Beschreibung zu der aktuelle Schwerpunkt

Eindrücke statt Emissionen managen

Paradoxien im VW-Dieselskandal

Die Art und Weise, wie Organisationen oder deren Management mit Paradoxien, d. h. mit anhaltenden Widersprüchen zwischen voneinander abhängigen Anforderungen umgehen, wird oft glorifiziert. Wie der VW-Dieselskandal zeigt, haben paradoxe Versprechungen, wie z. B. die Lieferung eines schnellen, billigen und umweltfreundlichen Autos, ihre Schattenseiten und können zu fragwürdigem oder gar kriminellem Verhalten führen. Dabei spielen widersprüchliche und voneinander abhängige Ziele, die gleichzeitig schwer zu erreichen sind, eine zentrale Rolle. Dieser Artikel versteht sich als Warnung, dass Organisationen und ihre Mitglieder manchmal ihre eigene Fähigkeit überschätzen, Paradoxien erfolgreich zu managen.

Gesellschaft und Organisationen verändern sich unter dem Druck neuer Technologien, Krisen und komplexer Umweltbedingungen, was paradoxe Herausforderungen mit sich bringt: kurzfristige und langfristige Ziele, soziale und wirtschaftliche Ziele, Wandel und Stabilität. Solche Paradoxien werden zunehmend zu einem integralen Merkmal von Organisationen und stellen eine Herausforderung für Management- und Organisationswissenschaftler*innen sowie -praktiker*innen dar. Organisationen, die sich nicht für ein Entweder-oder entscheiden, sondern einen Sowohl-als-auch-Ansatz im Umgang mit Paradoxien verfolgen, sind in der Regel innovativer, nachhaltiger und origineller. Allerdings können Paradoxien auch zu Dysfunktion und Dramen führen, insbesondere wenn sie zu weit gehen.

Die Aufnahme von Paradoxien als «Stretch Goals» oder ambitionierte Ziele kann zu höheren Leistungen anregen und die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf sich ziehen (Cunha et al. 2017). Stretch Goals sind praktisch unerreichbare oder scheinbar unmögliche Ziele, die wenn sie nicht erreicht werden, zu einem Gesichtsverlust für die Protagonisten führen. Wenn solche Stretch-Ziele nicht erreicht werden, geben Protagonisten bisweilen ihr Scheitern nicht zu, sondern betreiben lieber Impression Management. Die widersprüchlichen Ziele werden als erreicht dargestellt, während die eigentlichen Ursachen der Spannungen, die dem Paradox zugrunde liegen, in der Praxis nicht angegangen werden. So wird das Paradoxon durch Illusionen und Rhetorik «aufgelöst» und nur zum Schein bearbeitet: Es entsteht eine Differenz zwischen dem paradoxen Versprechen und der tatsächlichen Praxis.

Dies entspricht dem von Goffman (1959) beschriebenen Prozess des Impression Managements, bei dem Menschen versuchen, die Wahrnehmung einer Person, eines Objekts oder eines Ereignisses durch andere zu beeinflussen. Ähnlich lässt sich der Versuch einer Organisation beschreiben, eine gewünschte Identität zu gewährleisten. So vermittelte beispielsweise die Werbung von Volkswagen für schnelle, billige und umweltfreundliche Fahrzeuge nach außen hin einen Eindruck, der nicht der Realität entsprach. Die gleichzeitige Erfüllung der Anforderungen an Leistung, Effizienz und Emissionen ist paradox, da die Anforderungen widersprüchlich sind und sich gegenseitig bedingen. Ein höherer Wirkungsgrad des Dieselmotors geht mit höheren Emissionen einher. Ebenso bedeutet eine höhere Leistung ab einer bestimmten Geschwindigkeit eine geringere Kraftstoffeffizienz.

Das Paradoxon war für viele Elite-Autohersteller nicht leicht zu lösen und auch VW schaffte es nur verbal. Die Herstellung eines schnellen, billigen und umweltfreundlichen Dieselmotors wurde durch den Einbau einer Abschalteinrichtung erreicht, die das Abgasreinigungssystem dann einschaltete, wenn die Fahrzeuge einer Abgasuntersuchung unterzogen wurden. Das paradoxe Stretch Goal, das sich als unerreichbar erwies, zeigt die dunkle Seite des Paradoxie-Managements. Diess versuchte, die tatsächliche Überforderung durch Impression Management zu kaschieren und wurde durch den von Angst und Einschüchterung geprägten Entscheidungskontext ermöglicht und aufrechterhalten.

