Beschreibung zu der aktuelle Schwerpunkt

Viel hilft meist nicht viel

Fokussierter Change statt Überforderung

Die Frage ist nicht neu und dennoch wiederholt sie sich seit Jahren in schöner Regelmäßigkeit, befeuert von Statistiken zum Erfolg von Change-Programmen in der Wirtschaft: Woran liegt es, dass nur etwa ein Viertel der Vorhaben so gelingt, wie beabsichtigt, hingegen drei Viertel entweder nicht oder nur teilweise liefern, und das oft mit großer Verzögerung und explodierenden Kosten? Dieser Artikel macht zwei Hauptursachen dafür aus und elaboriert sie.

Die Welt steht Kopf und diejenigen, die Orientierung geben sollen, verzetteln sich. So könnte man die Situation in vielen Unternehmen beschreiben, die angesichts der gegenwärtigen Multi-Krisen-Situation herrscht: Ein Change-Programm jagt das nächste – in der Hoffnung auf den Befreiungsschlag, der doch endlich kommen und vom Übel der Überforderung, des andauernden Umsteuerns und unzufriedenstellender unternehmerischer Performance erlösen möge. Doch er kommt nicht. Das Hin- und Her-Wechseln zwischen Organisationsformen in kurzen Zyklen, die x-te Verfeinerung von Unternehmensprozessen, das Implementieren von Hype-Themen wie Agilität, New Work und Diversity scheint jedes Mal wieder die Chance auf Lösung mit sich zu bringen. Meist jedoch steht am Ende nur eine weitere Enttäuschung, wenn groß angekündigte und werbewirksam inszenierte Ziele nicht erreicht und behindernde Kernursachen nicht beseitigt werden.

Die Statistik dazu ist eindeutig: Nur etwa ein Viertel der Change-Vorhaben in der Wirtschaft gelingt (Sackmann & Schmidt, 2018). Diese Quote ist seit Jahren unverändert und sie sollte alarmieren, denn dahinter stehen handfeste wirtschaftliche Nachteile. Schließlich werden Veränderungen in Unternehmen nicht aus Jux und Tollerei angegangen, sondern aus genau einem Grund: um einen unternehmerischen Nutzen und damit einen Vorteil am Markt zu schaffen. Kommt dieser später als geplant oder schlimmstenfalls gar nicht, öffnet das Tür und Tor für Erfolge der Wettbewerber. Der Blick auf prominente Unternehmen wie Quelle, Neckermann, Mediamarkt-Saturn und andere zeigt das drastisch. Die Insolvenzen von Görtz, Hakle und Leoni sind neuere Beispiele.

Doch das Alarmieren scheint auszubleiben. Stattdessen herrscht offenbar die Vorstellung, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu können. Hat das eine Transformationsprojekt nicht funktioniert, wird ein neues ausgerufen, das die Nachteile des vorherigen beseitigen soll. Darauf das dritte, vierte usw. Geschichten wie die eines Automobilzulieferers, der zunächst Hand an seine Prozesse gelegt, dann Lean-Management eingeführt, eine Qualitätsoffensive durchgezogen, fundamental umorganisiert, agile Methoden ausgerufen hat und jetzt auf Führung und Team-Diversity schaut, sind eher die Regel als die Ausnahme. Darüber vergehen zehn oder mehr Jahre, während das Personal immer noch über ähnliche fundamentale Schwächen klagt wie vor dieser Flut an Veränderungsmaßnahmen.

Vielfalt und Komplexität
Dazu passt das Phänomen, dass ob des rapiden technologischen und gesellschaftlichen Wandels, dem Unternehmen ausgesetzt sind, die Anzahl an Transformationsprogrammen geradezu explodiert ist, während gleichzeitig deren Laufzeiten kürzer und kürzer werden sollen. Der Bereichsleiter eines Energie-Unternehmens beklagte jüngst, dass er angesichts der schieren Menge der laufenden Change-Initiativen keinen Durchblick mehr hätte und nicht mehr in der Lage sei, für seine Teams vernünftig zu priorisieren. Neben drei konzern- und zwei bereichsweiten großen Programmen liefen noch mindestens zehn kleinere Vorgänge.
Was dann passiert, liegt auf der Hand: Die Programme kannibalisieren sich gegenseitig, buhlen konkurrierend um Aufmerksamkeit und Ressourcen. Wer am lautesten schreit und den größten Druck übers Management aufbaut, findet temporär Gehör. Kann das funktionieren? Natürlich nicht. Der Effekt ist Beliebigkeit: Es spielt keine Rolle, welches Vorhaben gelingt, und das oft über Jahre hinweg. Dieser Zustand kommt einem «Change-Overkill» gleich und ist unternehmerisch hoch kontraproduktiv. Ihn herbeizuführen ist leicht, das Rezept steht oben. Aus ihm herauszukommen, ist hingegen anstrengend und mühsam. Hauptursache Nummer eins für die geringe Erfolgsquote von Veränderungen ist also eine unüberschaubare Vielfalt und Komplexität der Change-Programme, die nicht mehr verstanden wird – weder von der Unternehmensleitung noch von den Führungskräften noch von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern –, und die dazu führt, dass der unternehmerische Nutzen aus dem Blick gerät.

Fehlendes Verständnis
Sind Menschen dieser Situation über lange Zeit hinweg ausgesetzt, reagieren viele von ihnen mit Change-Müdigkeit. Sie geben es auf, die Zusammenhänge verstehen zu wollen, warten an der Seitenlinie ab und sehen zu oder machen gar Dienst nach Vorschrift. Dass sich darin ein Vertrauensverlust in diejenigen ausdrückt, die mit einer derart untauglichen Change-Architektur hantieren, wird meist nicht bemerkt. Dem Gelingen scheinen ja sachliche Gründe entgegenzustehen. Dann muss man sich eben gemeinsam mehr anstrengen und alles öfter erklären. Doch dieses Sich-Anstrengen kann nicht zum Erfolg führen, denn es ist wie der Versuch des Fahrens mit Vollgas bei gleichzeitig angezogener Bremse. Das führt zur Hauptursache Nummer zwei: Es fehlen sowohl das Verständnis dafür als auch der Fokus darauf, was Menschen brauchen, um sich auf Veränderungen einzulassen – oder anders gesagt: was sie treibt und dazu veranlasst, sich zu bewegen und gewohnte Pfade zu verlassen.

«Hat das eine Transformationsprojekt nicht funktioniert, wird ein neues ausgerufen.»

Dabei geht es am Ende durchwegs um Verhaltensänderungen, also um ein «heute so» und «morgen anders», ohne die es keinen wirksamen Change geben kann. Wer schon einmal versucht hat, mehr Sport zu machen, abzunehmen oder mit dem Rauchen aufzuhören und es dann doch nicht getan oder nicht durchgehalten hat, weiß, wie hoch die Hürde für eine konsequente Verhaltensänderung ist. Überforderung und Vertrauensverlust sind definitiv keine geeignete Basis dafür.

Lösung I: Fokus auf unternehmerischen Nutzen

Im Grunde ist die Logik einfach: Der Dreh- und Angelpunkt jedes Change-Programms ist der angestrebte unternehmerische Nutzen. Woher auch sonst sollte die Motivation dafür kommen? Dieser Nutzen kann sehr vielfältig sein: Eine effizientere Projektbearbeitung, die die Gewinnmarge erhöht, fällt genauso darunter wie die Vereinfachung der Produktarchitektur, die Ausfallraten und damit Gewährleistungskosten senkt, oder die Hinzunahme neuer Marketingkanäle, die zu mehr Anfragen und Verkäufen führt. Nicht darunter fallen hingegen die Einführung eines neuen Werkzeugs oder einer neuen Methode um ihrer selbst willen oder das blinde Nachahmen dessen, was Wettbewerber tun, im Sinne von «me too». Auch eine persönliche Vorliebe oder Meinung, und sei sie noch so stark, ist kein Hinweis auf den unternehmerischen Nutzen. Beispiele für fehlenden Nutzen könnten unzählige aufgeführt werden. Ganz prominent sind «Agilität einführen» oder «New Work einführen» mit einer diffusen Vorstellung davon, was nach der Einführung anders ist als vorher. Kurze Iterationszyklen, mehr Kundenorientierung und Team-Empowerment sollen daraus resultieren, eine höhere Motivation und Wertschätzung werden auch gerne genannt. Das hört sich zwar gut und erstrebenswert an, doch es ist durch die Bank kein unternehmerischer Nutzen und taugt folglich nicht zur Motivation von Veränderungsaktivitäten.
Es muss also entweder weiter gedacht werden, etwa mit der Frage, welcher Mehrwert aus kurzen Iterationszyklen folgt und woran er festgemacht werden kann, oder der Rotstift angesetzt werden. Es könnte sein, dass der Hype «Agilität» nicht zum aktuellen Entwicklungsstand des eigenen Unternehmens passt oder nicht den Nutzen verspricht, den die Literatur anpreist. Dann heißt es, die Finger davon zu lassen, und wenn die Wettbewerber noch so stark darauf setzen.

