gehen Sie zurück in die Besprechung und machen weiter wie bisher. Viele von uns kennen ein solches Beispiel.
ZOE: Und wie kommt das Vertrauen als weiteres Konzept ins Spiel?
Svalgaard: Vertrauen hat sehr viel mit dem Prozess des Vertrauens zu tun. Um Vertrauen zu schaffen, muss man so tun, als ob bereits Vertrauen im Raum ist. Das hängt mit psychologischer Sicherheit zusammen: Um Transparenz zu schaffen, muss man manchmal ein zwischenmenschliches Risiko eingehen. Können Sie jemandem oder der Gruppe in diesem Moment vertrauen? Die Forschung kennt das Konzept der Verwundbarkeit. Dieses besagt, dass es bei Vertrauen darum geht, sich so zu zeigen, wie man ist. Wenn man auf diese Weise über Vertrauen nachdenkt, geht es um Fragen wie: Kann ich mich so zeigen, wie ich bin? Kann ich im Hier und Jetzt Fragen stellen? Wie kann ich dazu beitragen, Transparenz zu schaffen? Die drei T sind in Gruppen sehr präsent, in denen tatsächlich doppeltes Bewusstsein praktiziert wird. Führungskräfte und Teammitglieder sollten sich Gedanken machen, wie sie eine Kultur der drei T schaffen können. Wie trage ich in meinem alltäglichen Verhalten zu Transparenz, Wahrheit und Vertrauen bei?
ZOE: Das klingt sehr überzeugend, scheint aber schwer umsetzbar. Wie können Menschen das lernen und welche kleinen Schritte helfen, um tatsächlich achtsames Bewusstsein zu praktizieren?
Svalgaard: Es gibt viele Möglichkeiten, um damit anzufangen. Ein erster Schritt ist, zu lernen, wie man auf das Hier und Jetzt achtet. Wenn Sie nicht wissen, was vor sich geht, oder wenn Sie etwas sehen, das Sie verwirrt, können Sie dann eine Frage stellen oder eine Erklärung abgeben? Es ist, als würde man einen Subtext in einen Film einfügen, den man nicht versteht, wie z. B. «Sie sehen unglücklich aus» oder «Du bist mit Deinem Telefon beschäftigt». Oder man kann einfach einen Subtext einfügen, um sich dem Hier und Jetzt zu widmen und gleichzeitig Transparenz zu schaffen und dann Fragen zu stellen und neugierig auf die Antworten zu sein. Sie können die Messlatte da sehr niedrig legen. Der erste Schritt ist, dass man ein bisschen rumstochert und anstupst. Und dann fangen Sie an, etwas zu tun. Sie könnten eine Frage stellen oder eine Aussage machen. Oder die eine Erkenntnis aus dem Gespräch an der Kaffeemaschine vielleicht mit an den Tisch zurückbringen. Es geht um den winzig kleinen Schritt, den Sie gehen wollen, um im Raum nicht zu einer Elefanten-Kultur beizutragen, sondern zu einer, in der wir psychologische Sicherheit erleben.
Das so genannte «achtsame Protokoll» – eine Übung, die sich aus meiner Forschungsarbeit entwickelt hat – ist hier ein gutes Beispiel (Abbildung 1). Denn sie beginnt damit, sich der Momente bewusst zu werden, in denen man ausweicht. In meiner Forschung bitte ich Menschen, Tagebuch über ihr tägliches Leben zu führen: Sie sollen Situationen beschreiben, in denen sie nach dem handeln, was sie bemerken – und auch Situationen, in denen sie eben nicht danach handeln. Es gab so viele Forschungsteilnehmende, die anschließend sagten: «Mir ist dabei bewusst geworden, dass ich in all den Meetings weder das Wort ergreife noch meine Meinung äußere. Das wird künftig nicht mehr passieren – ich möchte dort nicht sitzen und meine Zeit verschwenden, meinen Tag vergeuden, indem ich Dinge einfach ignoriere.»
ZOE: Inwieweit wirken sich die Erkenntnisse, die Sie aus Ihrer Forschung und Ihrem Framework gewonnen haben, auf die Organisationsentwicklung und das Veränderungsmanagement aus?