Wenn Paradoxien, die zu weit gehen, auf der obersten Hierarchieebene festgelegt werden und ein Scheitern kostspielig ist, besteht eine Möglichkeit des Umgangs auf der unteren Ebene darin, die Illusion zu erwecken, das Paradox erfolgreich zu lösen, statt sich tatsächlich mit diesem zu befassen. Ein typischer Fall ist das sogenannte Greenwashing, bei dem eine schlechte Umweltleistung mit einer positiven Kommunikation über grüne Werte verbunden wird – auch wenn dabei der erweckte Eindruck und die Realität erheblich auseinanderklaffen. Diese Praxis wird von Goffman als Gesichtsarbeit (face-work) beschrieben, etwa wenn Organisationen behaupten, Ziele erreicht zu haben, die bemerkenswert erscheinen, während die Realität nicht mit dem Image übereinstimmt. Organisationen geben dann z. B. vor, Vorschriften einzuhalten zu denen sie verpflichtet sind, indem sie oberflächliche Aktivitäten durchführen, um Legitimität zu erlangen, während sie ihr Business as usual fortführen.

Im VW-Dieselskandal wurde durch die Werbung und Kommunikation des Unternehmens der Eindruck eines erfolgreichen Paradoxien-Managements erweckt. Die damit verbundenen Täuschungen wirkten auf verschiedenen Ebenen, führten zu unbeabsichtigten Dynamiken, zu sich verselbstständigenden Verbindungen zwischen Versprechen und Handlungen und endeten in einem Teufelskreis. Der VW-Skandal stellt ein Extrembeispiel dar, an dem sich das Verständnis für die Gefahren von Paradoxien weiterentwickeln und Implikationen für das Management von Paradoxien ableiten lassen. Dieser Beitrag stützt sich auf Daten aus einer Vielzahl von veröffentlichten Quellen, wichtigen Medien, Unternehmens-Pressemitteilungen sowie Kongressanhörungen.

Die Chronologie des Skandals

Der Skandal wurde im September 2015 bekannt, als die amerikanische Umweltschutzbehörde (EPA) enthüllte, dass viele von VW in Amerika verkaufte Dieselfahrzeuge in ihren Motoren ein Gerät haben, das Labortests erkennen und Leistungsmessungen entsprechend verändern konnte. Nur mit dieser Vorrichtung war es möglich, die vorgeschriebenen Abgasnormen zu erfüllen. VW hat mittlerweile zugegeben, bei Abgastests in den USA betrogen zu haben.

Kaum ein anderes Unternehmen in Deutschland steht wie VW als Symbol für die technische Leistungsfähigkeit des Landes. Anfang der 2000er Jahre setzte sich das Unternehmen das Ziel, der weltweit führende Automobilhersteller zu werden. Dazu gehörte schon früh, die zufriedensten Kunden und die zufriedensten Mitarbeitenden zu haben und gute Unternehmensergebnisse zu erzielen, um über Investitionen in die Zukunft die besten Autos zu bauen. Das Ziel, bis 2018 der weltweit führende Automobilhersteller zu sein (Strategie 2018), geht bereits auf Ferdinand Piëch, den Pionier des Dieselmotors im Pkw, und auf die 1990er Jahre zurück, als VW auf Wachstum um jeden Preis setzte.

«Das paradoxe Stretch Goal zeigt die dunkle Seite des Paradoxie-Managements.»

Bei seinen Bemühungen, den für VW so wichtigen US-Markt zu erobern, um der weltweit führende Automobilhersteller zu werden, setzte VW vor allem auf Dieselfahrzeuge. Während diese in Europa beliebt waren, waren Dieselfahrzeuge in den USA unüblich. Dabei sind Dieselmotoren sparsamer und effizienter als Ottomotoren, stoßen aber aus technischen Gründen größere Mengen an Stickoxiden (NOx) und Ruß aus. Hinzu kam im Jahr 1990 die Überarbeitung des Clean Air Act durch den US-Kongress. Dies bewirkte, dass alle in den USA verkauften Autos wesentlich strengere US-Bundesabgasnormen erfüllen mussten.

Die Herausforderung für VW bestand darin, die intern gesetzten Wachstumsziele und die gestiegenen externen Anforderungen in Einklang zu bringen. Die Lösung sahen die Ingenieure darin, einen Dieselmotor zu entwickeln, der effizient, leistungsstark und sauber war. In Europa war VW bereits führend bei der Einführung des Dieselmotors für Pkw und produzierte Motoren mit geringerem Geräusch- und Geruchspegel bei gleichzeitig hervorragender Beschleunigung und niedrigem Kraftstoffverbrauch. Das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Leistung auf Kosten höherer Emissionen blieb jedoch bestehen, auch wenn der Dieselmotor und die Abgastechnologie als Piëchs persönliches Innovationsideal verstanden wurden.