 

Kein Change ohne Nutzen
Der Mehrwert von Change- und Transformations-Prozessen muss also unmissverständlich klar sein, um darin zu investieren. So bestechend einfach und nachvollziehbar diese Logik ist, so sehr wird sie in der Praxis verwässert. Erfahrungsgemäß ist bei der Vielfalt der Veränderungsaktivitäten in Unternehmen nur für weniger als die Hälfte der Vorgänge klar, was sie bringen sollen. Ein einfaches Gedankenspiel kann erste Hinweise auf die Situation in der eigenen Organisation geben: Man stelle sich nacheinander die gerade laufenden Change-Initiativen vor. Welche davon soll welchen Nutzen liefern? Die Antworten müssen wie aus der Pistole geschossen kommen. Tun sie es nicht, besteht zumindest Klärungs-, oft auch Handlungsbedarf. Für jede Veränderungsaktivität muss zweifelsfrei klar sein, welcher Vorteil daraus folgt. Diesbezüglich dürfen keine Unklarheiten bestehen bleiben, denn auf dem Fundament des Nutzens baut alles Weitere auf: Die Ziele und die Strategie des Change-Programms, das Einschätzen des Fortschritts und der Zielerreichung wie auch die Führung und die Kommunikation. Der zu erreichende unternehmerische Nutzen ist die einzige Legitimation für  Veränderungen. Es sei angemerkt, dass der Nutzen nicht unmittelbar ein monetärer sein muss, auch wenn ein grobes Überschlagen hilft. Geht es beispielsweise um ein Programm zur Förderung der Bindung ans Unternehmen, ist es angeraten, sich die unterschiedlichen Effekte klarzumachen, die davon zu erwarten sind – neben der offensichtlichen Einsparung beim Recruiting.
Was also ist zu tun? Erstens, das konsequente Filtern der Change-Vorgänge mit Blick auf ihren unternehmerischen Mehrwert (siehe Kasten). Zweitens, das ersatzlose Streichen derjenigen Vorgänge, deren Mehrwert in Zweifel steht. Drittens, das Konzentrieren mit aller Kraft auf diejenigen Vorgänge, die die eigene Organisation wirklich voranbringen. Das klingt eingängig und nachvollziehbar? Das ist es auch. Das ist leicht umzusetzen? Oft nicht so einfach, wie es klingt. Unterschiedliche Interessenslagen im Management-Team, Ängste und andere Befindlichkeiten spielen dagegen, bisweilen sogar recht massiv. Mittels solcher Entscheidungen werden Machtkämpfe in Unternehmen ausgetragen und Politik gemacht. Das Verfolgen der Devise «ohne klaren Nutzen kein Change-Programm» braucht ggf. härtere Bandagen und Durchhaltevermögen.

Überlastung vermeiden
Die weiteren Vorteile dieser konsequenten Haltung sind das Freiwerden von Ressourcen und das Entkommen aus dem sich immer schneller drehenden Hamsterrad des Change-Overkills. Wenn eine Auswirkung der Krisen der letzten Jahre prominent im Vordergrund steht, dann ist es die Überlastung von Organisationen und der Menschen darin. Dieser könnte mit bewusster Fokussierung und Entlastung entgegengetreten werden, stattdessen ist ein erratisches Anstoßen von Change-Programmen nach dem Motto «viel hilft viel» verbreitet. Das ist vor dem Hintergrund der Ungewissheit in Krisen und damit einhergehender Ängste zwar erklärbar, verstärkt jedoch die Überforderung. Abhilfe schafft das Fokussieren auf den unternehmerischen Nutzen. Wird die Landschaft der Veränderungsvorhaben im eigenen Unternehmen um die Hälfte ausgedünnt und auf das Wesentliche konzentriert, das tatsächlich entscheidend weiterhilft, folgt eine deutliche Entlastung für Führungskräfte wie auch für ihre Teams. Zudem entsteht dadurch ein Gewinn an Klarheit für den unternehmerischen Kurs. Genau dort geht es lang.

Lösung II: Fokus auf Menschen

Kaum wird ein Change-Programm angekündigt, schon reagieren Führungskräfte wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ganz unterschiedlich darauf. Die einen freuen sich über die schon lange überfällige Veränderung und gehen begeistert mit, die anderen wollen nichts davon wissen und lassen keine Gelegenheit aus, ihre Missbilligung kundzutun sowie dagegen zu arbeiten. Dazwischen gibt es jede Menge weiterer Positionen. Dabei ist klar: Solange der einzelne Mensch in seinem Denken und Verhalten nichts verändert, sondern morgen genauso denkt und handelt wie heute, bleibt alles beim Alten. Dazu kommt, dass die einzelnen Menschen nicht unabhängig voneinander agieren, sondern Teil des durchaus komplexen sozialen Systems «Unternehmen» sind, in dem es Beziehungen und Abhängigkeiten gibt, eine Historie und gespeicherte Erfahrungen sowie die Fähigkeit der Selbststabilisierung. Letztere ist etwa bei einem Führungswechsel beobachtbar: Die davon Betroffenen richten ihr Verhalten zügig an den neuen Macht- und Einflussstrukturen aus, unabhängig davon, ob das unternehmerisch günstig und so gewünscht ist. Zudem sind Menschen aus konstruktivistischer Sicht als autopoietisch zu verstehen (Stangl, 1989). Das bedeutet, dass der Einzelne seine Existenz und sein Verhalten aus sich heraus erzeugt, seine Zustände und Zustandsänderungen selbst steuert, seine Beziehung zu seiner Umgebung selbst wählt und gegenüber dieser autonom ist. Oder anders gesagt: Jeder Mensch entscheidet basierend auf seiner eigenen Wahrnehmung über den Sinn und die Machbarkeit einer anstehenden Transformation. Jeglicher Versuch des Verordnens oder Überstülpens von Veränderungen muss also fehlschlagen. Vielmehr kommt es darauf an, das Angebot «Change» so zu gestalten, dass es eher anzieht als abstößt.

Emotionen sind der Schlüssel
Wie geht das? Die Grundhaltung dazu ist, Change-Programme so anzugehen, dass Menschen bereit sind, Selbstveränderungen zu initiieren, die günstig sind für die gewünschte unternehmerische Richtung – also den Fokus auf das zu legen, was Menschen brauchen, um sich auf Veränderungen einzulassen. Entscheidend dafür ist das Verständnis, dass Menschen sich dann bewegen, wenn sie emotional dabei sind (Lederer, 2022). Sind sie nur rational dabei, bewegen sie sich nur mit Mühe (siehe Kasten S. 57). Zwar ist diese Erkenntnis nicht neu, gleichwohl fehlt in der Regel das Verständnis dafür und folglich auch die Umsetzung. «Bei uns wird rational und sachorientiert entschieden, Gefühle haben dabei nichts verloren», ist die überwiegend anzutreffende Einstellung; also Sachorientierung statt Menschenorientierung. Damit ist in puncto Change kein Staat zu machen. Die Notwendigkeit der emotionalen Zustimmung zu ignorieren, ist die prominenteste Ursache für die geringe Erfolgsquote von Veränderungsvorhaben. Menschen sind keine hochgradig rationalen Wesen, denen man nur erklären müsste, was warum nötig ist, damit sie gewohnte Verhaltensmuster ändern. Unzählige Veränderungsprogramme, in denen es nicht oder nur sehr zäh vorangeht, sprechen eine deutliche Sprache. Sowohl Sachorientierung als auch Menschenorientierung ist die Lösung.

 

Die Salutogenese hilft
Damit stellt sich die nächste Frage: Wie kann emotionale Zustimmung erreicht werden? Eine überaus nützliche Handreichung dafür sind die Prinzipien der Salutogenese, die auf Forschungen des amerikanisch-israelischen Medizin-Soziologen und Stressforschers Aaron Antonovsky zurückgehen (Antonovsky, 1997). Deren essenzieller Kern ist, dass es Menschen gut geht und sie ein Grundvertrauen darin empfinden, an sie gestellte Anforderungen bewältigen zu können, wie etwa diejenigen, die aus Change-Programmen kommen, wenn Sinnhaftigkeit, Verstehbarkeit und Handhabbarkeit gegeben sind – und zwar aus der individuellen Perspektive des und der Einzelnen. Die Summe dieser drei Aspekte nennt Antonovsky Kohärenzgefühl. Das Spannende daran ist die Einfachheit bei gleichzeitiger Wirksamkeit, mit der diese Prinzipien in der Praxis anwendbar sind. Im Grunde wird daraus ein Filter, mit dem sämtliche Aspekte und Aktivitäten einer Change-Initiative bewertet werden können (siehe Kasten). Sowohl mit Blick auf die Veränderungsstrategie als auch auf Führung, Kommunikation, Umsetzung etc. fragt man sich, ob aus Sicht der Betroffenen Kohärenz gegeben sein kann, und steuert nach, falls nicht. Die gute Nachricht: Die konsequente Anwendung bringt unmittelbar voran. Die schlechte: Man wird auf Widerstände treffen, denn es fehlt oft an Sensibilität und Einsicht dafür, dass derartiger «Psychokram» helfen kann. Eine von oben verkündete Veränderungsstrategie sowie eine Reihe Change-Manager und -Workshops werden es schon richten, oder? Nein, das werden sie nicht. Kohärenz entsteht u. a. dann, wenn Führungskräfte ihren Teams vermitteln können, was sich an ihren täglichen Abläufen  verändert, mit welchen Mitteln diese Veränderungen umgesetzt werden und wie das zum gewünschten unternehmerischen Nutzen beiträgt. Die Erfolgsaussichten derart getrimmter Transformationsprozesse steigen signifikant, da via des Abklopfens auf Kohärenz bereits im Vorfeld die Weichen Richtung hoher Akzeptanz gestellt werden. Umgekehrt ist bei schiefgehenden Veränderungen zu beobachten, dass mindestens eines, häufig
sogar zwei oder alle drei Kohärenzprinzipien nicht erfüllt sind.