Svalgaard: Ein wichtiger Teil von Veränderungsinitiativen besteht darin, mit Führungskräften an Kompetenzen und Aufgaben zu arbeiten. Doch es gibt viel zu viele Leadership-Programme, die sich nicht mit den täglichen Herausforderungen und den Krisen des Tagesgeschäfts befassen. In unserem Ansatz verwenden wir sogenannte Action Labs, in denen wir an realen Herausforderungen arbeiten. Ich möchte diejenigen, die Leadership-Programme entwerfen, dazu auffordern, sich des Wandels bewusst zu werden, den Führungskräfte durchlaufen müssen. Wenn es gelingt, einen Teil der Programme als Action Learning zu entwickeln, werden die Teilnehmenden davon profitieren. Sie können z. B. an drängenden geschäftlichen Herausforderungen arbeiten, d. h. an einem aktuellen Thema, für das sie eine Lösung finden müssen. Das ist insbesondere dann hilfreich, wenn eine knappe Frist einzuhalten ist oder eine kritische Unternehmensleistung involviert ist. Die Teilnehmenden können das dann einbringen, und egal, woran sie gerade arbeiten, können sie die Werkzeuge aus dem Führungsentwicklungsprozess nutzen, um eine reale Aufgabe zu lösen. Und dann helfen Sie den Leuten, sich auf das zu konzentrieren, was gerade passiert, und darauf, welche Entscheidung sie jetzt treffen können. Seien Sie einfach achtsam, unterstützen Sie sie bei den kurzen Begegnungen oder den schnellen Reflexionen: «Was hast du in diesem Moment über dich selbst gelernt?» «Wie kannst du es zurückbringen?» «Atmen.» «Wie kannst du es einbringen, anstatt nur das zu tun, was du vor dem Programm getan hast?» Die Idee dabei ist, Elemente einzubringen, in denen die doppelte Achtsamkeit geübt werden kann, statt zu sagen: «Jetzt haben wir das Programm durchlaufen, jetzt müssen die Leute wieder in ihren Alltag zurück.» Es geht wirklich darum, den Transfer in den Alltag durch das Üben von doppeltem Gewahrsein zu erleichtern.
ZOE: Neben der beschriebenen Orientierung an realen Problemen gibt es auch Trainingsformate, die sich statt auf kognitives Wissen eher auf Üben konzentrieren, aber von realen Fällen losgelöst sind wie traditionelle T-Gruppen-Trainings (Gruppendynamik-Trainings). Bieten solche Trainingsformate eine Möglichkeit, etwas über Reflexion und Verhaltensweisen zu lernen?
Svalgaard: Unbedingt. Gruppenbeziehungen sind chaotisch, sie sind verwirrend, sie sind sehr vielschichtig. Was man in Gruppenbeziehungen tatsächlich üben kann, ist, wie man sich inmitten von all dem auf sich selbst einstimmt. Wie wird man wacher und bewusster für das, was zu einem selbst gehört, was zur Gruppe gehört, was in Gruppen passiert? Es gibt so viele Schichten in Gruppen, wenn man neugierig auf sie und ihre Komplexität ist. Es ist wichtig, sich selbst zu spüren und zuzuhören, während man mitten in dieser Komplexität steckt. Und es ist wichtig, sich klarzumachen, was man dabei wahrnimmt. Was nimmt man mit, was nicht zu einem gehört? Wann arbeitet man im Sinne der Gruppe oder wann springen die eigenen Abwehrmechanismen an?
Gruppentrainings sind ein wunderbarer Ort zum Spielen und Üben, um sich selbst und die vielen Schichten von Gruppen und ihre unbewussten Elemente kennenzulernen. Gruppen haben eine bewusste Aufgabe und sie haben eine unbewusste Aufgabe. Erstere kann darin bestehen, in einer Sitzung etwas zu beschließen. Zweitere kann lauten: «Lasst uns einen Konflikt vermeiden und so schnell wie möglich von hier verschwinden.» Wenn man diese unbewusste Aufgabe nicht kennt, kann man sie auch nicht bearbeiten.
ZOE: Vielen Dank für das interessante Gespräch.
Lotte Svalgaard
Phd, Autorin, Executive Coach und Leadership Consultant bei INSEAD und Action Lab Aps
Prof. Dr. habil. Arjan Kozica
ZOE-Redakteur, ESB Business School @Hochschule Reutlingen
Literatur
• Svalgaard, L. (2023). The Elephant in the Room. Engaging with the Unsaid in Groups and Organizations, Routledge.
• Sandanger, D., Bragh, K. & Svalgaard, L. (2019). How to create an action learning environment that makes self and social awareness business-like, Action Learning Research and Practice 16(2):1-12.
• Svalgaard, L. (2018). The critical moment of transition: Staying with and acting on newly gained self- and social awareness, Management Learning 49(3).
• Svalgaard, L. (2016). From real life to real life: bringing ‘double awareness’ from Action Learning programmes into organisational reality, Action Learning Research and Practice 14(1):1-21.