 

 

 

 

 

 

 

 

Cut-off-Punkt
Ein weiterer Punkt verdient besondere Aufmerksamkeit: Das Vermeiden von Überforderung beim Change, und zwar sowohl des Unternehmens als Ganzes wie auch des Managements und der Belegschaft. Überforderungsvermeidung ist sowohl im Kontext des Fokussierens auf den unternehmerischen Nutzen relevant, siehe oben, als auch mit Blick auf das menschenorientierte Gestalten von Change. Dabei spielen einerseits Kontextwechsel aufgrund von Unterbrechungen der «regulären Arbeit» durch vielfältige Change-Aktivitäten eine Rolle. Diese führen nicht nur zu einem Mehrbedarf an Zeit und Ressourcen aufgrund der erforderlichen Re-Fokussierung, sondern auch zu einem gesteigerten Stressempfinden (Starker et al., 2022). Zwar sind die Effekte solcher Kontextwechsel bekannt, doch wird in Transformationsprozessen kaum Rücksicht darauf genommen. Gang und gäbe ist die Metapher vom «Umbau des Vehikels bei voller Fahrt», die die sofortige produktive Anwendung des Neuen erwartet, ohne Spielraum dafür einzuräumen – offensichtlich eine Illusion.
Andererseits bedeutet das Sich-Einlassen auf Veränderungen, unbekanntes Terrain zu beschreiten und damit per se Unsicherheit und Belastung. Die Neurobiologie verweist darauf, dass unser Gehirn viel leichter und mit deutlich geringerem Energieaufwand gewohnte Pfade beschreitet als neue (Roth, 2007). Das Bilden neuer Verknüpfungen im Gehirn braucht Aufmerksamkeit und Wiederholungen. Kein Wunder also, dass Überforderung ein schlechter Ratgeber für Change-Prozesse ist und dem Beibehalten eingeübter Arbeitsweisen bzw. dem Rückfall dazu Tür und Tor öffnet. Daraus folgt: Wenn Veränderungen gelingen und zum «neuen Normal» werden sollen, braucht es Spielraum. Weder mit Blick auf Kontextwechsel noch auf den Lernvorgang im Gehirn, funktioniert «viel hilft viel», ganz im Gegenteil. Der einzelne Mensch wie das ganze Unternehmen vertragen nur eine sehr begrenzte Anzahl an Change-Vorgängen, wenn der Fokus nicht verloren gehen und die Erfolgswahrscheinlichkeit hoch sein soll. Als Faustregel kann gelten: Zwei größere und zwei kleinere Change-Vorgänge sind der Cut-off-Punkt für den einzelnen Menschen, etwa zehn Prozent der Personalkapazität derjenige fürs ganze Unternehmen – siehe den Aspekt der Handhabbarkeit Handhabbarkeit aus der Salutogenese. Das überrascht viele Führungskräfte, wenn sie an ihre unüberschaubare «Change-Tapete» denken. Zudem kommt häufig das Argument, dass eine derartige Begrenzung zu langsam mache gegenüber dem Wettbewerb. Doch das zieht nicht, denn nichts macht langsamer als misslingende Change-Programme, von denen es gemäß Statistik nach wie vor viel zu viele gibt.

«Der einzelne Mensch wie das ganze Unternehmen vertragen nur eine sehr begrenzte Anzahl an Change-Vorgängen.»

Fazit

Es ist an der Zeit, den unternehmensschädlichen Trend mehrheitlich fehlschlagender Veränderungsprozesse umzukehren. Die konsequente Fokussierung auf deren unternehmerischen Nutzen sowie die  Berücksichtigung dessen, was Menschen brauchen, um neue Wege einzuschlagen, sind zwei wirksame Mittel der Wahl. Beide erlauben die einfache Bewertung von Change-Programmen hinsichtlich ihrer unternehmerischen Tauglichkeit. Diese Bewertung führt einerseits zur Reduktion der Change-Last in Unternehmen und andererseits zu einer deutlich höheren Erfolgsrate. Das ist nicht nur in Zeiten knapper Ressourcen eine Win-win-Strategie.

 

Dr. Dieter Lederer
Unternehmensberater, Executive-Coach, Autor und Investor Dr. Lederer Consulting GmbH

 

Literatur:

• Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. dgvt.
• Lederer, D. (2022). Der Change-Code. Wiley.
• Roth, G. (2007). Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Klett-Cotta.
• Sackmann, S. & Schmidt, C. (2018). Change-Fitness-Studie 2018. Mutaree GmbH & Universität der Bundeswehr München.
• Schiffer, E. (2013). Wie Gesundheit entsteht. Beltz.
• Stangl, W. (1989). Das neue Paradigma der Psychologie. Vieweg.
• Starker, V., Bracht, E., Roos, K. & van Dick, R. (2022). Gehirngerechtes Arbeiten. OrganisationsEntwicklung, 4, 76-78.


Raus aus der Anpassungsfalle

Weshalb Agilität kein Allheilmittel ist

Von agilen Methoden ist es gedanklich ein kurzer Weg zur agilen Organisation. Dieser Begriff vermittelt allerdings eine falsche Vorstellung: dass Anpassungsfähigkeit die Voraussetzung für Kundenfokussierung sei. Um im Markt bestehen zu können, müssen sich Unternehmen jedoch vom Wettbewerb differenzieren, sich also eine einzigartige Marktpositionierung erarbeiten. Mit einer agilen Organisation erreichen sie das Gegenteil.

In einer anderen, gar nicht so fernen Welt stand Digitalisierung ganz oben auf der Management-Agenda. Um 2015 wurde die agile Transformation als Königsweg zur Digitalisierung beschrieben. Heute hingegen schlagen wir uns mit fragilen Lieferketten herum. Auch für diese Volatilität empfiehlt Agilität sich als wirkungsvolles Werkzeug. Ein und derselbe Ansatz für strategische Aufgaben, für den Blick in die ferne Zukunft, genauso wie für das schwankende Tagesgeschäft – ist dies möglich?

Krisenkompetenz ist zweifelsohne eine Stärke agiler Ansätze: Denn Agilität sorgt für die Fähigkeit eines Unternehmens, einer Abteilung oder eines Teams, sich rechtzeitig an sich ständig wandelnde Umgebungen anzupassen. Im Fokus steht also die Adaption an etwas Gegebenes. Um auf diese Weise erfolgreich zu sein, muss eine agile Organisation erstens schnell genug die Notwendigkeit einer Neuausrichtung erkennen und diese dann auch durchführen können. Außerdem muss durch den Vollzug der Anpassung die Organisation Wert schaffen, für den die Kundinnen und Kunden Geld in die Hand zu nehmen bereit sind. In Bezug auf die Marktpositionierung postulieren agile Ansätze also eine klare Rollenverteilung zwischen Kundensicht und Umsetzung, zwischen Prinzipal und Agent: Die Repräsentantin der Kundensicht artikuliert ihre Wünsche, die agile Organisation führt sie – einige Iterationen später – aus.

In dieser Prinzipal-Agenten-Beziehung zeigt sich eine weitere Stärke agiler Ansätze, nämlich die mit der Kundennähe einhergehende Fähigkeit der Organisation, kontinuierlich hinzuzulernen, indem sie besagten Kunden immer besser versteht. Allerdings birgt diese «Customer Centricity» das Risiko, durch Fixierung auf bestehende Kund*innen brachliegendes Potenzial im Markt zu übersehen. Mehr noch: Wie Berner erkannt hat, gehen agile Ansätze eine Wette auf ruhige Zeiten ein – darauf, dass graduelle Anpassungen ausreichen werden, weil keine großen Veränderungen anstehen (Berner, 2017).

Moment: Steht Agilität nicht stellvertretend für Innovation, und Iteration für einen Inkubator, der in schnellen Schritten überzeugende Lösungen liefert? Zu dieser Wahrnehmung hat maßgeblich die Namensgebung des agilen Manifests beigetragen: Verfasst hat dieses eine illustre Runde von Softwaretechnikern Anfang 2001, mehr als ein halbes Jahr vor den Verwerfungen des 9/11. Agil, das klingt wie der schnelle Weg zum Erfolg, auf der Überholspur in die Zukunft. Einer der bekanntesten Protagonisten, Jeff Sutherland, rief auf den Stuttgarter Scrum Days in Erinnerung, dass auch der Name «Adaptive» diskutiert worden sei – weniger fancy als das siegreiche «Agile Manifesto», aber mit einer klaren Aussage, worum es bei Agilität wirklich geht: Nämlich, dass Anpassungsfähigkeit darauf zielt, fokussiert zu bleiben – auf Augenhöhe mit den Kund*innen.

 

Überdehnung des Konzepts

Ungeachtet der Intention des Agilitätsbegriffs, haben agile Beraterinnen und Berater das Anwendungsfeld systematisch ausgeweitet, bis es schließlich die agile Organisation umfasste – aus einer Fähigkeit wurde ein Paradigma. Diese Unterscheidung ist essentiell, denn es geht um weit mehr als eine semantische Differenz oder eine Hyperbel als Beratermarotte. Tatsächlich wurden bestehende Methoden und Praktiken in den agilen Kanon eingemeindet, die ursprünglich dazu entwickelt wurden, Antworten auf vollkommen andere Fragestellungen zu entwickeln als eine Prinzipal-Agenten-Bindung zu verstetigen: Während Anpassungsfähigkeit darauf zielt, eine artikulierte Kundenerwartung umzusetzen, versucht etwa «Design Thinking», bislang nichtartikulierte Bedürfnisse zu erkennen – hier geht es nicht um das Wie der Umsetzung, sondern um das Was. «Business Model Innovation» und «Lean Startup» greifen dann diesen Impuls auf und behandeln Fragen der Wirtschaftlichkeit und Machbarkeit, also «Proof of Concept» und «Proof of Value» (vgl. Abbildung 1). Mit der Vermengung der Sichtweisen wurde der Agilitätsbegriff nicht nur durchmischt – sondern überdehnt. Denn in der Fachöffentlichkeit entstand die Wahrnehmung, dass sich in der digitalen Zukunftswelt nur diejenigen Unternehmen behaupten können, welche sich zu einer agilen Organisation transformieren. Das hat Konsequenzen für die eingemeindeten Methoden, weil dadurch deren Stoßrichtungen verwässert werden: Wenn alles der Prinzipal-Agenten-Beziehung unterliegt, zählt nur noch das Wie der Umsetzung. Strategische Fragestellungen geraten dadurch rasch aus dem Fokus.

 

 

Mehr noch: Als Organisationsparadigma missverstanden, behauptet Agilität, dass es ein für alle Unternehmen gültiges Paradigma geben könne, ungeachtet des Zwecks der Unternehmung oder ihrer Stellung im Markt. Das Groteske daran ist, dass die meisten Agilistinnen und Agilisten betonen, dass es keine allgemeingültigen Blaupausen geben dürfe – «Best Practices» spiegelten nur die Vergangenheit wider und nicht die spezifische Situation im eigenen Haus. Während also Erfolgsmuster nicht von einer Organisation zur nächsten übertragen werden dürfen, verkünden hier die Agilistinnen das Gegenteil: Wer sich nicht das agile Paradigma zu eigen macht, ist im turbulenten Markt zum Scheitern verurteilt. Diese Vorstellung überdehnt den Begriff der Agilität, weil sie mehr verspricht als Anpassungsfähigkeit zu leisten vermag. Nick Hasslam bezeichnet diese konzeptionelle Überdehnung, die der semantischen folgt, als Concept Creep (2016).

Ein Ordnungsruf

Tatsächlich ignoriert dieses Agilitätsverständnis – Customer Centricity – die wichtigste Aufgabe eines Unternehmens, nämlich sich mit einem einzigartigen Wertangebot unverzichtbar zu machen. Aktive Marktgestaltung als Zweck der Unternehmung formulierte Peter Drucker 1954 als Auftrag: to create a customer. Wahrscheinlich sind in der Praxis die meisten Unternehmen zu bequem, denn die Strategieliteratur besteht seitdem aus einer Abfolge von Ordnungsrufen im Druckerschen Geist: Nehmen wir Porter mit seinen «Five Forces» (1979), Mauborgne und Kim mit ihrer «Blue Ocean Strategy» (2005) und Christensen mit seinen «Jobs to be done» (2016): Alle Ansätze haben gemein, dass man sich als Unternehmen unterscheiden muss. Es geht nicht nur darum, seine Nische zu finden, sondern sich selbst den Kunden zu schaffen – durch die Antizipation eines Bedarfs mitsamt der passenden Lösung. Das ist mit der Aussage gemeint, dass Agilität nicht auf Innovationen abzielt. Oder, um von Karl-Heinz-Bohrer (2001) zu borgen: «Anschlussfähigkeit, also der Gegenbegriff zur Innovation, wurde zum Kriterium des Konformismus.»

Agilität schwimmt stattdessen mitten im roten Ozean, um das Bild von Mauborgne und Kim aufzugreifen. Trotz der Proklamation von Graswurzel-Spirit und «Bottom-up» ist sie ihrem Wesen nach opportunistisch. Dafür sorgt die klare Prinzipal-Agent-Stellung: Aufgabe des Teams ist, den Kundinnen und Kunden zu lauschen und diese mit Lösungsvorschlägen für ihre Erwartungen zu überzeugen. Agilität beschreibt sich damit im Kern als Continuous-Technik, bei der Entwicklung und Konzeption nicht voneinander zu trennen sind. Mit der Bottom-up-Perspektive geht sie von Anwenderproblemen aus. Wie in Christensens «Innovator’s Dilemma» übersieht ein gegenwartsorientierter Anbieter in der Regel, wann es Zeit für einen Neuanfang ist (1997). Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beginnen, sich mit den gewohnten Prozessen und den von ihnen entwickelten Produkten zu identifizieren. Gemeinsam mit dem Bestandskunden als Prinzipal wird die bestehende Lösung dann zu lange verfeinert – gleichzeitig wird dabei übersehen, dass sich in der Zwischenzeit eine neue Anbieterin ein ordentliches Stück vom Kuchen abgeschnitten hat. Falscher Fokus oder einfach blöd gelaufen: Die Innovation erfolgte außerhalb des eigenen Strategiekorridors (Barton, 2018). So hilfreich Anpassungsfähigkeit und Customer Centricity für die Umsetzung sind – als Paradigma führen sie irgendwann in die Sackgasse.

Was man sich nicht von Agilität versprechen sollte

Das Kernproblem besteht darin, dass die Agentin aus ihrer Froschperspektive die Gegenwart in die Zukunft fortschreibt: In Verbindung mit der engen Kundenbindung wird zyklisch-iteratives Denken irgendwann kurzsichtig. Dessen Stärke bei der Umsetzung führt, wenn nicht bewusst gegengesteuert wird, in die strategische Anpassungsfalle: Statt sich im Druckerschen Sinne seinen eigenen Kunden zu erschaffen, werden die Strategien anpassungsgetriebener Unternehmen rasch generisch, also austauschbar. In den Worten von Alexander Nicolai verleitet die Agilitätsrhetorik dazu, «sich an eine Umwelt anzupassen, die sich ständig verändert. Sie verrät ihnen aber nicht, wie sich aus einer derartigen Umwelt eine kohärente, zukunftsorientierte Form der Unternehmensentwicklung ableiten lässt» (Nicolai, 2020).

Die agile Unternehmenskultur leistet einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Opportunismus: Die Stärke von Agilität, Silos aufzubrechen und Kommunikation zu fördern, wendet sich gegen die eigene Organisation, wenn eine Kultur entsteht, die sich neue, selbstbezogene Orthodoxien schafft. Mit diesem Problem hat sich Adam Grant bereits 2016 auseinandergesetzt: Laut dem Organisationspsychologen von der Wharton School der University of Pennsylvania sorgt ein starker Gruppenzusammenhalt für Homogenität, die mit der Zeit zu erstarren droht. Schließlich sind die agilen Formate zur Koordination erfunden worden, nicht dazu, sich eigener Wahrnehmungsverzerrungen gewahr zu werden (Sprenger, 2020). Für den Blick von außen sorgt in der Softwareentwicklung die Product Ownerin. Bei einer agilen Organisation hingegen fehlt ein echter Prinzipal. Spätestens, wenn Kritikerinnen und Kritiker sich aus Sorge um den Gruppenfrieden zurückhalten, versandet die Aufgeschlossenheit für alternative Perspektiven. Mit der Konfliktdynamik wird auch die kreative Spannung umgangen – die Stärke agiler Formate dreht sich mittelfristig in ihr Gegenteil um: Nach Held und Geißler droht die Organisation erst zu erblinden und sich dann vor Neuerungen zu fürchten (2020): «Im Modus der operativen Reproduktion (mehr desselben!) birgt das Neue immer auch eine potenzielle Bedrohung.» Diese Reproduktion ist nicht auf das Ausgangsprodukt beschränkt – der radikale Konstruktivismus von von Förster bis Maturana arbeitet sich an der Homöostase sozialer Systeme ab. Agile Formate verstärken diese Tendenz signifikant.

Konkret nachgewiesen wurde dieser Verlust des strategischen Fokus am MIT bei Stand-up-Meetings, einem Kernformat vieler agiler Ansätze (vgl. Abbildung 2)(Wu & Duckach, 2021): Mit Projektdruck und Deadline im Hinterkopf sorgten die Teammitglieder für eine bessere Koordination untereinander und konzentrierten sich darauf, auf den Termin zu liefern. Raum für Experimente blieb bei den untersuchten Teams allerdings auf der Strecke. Das Ergebnis ist eine kognitive Verengung (Kaduk et al., 2013), denn der kurzzyklische Zusammenschluss aller Beteiligten rückt das Tagesgeschäft und die Umsetzung in den Fokus. Im Gegenzug wird das Denken in Alternativen und Innovationen vernachlässigt. Denn: In der Design-Thinking-Sprache haben sich die beobachteten Teams bequem im Lösungsraum eingerichtet.

Ein anschauliches Beispiel für die Gefahren der Engführung lieferte ein agiler Pionier aus Berlin: Nach zehn Jahren agiler Entwicklung konnte das Unternehmen sein Software-Produkt fast nicht mehr weiterentwickeln: Das Produkt war verbaut. Über Jahre angehäufte technische Schulden bewirkten, dass spätere Teams von Entwicklerinnen und Entwicklern den Überblick verloren hatten. Die Schulden entstanden, da den Teams kein Sparring-Partner gegenüberstand, kein Prinzipal in Form eines kritischen Product Owners (Meseberg, 2014).

«Als Organisationseigenschaft braucht Anpassungsfähigkeit Führung.»

 

Agilität ist also ein Wertesystem zweiter Ordnung: Es braucht den Anstoß, nicht das große Ganze aus dem Blick zu verlieren und regelmäßig Wozu und Wohin zu hinterfragen (Hummel & Stehle, 2022). Als Organisationseigenschaft braucht Anpassungsfähigkeit Führung – wenn die Richtung feststeht, können sich die agilen Teams selbst organisieren und sich um die Ausgestaltung kümmern. Die Behauptung einer agilen Transformation als übergeordnetes Paradigma hingegen bleibt ein Plastikwort (Pörksen, 1992). Hopp oder top, das ist die postulierte Dichotomie der agilen Transformation. Allerdings unterschlägt die Unversöhnlichkeit zwischen Anpassung und Untergang, dass Organisationen zum Glück über weit mehr Handlungsmöglichkeiten verfügen.

Der Zukunft eine Richtung geben

Wenn es im Sinne von Peter Drucker die zentrale Aufgabe eines jeden Unternehmens ist, sich seine Kundin zu verschaffen, dann muss die Organisation von diesem Zweck hergedacht und aufgestellt werden. Wie im Reverse Engineering geht es also darum, die Organisation vom Ende her zu denken. Jedes Unternehmen muss für sich prüfen, wie es in Bezug auf diese imaginäre Kundin aufgestellt ist – möglicherweise benötigt es ja die Organisationsfähigkeit zur Anpassung gar nicht. Die minimalinvasive Devise lautet: Kein Change ohne Business Case. Und wenn ein Betrieb überzeugt davon ist, dass er von Agilität profitieren wird, muss er dennoch für sich die passende Dosis ermitteln.

 

«Jedes Unternehmen muss für sich austarieren, wie es sich auf die Wertschöpfung fokussieren will.»

 

Für einen Lohnfertiger mit großer Varianz ist Anpassungsfähigkeit sicher ein wichtiges Asset. Für einen Hersteller einzigartiger Produkte reichen möglicherweise partielle oder kleinere Interventionen völlig aus. Auch und gerade bei Organisationsfähigkeiten geht es um einen Strategie-Fit – capabilities follow strategy. Gemeint ist damit: Welche Fähigkeiten benötigt das Unternehmen, um den Geschäftszweck erfüllen zu können oder um sich dabei unterstützen zu lassen? Die generische Fähigkeit muss also zum Asset der Firma entwickelt werden. Frederic Laloux hat darauf hingewiesen, dass unterschiedliche Zwecke von Sub-Organisationen unterschiedliche Organisationsformen erfordern (2014). Dementsprechend müssen sich auch deren Fähigkeiten unterscheiden. Denn die «Organisation einer Organisation ist die Organisation einer Differenz» (Baecker, 1997).

Jedes Unternehmen muss für sich austarieren, wie es sich auf die Wertschöpfung fokussieren will. Vier spezifische Spannungsfelder dichotomer Organisationsparameter aus dem Spektrum Zukunftsfähigkeit verdeutlichen dies:
1. Innen zu Außen
Was sind die Systemgrenzen des Unternehmens? Wie klar und durchgängig sind diese gestaltet und wie ist das Unternehmen in einem Ökosystem verankert?
2. Prinzipal zu Agent
Welche Sparring-Partnerin oder welcher Counterpart vermittelt den Teams Impulse und stört, wenn nötig, eingefahrene Routinen?
3. Explore zu Exploit oder Kontinuität zu Diskontinuität
Wie ist gesichert, dass das Stammgeschäft Erträge erwirtschaften kann, um Zukunftsvorhaben zu finanzieren?
4. Stabilität zu Wandel
In welchem Verhältnis stehen Veränderungen zu Beständigkeit, damit sich die Organisation und deren Mitarbeitende nicht überfordern?

Ähnlich könnten wir eine Liste von Organisationsfähigkeiten erstellen – wie eben auch Agilität. Doch bereits die kleine Auswahl an Parametern macht deutlich, dass die agile Organisation letztlich eine Phrase ist, die bei der Unternehmensführung und Organisationsentwicklung nicht weiterhilft. Wahrscheinlich kann es nicht einmal eine führende Organisationsfähigkeit als solche geben, sondern immer nur eine unternehmensindividuelle Antwort im Spektrum organisationaler Möglichkeiten. Dabei benötigen innovative Kulturen, wie Gary P. Pisano betont, einen spezifischen Mix scheinbar widersprüchlicher Verhaltensweisen (2019).

Wenn man sich auf ein Paradigma fokussieren möchte, dann Ambidextrie, verstanden als Händigkeit, die unterschiedlichen Fähigkeiten und Anforderungen in der Organisation so kohärent zu steuern wie möglich. Entschieden mehr Aufmerksamkeit als die Frage nach einem Paradigma verdient allerdings Governance. Genauer: deren Befähigung zur Händigkeit. Denn zu den Aufgaben von Governance gehört, Organisationsfähigkeiten zu führen, zu schützen und im jeweiligen Kontext zu orchestrieren. Das ist alles andere als selbstverständlich – denn natürlich unterliegt auch die Führung denselben Wahrnehmungsverzerrungen, wie sie die MIT-Forscher Wu und Dukach bei der Konzentration aufs Tagesgeschäft nachgewiesen haben.

Damit schlagen wir den Bogen zurück zur Anpassungsfähigkeit: Agile Ansätze sind kein Stand-Alone-Format, sondern ein Vehikel, mittels dessen ein Unternehmen sein Ziel besser zu erreichen vermag. Denn beim Wie der Umsetzung schaffen agile Vorgehensweisen einen zielführenden Rahmen: Gerade bei Unsicherheiten ermöglicht das kurzzyklische Vorgehen, aus Experimenten zu lernen. Die Organisation gewinnt dadurch in kurzer Zeit an Erfahrung. Agilität sorgt gewissermaßen für Härtung. Bei der Ausführung wiederum trägt Anpassungsfähigkeit zu Kontinuität bei – ein Asset, wenn digitale Dienste über einen langen Zeitraum gewartet und mit neuen Funktionen attraktiv gehalten werden sollen.

Eine Skizze eines solchen Organisationssettings ist der «Innovationsrahmen » (vgl. Abbildung 3). Hier werden bekannte nicht-agile Methoden wie Design Thinking, Business Model Innovation und Lean Startup entsprechend den Fragen angeordnet, die sie zu beantworten helfen. Auf der Antwort der Vorgängerfrage setzt also die nächste Methode auf, solange, bis eine umsetzungsreife Lösung entsteht. Das Beispiel zeigt, dass die spezifische Situation eines Unternehmens – nämlich: sich seinen Kunden zu schaffen – unterschiedliche Konfigurationen verlangt. Dementsprechend muss auch Anpassungsfähigkeit eingebunden werden. Entscheidend ist dabei, den unterschiedlichen Methodenfokus zu verstehen, um sich diesen zunutze machen zu können. Genauso wichtig ist allerdings, liebgewonnene Denkroutinen zu stören. Denn zur Zukunftsoffenheit gehört auch, Kontinuitäten zu hinterfragen, bevor sie zu Orthodoxien erstarren (Fitzgerald & Stol, 2017).

Fazit

Die agile Organisation avancierte vor gut sieben Jahren zu einer konzeptionellen Überdehnung dessen, was Anpassungsfähigkeit zu leisten vermag. Dazu gehörte die Behauptung, die Transformation sei unabdingbar, um die Chancen der Digitalisierung nutzen zu können. Allerdings wurde dabei Anpassungsfähigkeit, eine konkrete Organisationsfähigkeit, mit der Funktion eines übergeordneten Organisationsparadigmas verwechselt. Mit fatalen Folgen: Mit der Fixierung auf die agile Organisation ging der Fokus verloren, dass die wichtigste Aufgabe jedes Unternehmens darin besteht, sich seinen Kunden zu schaffen, also mit einem einzigartigen Wertangebot zu überzeugen.

Statt darauf zu hoffen, dank agiler Methoden irgendwie einen Weg in die Zukunft zu finden, muss sich jedes Unternehmen im Blauen Ozean seine Marktpositionierung aktiv erarbeiten. Hierzu ist ein Methodenmix erforderlich, der unterschiedliche Perspektiven zusammenbringt, mit denen jeweils unterschiedliche Fragen zu beantworten sind. In diesem Kontext ist auch ein agil-iteratives Vorgehen sinnvoll: zur Umsetzung und laufenden Feinjustierung der angestrebten Marktstellung.

 

Dominik Strube
Programmleitung Studienreihen Kugler Maag Cie by UL Solutions

 

Literatur

Drucker, P. (1954). The Practice of Management. HarperColins.
Baecker, D. (1997). Wieviel Organisation braucht die Organisation? Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, 18-25.
Meseberg, U. (2013). 10 Jahre agil. Das wurde teuer. Projektmagazin.
Barton, D. et al. (2018). Probleme zügig lösen. Harvard Business Manager, 36-38.
Nicolai, A. (2020). Aufbruch in das Ungewisse. Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, Heft 4, 46-51.
Rigby, D. K. et al. (2020). Doing Agile Right: Transformation Without Chaos. Harvard Business Review Press.
Wu, A. & Dukach, D. (2021). Kreativ geht anders. Harvard Business Manager, 18f.


New Work aus der Zukunft denken

Vision einer besseren Arbeitswelt

In seinem Buch New Work Utopia zeichnet Carsten Schermuly ein sehr plastisches Bild einer fiktiven Organisation der Zukunft, Stärkande, die sich in Struktur und Kultur konsequent an gut erforschten organisationspsychologischen Erkenntnissen ausgerichtet hat. In diesem Gespräch mit unserer Redakteurin Brigitte Winkler ermöglicht er uns einen Einblick in die konsequente New Work-Praxis von Stärkande. Darauf aufbauend erläutert er, wie Organisationen schon jetzt sowohl die Effizienz und Innovationsfähigkeit ihrer Organisation als auch die Bindung und Zufriedenheit von Mitarbeitenden aktiv gestalten können.

ZOE: Herr Prof. Schermuly, Sie skizzieren in Ihrem Buch «New Work Utopia» die Zukunftsvision einer besseren Arbeitswelt am Beispiel des fiktiven Unternehmens Stärkande. Derzeit fühlen sich zahlreiche Mitarbeitende und Führungskräfte überlastet von der zunehmenden Komplexität, oftmals verbunden mit erhöhtem Arbeitsvolumen und Informationsflut im Arbeitsalltag. Hat Stärkande hierauf bereits Antworten gefunden? Wie werden Mitarbeitende bei Stärkande unterstützt, damit sie sich auf das wirklich Wesentliche in ihrer Arbeit konzentrieren können?

Schermuly: Wenn man zum Wesentlichen kommen möchte, muss man dieses erstmal für sich definieren. Stärkander*innen haben sich sehr intensiv Gedanken dazu gemacht, was wichtig ist: Kreativität und Innovation bestimmen die Unternehmens-DNA und dementsprechend ist für diese Themen ein Zeitbudget reserviert. Bei Stärkander*innen ist es so, dass mit dem «New Time»-Ansatz 60 Prozent der Arbeitszeit für Routineaufgaben verwendet werden und 20 Prozent für Implementierungsarbeiten. Denn wenn etwas Neues erfunden wird, hakt es in Unternehmen häufig daran, dass nicht genug Zeit für die Umsetzung vorhanden ist bzw. etwas marktreif zu machen. Zehn Prozent sind jeweils für Kreativität reserviert, hier kann man wirklich auch cross-sektional zusammenarbeiten. Zehn Prozent sind vollkommen selbstbestimmt. Man kann schlafen, sich weiterbilden oder irgendwas ganz anderes tun.

ZOE: Stärkander*innen managen offensichtlich sehr bewusst die kostbare Ressource Zeit. Auf was achten sie besonders?

Schermuly: Stärkander*innen haben erkannt, dass Meetings durchaus sehr wertvoll sein können, um sich abzustimmen und zu koordinieren. Gleichzeitig wissen sie aber, dass zu viele Meetings die Produktivität und die Innovationsfähigkeit einschränken können. Deswegen haben sie sehr strikte Meeting-Regeln. Beispielsweise ist voreingestellt, dass ein Meeting maximal 30 Minuten dauern sollte. Vorher muss bekanntgegeben werden, worin der Sinn des Meetings besteht, wofür wiederum die Teilnehmenden ihre Zustimmung geben müssen. Damit wird verhindert, dass Menschen aus einer autoritären Kultur heraus einfach an Meetings teilnehmen, ohne deren Sinn zu hinterfragen. Was bei den Stärkander*innen ebenfalls sehr gut gelöst ist, um effizient zu arbeiten, ist die Zusammenarbeit mit der Künstlichen Intelligenz «Thufir». Thufir hilft innerhalb des Unternehmens Wissen zu kuratieren und unterstützt dabei, Entscheidungen vorzubereiten und kognitiv belastende und zeitintensive Tätigkeiten abzunehmen, wie z. B. Protokolle zu schreiben. Dadurch entsteht mehr Zeit für das Wesentliche.

ZOE: Auf welche Weise hält Stärkande seine Organisation und Arbeitsweise schlank und effizient?

Schermuly: Hier verwenden Stärkander*innen zahlreiche Methoden. Beispielsweise werden sehr regelmäßig Bureaucracy Buster durchgeführt. Im Alltag werden sie von der Künstlichen Intelligenz Thufir aufgefordert, darüber aktiv nachzudenken, an welchen Stellen sich bürokratische Hindernisse entwickelt haben und zu bewerten, wo der größte Veränderungsbedarf besteht. Zu den Themen mit den meisten Stimmen trifft man sich in Bureaucracy Bustern und versucht, unnötige Bürokratie wieder aus dem System herauszubekommen. In diesen Meetings sind sowohl die Erfinder*innen der Regeln als auch jene, die von den Regeln betroffen sind, dabei. Spannend ist, dass es durchaus einige Beispiele dafür gibt, dass Regeln und Bürokratie diesen Prozess überlebt haben. Durch den Bureaucracy Buster wurde verstanden, dass die Regel sinnvoll ist und ggf. nur etwas angepasst werden muss. Danach lebt es sich verständlicherweise dann auch besser mit diesen Regeln. Stärkander*innen führen jedoch auch immer wieder sogenannte «Sterbe-Workshops» durch. In diesen werden Themen begraben, damit wieder Zeit und Kraft für andere Bereiche frei wird. Unternehmen wundern sich oft, dass trotz ihres Fokus auf Innovation so wenig Neues entsteht. Das hat damit zu tun, dass Altes nicht beerdigt wird. Es wird an Produkten festgehalten, die nicht mehr laufen oder an Abteilungen, die nicht mehr am State of the Art arbeiten. Was die Organisation außerdem effizient und schlank hält, ist die von Thufir gesteuerte digitale Unterstützung. Es gibt eine Role Map und eine Skill Map, in denen Stärkander*innen mitteilen, welche Rollen sie momentan besetzen und welche Aufgaben und Kompetenzen sie haben. Doppelarbeit wird verhindert, indem die Künstliche Intelligenz Überschneidungen identifiziert, an denen Personen am gleichen Thema arbeiten bzw. ermittelt, wer für ein Thema die Kompetenzen vorhält, und hierfür gemeinsame Treffen vorschlägt.

ZOE: Mir hat die Idee des Desk Connectors sehr gut gefallen, der Stärkander*innen schon bei Arbeitsbeginn vorschlägt, welcher Arbeitsplatz mit welchen Kontaktmöglichkeiten für ihre derzeitigen Aufgaben am sinnvollsten ist.

Schermuly: Der Desk Connector ist einer der bestbezahlten Jobs bei Stärkande. Das ist nicht gleichzusetzen mit einem herkömmlichen Empfang. Der Mehrwert dieses Teams besteht in der intelligenten Vernetzung der Kolleg*innen miteinander.

ZOE: Unter anderem wird bei Stärkander der Einsatz von Führungskräften sehr dosiert vorgenommen. Jedoch wird nicht an deren Qualität gespart, sondern an der in Anspruch genommenen Führungsleistung. Es gilt das Prinzip Leadership on Demand. Wie sieht dieses in der Praxis aus?

Schermuly: Derzeit herrscht in Unternehmen noch vielerorts das Prinzip, dass jede Person geführt werden muss. Das halte ich für eine große Verschwendung von Zeit und Ressourcen und eine Einschränkung von Freiheit, die nicht gerechtfertigt ist. Denn es gibt viele Teams, die ohne Führung erfolgreich zusammenarbeiten können. Stärkander*innen haben erkannt, dass Führung freiwillig und sinnvoll sein sollte. Das Qualitätsversprechen lautet, dass, wenn geführt wird, gute, empowermentorientierte Führung mit den Dimensionen Selbstbestimmung, Bedeutsamkeit, Einfluss und Kompetenz umgesetzt wird. Alle, die als Führungskraft fungieren wollen, durchlaufen ein Assessment; jedoch nur, wenn sie im Alltag von den Kolleginnen und Kollegen bereits entsprechend als gute Führungskraft wahrgenommen wurden. Jeder darf hier einen Vorschlag machen. Wenn mehrere Personen als besonders für Führungsaufgaben geeignet erscheinen, geht das Unternehmen auf die Kolleginnen und Kollegen zu und führt ein Assessment durch. Die Übernahme von Führungsarbeit wird gehaltlich zusätzlich honoriert.


Die Teams, also die Kreise, in denen die Stärkander*innen organisiert sind, entscheiden selbstständig, ob sie als Kreis geführt werden wollen oder nicht. Die Mehrheit der Teams entscheidet sich dafür. Es kann jedoch auch sein, dass ein Team beschließt, nur für eine kritische Phase eine Führungskraft einzusetzen, die koordiniert, Feedback gibt, motiviert und vielleicht Konflikte schlichtet. In ruhigeren Phasen kann möglicherweise wieder auf Führung verzichtet werden. Und so wird Führung zu etwas Fluidem, das wechseln kann. Es gibt viele Kreise bei Stärkande, die einfach immer geführt werden, weil sie selbst keine Lust darauf haben, Koordinationsaufgaben zu übernehmen, Konflikte zu lösen oder die Abstimmung mit anderen Einheiten des Unternehmens vorzunehmen.

ZOE: Können sich die Mitarbeitenden ihre Führungskraft selbst auswählen?

Schermuly: Es werden drei Führungskräfte vorgeschlagen. Aus diesen dürfen die Kolleginnen und Kollegen auswählen, mit wem sie am liebsten zusammenarbeiten würden. Meist findet sich eine passende Führungskraft. Jedoch gibt es auch den Fall, dass die Führungskraft es ablehnt, mit einem bestimmten Team zusammenzuarbeiten, z. B. wenn bestimmte Kreise Führungskräfte nicht gut behandeln. Führung ist ja eine Ko-Kreation. Daher kann es Situationen geben, wo sich in einer Phyle als höherer Entität, in der die Kreise zusammengefasst werden, für einen Kreis keine Führungskraft für ein bestimmtes Team findet. Hier müssen Teams an sich arbeiten, um anschlussfähiger zu werden.

ZOE: Jetzt haben Sie schon den Begriff Phyle erwähnt. Es wurde eine neue Organisationsform bei Stärkande kreiert, die Holohier, welche die Vorteile von Hierarchie und Holokratie miteinander verbindet. Wie sieht dieses Organisationsmodell genau aus?

Schermuly: Genauso wie eine Hierarchie, hat auch die Holokratie Stärken und Schwächen. Die Hierarchie schränkt ein, Informationen fließen nicht so gut und das macht langsam. Bei der Holokratie werden Kolleginnen und Kollegen Führungsaufgaben übergestülpt. Das kann zu Überforderung führen und den Alltag einer Organisation extrem komplex machen. Auch tritt das sogenannte Autonomieparadox auf. Ab einer gewissen Höhe an Autonomie kehren sich deren positive Wirkungen in negative Konsequenzen um. Teilweise beschäftigt man sich dann stärker mit seinem Organisationssystem als mit den Produkten oder mit der eigentlichen Geschäftsidee. Die Holohier ist der Versuch, beide positiven Aspekte zu verbinden und gleichzeitig die negativen Nebenwirkungen abzuschwächen. Stärkander*innen orientieren sich an der sogenannten Dunbar-Zahl. Zusammenarbeit funktioniert nach anthropologischen Erkenntnissen am besten, wenn Menschen in Entitäten von maximal 150 Leuten zusammenarbeiten. Das ist heute noch so. Möglicherweise hat man 8.000 Linked-in-Bekannte, aber Personen, mit denen man intensiver zusammenarbeitet, das sind maximal 150 Menschen. Stärkander*innen organisieren sich dementsprechend in einem sozialen System von maximal 150 Personen, den sogenannten Phylen. Wenn die Phyle wächst, weil sie z. B. erfolgreich ist, muss eine neue gegründet werden. Die Mutterphyle wird zur Geburtshelferin einer neuen Phyle. In diesen Phylen gibt es Kreise als kleinste soziale Einheit. Diese entscheiden selbstständig, ob sie geführt werden wollen oder nicht. Phylarch*innen sind Führungskräfte, die es in der Holokratie nicht gibt. Diese schließen sich wiederum in einen sogenannten Council zusammen und versuchen dort die Governance- und Verteilungsprobleme, die jede soziale Einheit hat, selbstständig zu klären, Strategien zu entwickeln und die Richtung vorzugeben. Hat ein Team sich entschieden, ohne Führungskraft zu arbeiten, muss es sich bei wichtigen Entscheidungen dafür Zeit einräumen, um im Council vertreten zu sein. Gleichzeitig hilft eine Support-Crew dabei, dass Einheiten gut zusammenarbeiten können. Jede Phyle entscheidet selbständig, welcher Support benötigt wird, z. B. IT- oder juristische Kompetenz oder z. B. einen Koch oder eine Köchin. So kombinieren sich die Elemente der Hierarchie mit den Selbstorganisationsprinzipien der Holokratie.

ZOE: Lassen Sie uns zum Thema Kultur der Innovation und kontinuierlichen Erneuerung zurückkommen, die fest in der DNA von Stärkande verankert ist. Gibt es weitere Mechanismen, die dazu beitragen, diese aufrechtzuerhalten?

Schermuly: Spannend finde ich, dass das kulturelle Leitbild von Stärkande sehr detailliert benennt, welche Werte und Normen gelten sollen und welche nicht. Innovation wird als Überlebensversicherung gesehen, damit die Produkte und Services von Stärkande nicht von anderen kopiert und eingeholt werden. Visualisiert wird dieses mit dem Bild des Pioniers oder der Pionierin, die raus gehen, Neues entdecken und erfinden. Jedem wird diese Innovationsfähigkeit unterstellt und daher Zeit für Kreativität zur Verfügung gestellt. Dazu gehört eine hohe Fehlertoleranz, die ebenfalls spezifisch als kultureller Wert benannt ist.

ZOE: Die Pioniere und Pionierinnen sind ja in den Büroflächen visuell sichtbar, um den Gedanken immer präsent zu halten …

Schermuly: Ja, man sieht Pionier*innen in Dokumenten, im Intranet oder man kann sich Thufir auch als Pionier darstellen lassen. Dadurch werden die Kolleginnen und Kollegen immer wieder daran erinnert, dass sie alle Pioniere sind. Die Idee wurde übernommen aus einem Unternehmen in Baden-Württemberg, einem Hersteller von Sicherheitselektronik.

ZOE: Was von den bisher diskutierten Ansätzen wäre auf andere Organisationen übertragbar?

Schermuly: Vieles davon halte ich nicht für utopisch. Man könnte sofort Bureaucracy Busters oder Sterbeworkshops einführen. Es bedarf Mut, darüber zu sprechen, was nicht mehr sinnvoll ist und nicht mehr zum Unternehmensleitbild passt. Hier unterscheiden sich Stärkander*innen von anderen Organisationen. Dass sie diesen Mut haben, das konsequent zu leben. Der konsequente Einsatz einer künstlichen Intelligenz zur Entlastung von Aufgaben und zur besseren Vernetzung anhand einer Role und Skill Map innerhalb eines Unternehmens wäre ebenfalls bereits jetzt digital möglich. Bei Stärkande wurde die Pflege des Systems dadurch erleichtert, dass ich meine Informationen einfach einsprechen kann und diese nicht mühevoll eintippen muss.

ZOE: Auch wenn Stärkande (noch) eine fiktive Organisation ist, so erscheinen viele der New Work-Arbeitsprinzipien – Axiome genannt –, nach denen Stärkande arbeitet, nicht unrealisierbar. Warum tun sich Organisationen so schwer, den New Work-Ansatz konsequent zu etablieren?

Schermuly: Häufig ist es so, dass die Mitarbeitenden in Unternehmen nicht genau wissen, welche Axiome d. h. Arbeitsprinzipien sie eigentlich leiten. Darüber denken die Stärkander*innen sehr intensiv nach. Sie nehmen sich Zeit, um über ihre Arbeitsprinzipien, ihre Axiome, bewusst zu sprechen. Nur dann kann man an den Arbeitsprinzipien wirklich arbeiten
und sie sukzessive anpassen.

 

Des Weiteren sind bei der Implementierung von New Work verschiedene Perspektiven miteinzubeziehen, z. B. was bedeutet New Work für unseren Sicherheitsdienst? Wie sieht unser Betriebsrat diese Initiative? In einer modernen Organisation ist der Betriebsrat ein wichtiger Treiber für das psychologische Empowerment. Stärkander*innen nutzen die Organisationspsychologie als Zielbild, indem sie sagen, sie wollen dieses Empowerment bestehend aus Selbstbestimmung, Einfluss-, Sinn- und Kompetenzerleben erfahren und nutzen. Die Personalabteilung, die häufig in deutschen Unternehmen sehr ohnmächtig ist, treibt bei Stärkande
diesen Prozess voran. Die Einführung von New Work ist kein Prozess, den man generalstabsmäßig planen kann, sondern ein langer Weg, auf dem man kontinuierlich an sich arbeitet und wo Führungskräfte und Mitarbeitende als wichtige Multiplikatoren agieren. Die Einbindung unterschiedlicher Perspektiven in New Work-Initiativen findet leider viel zu selten statt. Es werden schicke Beratungen von außen geholt, die dann den Transformationsprozess so anleiten, wie sie es woanders schon einmal gemacht haben. Das muss jedoch nicht unbedingt zum Unternehmen passen. Wirklich über Arbeitsprinzipien nachzudenken, diese bewusst zu machen und dann auch daran zu arbeiten – dafür fehlt es vielen Unternehmen an Zeit, aber auch teilweise an Reflexionspflicht.

«New Work wird momentan
um Transformationsprozesse wie ein
Schleifchen herumgewickelt.»

ZOE: In ihrem neuen Buch «New Work Dystopia» beschreiben Sie ebenfalls anhand eines fiktiven Unternehmens, Kaltenburg, was passiert, wenn unter dem Deckmantel New Work Einsparmaßnahmen umgesetzt werden. Was sind die größten Fehler bei der Umsetzung von New Work-Maßnahmen?

Schermuly: Die Mitarbeitenden von Kaltenburg sind nicht nur New Work-müde, sondern auch verängstigt, denn sie haben im Zusammenhang mit New Work viele Unsicherheiten erlebt. Das rührt daher, dass die Kaltenburger den Begriff New Work missbrauchen. Auch das passiert momentan bedauerlicherweise sehr häufig in deutschen Unternehmen. Hier ist die Dystopie der Realität leider sehr nahe. New Work wird momentan um Transformationsprozesse wie ein Schleifchen herumgewickelt. Beispielsweise wenn man 30 Prozent Mietfläche sparen will, was unternehmerisch vollkommen legitim ist, wird das Open-Space-Büro mit dem Etikett New Work versehen. Den Kaltenburgen werden Einspar- und Veränderungsprozesse mit dem Label New Work verkauft, was diese jedoch schnell durchschauen. Das geht natürlich an den ursprünglichen Zielen von New Work vorbei. So kann New Work schnell zum New Ork werden – etwas, das einst gut gedacht war, sich aber in eine falsche Richtung entwickelt hat. Den zweiten Fehler, den ich derzeit beobachte, ist, dass New Work zu stark aus einer Methode heraus gedacht wird. Man erfährt, dass Unternehmen X agile Projektarbeit eingeführt hat, dann macht man das auch. Ich denke, wir müssen New Work aus der Zukunft denken, und weniger als Methode.

ZOE: Was bedeutet das?

Schermuly: Das bedeutet, dass man sich als Unternehmen vergegenwärtigen sollte, in welche Zukunft wir uns bewegen. Welche organisationspsychologischen Voraussetzungen sind notwendig, um in dieser Zukunft erfolgreich zu sein. Erst dann kann man das passende Methodenspektrum auswählen und einsetzen. Fehlende Diagnostik führt zu verwirrendem Aktionismus. Die Kaltenburger machen einfach etwas und analysieren weder den Ist-Zustand noch setzen sie Instrumente ein, um zu sondieren, welche Voraussetzungen vorhanden sind, um eine gewisse Methode anzuwenden. Wie ein Arzt, der sofort operieren würde, ohne vorher eine Untersuchung durchgeführt zu haben. Es wird einfach gemacht und dann scheitert man, dann macht man wieder etwas und scheitert wieder. Die Mitarbeitenden assoziieren dann damit, dass New Work gescheitert ist. Das passiert in Kaltenburg und leider Gottes auch häufig in der Realität.

ZOE: Mit Stärkande haben Sie bereits eine sehr plastische Zukunftsextrapolation einer in vielerlei Hinsicht attraktiven Arbeitswelt geschaffen. Wahrscheinlich würde der Großteil unserer Leser*innen lieber bei Stärkande als ihrer derzeitigen Organisation arbeiten. Und trotzdem bleibt es eine Fiktion. Als differenzierter Beobachter von Organisationen – was sind die wesentlichen Herausforderungen der nächsten Jahre für Organisationen?

Schermuly: Ich glaube, alle Trends, die uns umgeben, sind bekannt. Der explodierende Wissenszuwachs, der demografische Wandel, der uns in Mitteleuropa beschäftigen wird, die Digitalisierung, das Thema Künstliche Intelligenz. Wir haben den Klimawandel, Deglobalisierung und Globalisierung, dies legt sich momentan alles als für uns erlebbare VUKA-Welt übereinander. Zukünftig müssen wir an der Harmonisierung von vier Bereichen arbeiten: der Mensch, die Aufgabe, die Technik und – durch Corona neu hinzugekommen – der Raum. Die hybride Zusammenarbeit von an verteilten Stellen arbeitenden Menschen ist in vielen Unternehmen noch nicht gelöst. Es ist nicht damit getan, Betriebsvereinbarungen zu schließen. Hier wird es wichtig, diese vier Bereiche mit psychologischem Know-how gut und harmonisch zusammenzuführen. Wir kommen damit in ein Zeitalter, in dem die Organisationspsychologie eine hohe Relevanz erfährt.

ZOE: Was müssten Führungskräfte und Mitarbeitende Ihrer Meinung nach an Problembewusstsein oder Kompetenzen neu hinzugewinnen?

Schermuly: Ich denke, Führungskräfte müssen darin unterstützt werden, zu erkennen, wie wirksam sie immer noch sind. Viele Unternehmen werden weiterhin Führungskräfte einsetzen. Wenn wir das Empowerment-Erleben als wesentliche positive Konsequenz von Führung sehen, dann können Führungskräfte dieses auf ganz verschiedene Art sowohl selbst erleben als auch bei anderen stimulieren. Unsere Forschung zeigt, dass das Empowerment-Erleben der Führungskräfte maßgeblich das Empowerment-Erleben der Mitarbeitenden stimuliert. Wenn ich als Führungskraft selbst Sinn in dem finde, was ich tue, und mich als selbstbestimmt und einflussreich wahrnehme, dann überträgt sich das auf die Mitarbeitenden. Ich kann das Empowerment-Erleben mit meinen Führungsverhaltensweisen unterstützen, indem ich coache, Verantwortung übertrage, sinnstiftend und als Vorbild auftrete sowie die passende Arbeitsgestaltung mit Mitarbeitenden zusammen angehe. Gleichzeitig ist es so, dass dies die Unternehmenskultur in ihren Strukturen auch zulassen muss. Ich erlebe häufig, dass Führungskräfte aufgefordert werden, auf eine gewisse Art und Weise zu führen, dass aber nur auf der Vorderbühne dieser Führungsstil gewünscht ist. Auf der Hinterbühne werden dann doch Personen befördert, die ganz anderes Verhalten zeigen. Und hier ist es wichtig als Unternehmen konsistent mit den eigenen Werten zu agieren.

ZOE: Der New Work-Ansatz ermöglicht Ihrer Meinung nach eine Balance zwischen den beiden grundsätzlichen Zielen Humanisierung und Effizienz. Sind diese beiden Ziele tatsächlich vereinbar? Was ist nötig, um hier eine gute Balance zu halten?

Schermuly: Metaanalytisch können wir zeigen, dass das Empowerment-Erleben mit zahlreichen positiven Konsequenzen, wie z. B. Innovationsleistung und Performance assoziiert ist, die auf beide Ziele einzahlen.  Empowerte Menschen sind leistungswilliger, proaktiver und leistungsstärker, was sich wiederum positiv auf deren Effizienz auswirkt. Zugleich erhöht sich die Arbeitszufriedenheit, die Bindung ans Unternehmen, die psychische Gesundheit und die Bereitschaft, erst später in Rente gehen zu wollen. Das ist für mich das Faszinierende und auch einer der Schlüssel, um beides zu erreichen: Zufriedenheit und Humanisierung und zugleich Effizienz, Innovation sowie Leistungsfähigkeit.

ZOE: Wie können Organisationsentwickler*innen diesen Prozess unterstützen und welche neuen oder zusätzlichen Kompetenzen werden hier erforderlich?

Schermuly: Es ist ein großer Vorteil, wenn Organisationsentwickler*innen viele Unternehmen kennen, damit sie quasi ethnologisch und psychologisch beobachten können, was funktioniert und was nicht. Diese Erfahrungen stärken die Beurteilungskompetenz. Ein weiterer Punkt ist eine solide organisationspsychologische Ausbildung und kontinuierliche Weiterbildung,in der man die evidenzbasierten Theorien und Konzepte kennenlernt, die für die Gestaltung von Führung, Zusammenarbeit und Organisationen derzeit Relevanz haben. Stärkande beruft sich z. B. auf evidenzbasiertes Managementwissen, welches durch einen wissenschaftlichen Beirat unterstützt wird. Viele Organisationen kaufen sich wissenschaftliche Expertise für ihre Produkte und ihr Marketing ein, jedoch nicht für die Gestaltung ihrer Organisationen, das ist erstaunlich. Weiterhin sollten Organisationsentwickler*innen in diagnostischen Methoden erfahren sein, um auf einer Diagnose dann die Interventionen zu planen. Die Grenzen zwischen Coaching, Personalentwicklung und Organisationsentwicklung verwischen, man braucht ein breites Methodenspektrum, um Organisationen bei ihrer Arbeitsgestaltung der Zukunft zu beraten. Zum Schluss brauchen Organisationsentwickler*innen Mut, Aufträge anzunehmen, aber noch viel mehr, um Aufträge abzulehnen, die einer positiven Zukunftsvision von guter Arbeit, die mit einem guten Leben einhergeht, entgegenstehen.

ZOE: Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Prof. Dr. Carsten C. Schermuly
Professor für Wirtschaftspsychologie an der SRH Berlin University of Applied Sciences, Vizepräsident für Forschung und Transfer

Prof. Dr. Brigitte Winkler
ZOE-Redakteurin, Geschäftsführende Partnerin von A47 Consulting, Beratung für Unternehmensentwicklung und Managementdiagnostik in München

 

Literatur:

• Schermuly, C. C. (2023). New Work Distopia. Scheitern im Wandel und wie es besser geht. Haufe.
• Schermuly, C. C. (2022). New Work Utopia, Die Zukunftsvision einer besseren Arbeitswelt. Haufe.
• Schermuly, C. C. (2021). New Work – Gute Arbeit gestalten: Psychologisches Empowerment von Mitarbeitern (3. Aufl.). Haufe.
• Schermuly, C. C., Graßmann, C., Ackermann, S. & Wegener, R. (2022). The future of workplace coaching – an explorative Delphi study. Coaching: An International Journal of Theory, Research and Practice. 15(2), 244-263.
• Schermuly, C. C. (2017). Mehr als coole Büros. Warum New Work nur mit psychologischem Empowerment funktioniert. OrganisationsEntwicklung, Heft 4, 12-18.
• Schermuly, C. C., Koch, J., Creon, L. E. & Drazic, I. (2022, online). Developing and testing an instrument to measure the culture for psychological empowerment in organizations (IMPEC). European Journal of Psychological Assessment.
• Schermuly, C. C., Creon, L. E., Gerlach, P., Graßmann, C., & Koch, J. (2022). Leadership styles and psychological empowerment: A meta-analysis. Journal of Leadership & Organizational Studies, 29 (1), 73-95.


Editorial Ausgabe 4/23

... zum Kern der Sache

Bürokratiedschungel nennt es der deutsche Wirtschaftsminis­ter Robert Habeck; der Justizminister Marco Buschmann spricht sogar von Bürokratie-Burnout. Egal in welche Organisationen man derzeit hineinhört, die Gespräche enthalten wiederkehrende Botschaften: «… wir sind zu ineffizient, zu bürokratisch, zu wenig nachhaltig und erschöpfen uns mit Aufgaben, die am wirklich Wichtigen vorbeigehen».

In der Tat haben technologische Entwicklungen und die tiefgehende Spezialisierung in allen Bereichen für viele Organisationen einen regulatorischen, prozessualen und technologischen Komplexitätsgrad geschaffen, der alle in Atem hält. In der Erkenntnis, der Fülle an Anforderungen nicht hinterherzukommen, steigt in Folge der Stresspegel und Anspannungsgrad, was auch die Zahlen zu psychischen Krankheitsdaten belegen.

Mit der mit dem Ukrainekrieg einhergehenden Rezession und Inflation, den steigenden Energie- und Produktionskosten, dem Arbeitskräftemangel und einer insgesamt unübersichtlichen weltwirtschaftlichen  Entwicklung mit knapper werdenden Ressourcen müssen sich Organisationen neu ausrichten. Sie sind mehr denn je gefordert, sich von Überflüssigem zu befreien und ihren Fokus auf das Wesentliche ihres Mehrwerts für Kunden und Kundinnen sowie die Gesellschaft zu konzentrieren. Derzeit befinden sich viele Organisationen noch in einem Zwischenstatus. Wissend, dass Veränderungen anstehen, wird vielerorts begonnen, das eigene Geschäftsmodell samt Prozessen und Strukturen zu hinterfragen und zu entrümpeln. In dieser Ausgabe finden sich vielfältigste Anregungen und Zukunftsszenarien, wie sich Organisationen auf  den Weg machen (können), sich intel­ligent zu organisieren, damit sie dem allerorts spürbaren notwendigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbau wirkungsvoll begegnen können.

Alles in allem betrachtet bietet uns der Veränderungsdruck auch neue Chancen. Wir sind es leid, unsere Energie für Nebensächliches zu verschwenden und sind reif für einen organisationalen und gesellschaftlichen Reboot. Nützen wir das derzeitige Window of Opportunity, um gemäß Frithjof Bergmanns New Work-Vision, die uns der Beitrag in der Klassikerrubrik dieser Ausgabe in Er­innerung ruft, intelligent konstruierte, menschenorientierte und sozialverantwortliche Organisationen zu schaffen, die den wesent­lichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind.

Greifen Sie daher beherzt zu Occam’s Razor, um Freiraum für das Wesentliche zu schaffen.

Herzlichst, Ihre

Brigitte Winkler