Bei seinem Versuch, den US-Markt zu erobern, baute VW auf die Idee des sauberen Diesels und warb in den USA 2015 mit Fernsehspots, in denen VW-Dieselfahrzeuge als «saubere Diesel» beworben wurden, welche die US-Abgasnormen erfüllen. Die bessere Leistung und die geringeren Emissionen bedeuteten, dass sich die Besitzer*innen sowohl für Subventionen als auch für Steuerbefreiungen qualifizierten. VW-Mitarbeitende hatten sich schon früh darüber beschwert, dass die Emissionsanforderungen der kalifornischen EPA unrealistisch und für VW fast unmöglich zu erfüllen seien. Dies galt insbesondere in Verbindung mit den formulierten Leistungs- und Effizienzzielen. Für diejenigen, die das paradoxe Versprechen eines «schnellen, billigen und umweltfreundlichen» Dieselfahrzeugs einlösen mussten, erwies es sich als ein unlösbares technisches Rätsel.

Die Wettbewerber des Unternehmens gingen mit diesem Paradoxon unterschiedlich um. Sowohl BMW als auch Mercedes-Benz stellten fest, dass dies ein nahezu unmögliches Ziel war. BMW erfüllte die Emissionsanforderungen durch eine Verringerung der Kraftstoffeffizienz. Dies erhöhte letztlich den Preis des Fahrzeugs, da zusätzliche technische Maßnahmen erforderlich waren – für Piëchs ideale Lösung war dies nicht akzeptabel. Um Leistungsdefizite auszugleichen, spritzte Mercedes-Benz zusätzlich Harnstoff ein, um NOx in weniger schädliche Stoffe umzuwandeln. Der Ansatz führte zu mehr Leistung und geringerem Kraftstoffverbrauch, erforderte aber einen separaten Tank für den Harnstoff. Dieser musste regelmäßig nachgefüllt werden, was zusätzliche Kosten und Unannehmlichkeiten für die Autobesitzer*innen bedeutete, was wiederum für das VW-Ideal, den Dreifacherfolg zu erzielen, nicht akzeptabel war. Ungeachtet dieser Herausforderung drängte VW weiterhin auf einen Dieselmotor, der die Kundenwünsche nach Leistung und Effizienz erfüllt und zugleich die US-Emissionsziele erreicht.

Kontext des Skandals

Ehrgeizige Ziele waren bei VW unter dem früheren Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch und CEO Martin Winterkorn die Regel, getreu dem Motto «Geht nicht, gibt’s nicht». Piëch war dafür bekannt, Ingenieure mit schwierigen Aufgaben zu betrauen Bei Nichtbestehen drohte ihnen die Entlassung. Wenn Ingenieure berichteten, dass sie den Abgastest angesichts der Technologie nicht bestehen könnten, sagte Piëch: «Ihr werdet bestehen, ich verlange es! Oder ich werde jemanden finden, der es schafft». Zwischen 2008 und 2015 verkündete VW dann öffentlich, das Paradox gemeistert und Leistung, Effizienz und Emissionen in Einklang gebracht zu haben. In der Praxis gelang es den VW-Ingenieuren jedoch nicht, dieses Ziel zu erreichen.

Als VW mit der Entwicklung des umweltfreundlichen Motors begann, wurde bald klar, dass dieser nicht gleichzeitig die Erwartungen der Kunden als auch die neuen, strengeren US-Abgasnormen erfüllen konnte. Anstatt das Versagen einzugestehen, entwickelten die VW-Ingenieure also eine Software, die erkannte, wann das Auto einem Test unterzogen wurde, und die Emissionskontrollen ein schaltete. Nach Bekanntwerden des Skandals bekannte sich einer der beteiligten Ingenieure schuldig und gab die Entwicklung zu, die die Abgasreinigung unter Laborbedingungen automatisch aktivierte. Die Abschalteinrichtung
sorgte dafür, dass der saubere Diesel von VW den Anschein erweckte, Leistung, Effizienz und Emissionen in Einklang zu bringen: das TDI-Wunder. Anfangs waren Technologen und Umweltschützer gleichermaßen von der neuen VW-Technologie fasziniert. Skeptische Experten fragten sich schon damals, wie diese Autos so gut sein konnten. Als einige Datenunregelmäßigkeiten auftauchten, wuchs der Argwohn. Eine unabhängige Analyse ergab, dass die Software den Fahrzeugen ermöglichte, einen niedrigeren Kraftstoffverbrauch auf Kosten höherer Stickoxidemissionen zu erreichen, wobei die NOx-Emissionen auf der Straße bis zum 40-fachen der Norm lagen. Der Abgasskandal flog am 18. September 2015 auf. VW gab später zu, dass die Software in elf Millionen Autos installiert wurde, von denen acht Millionen Fahrzeuge in Europa und fast eine halbe Million in den Vereinigten Staaten verkauft worden waren. Obwohl die Abschalteinrichtung – letztlich nur ein paar Zeilen Computercode – in der Entwicklung nur einige Tausend Euro kostete, führte sie zu einem gigantischen wirtschaftlichen Schaden.

Der weitere Verlauf des Skandals wurde von mehreren Dementis und verschiedenen Anschuldigungen begleitet. So beschuldigte der US-VW-Vorstandsvorsitzende Michael Horn vor einem Kongressausschuss die Software-Ingenieure und behauptete, der Betrug sei nicht von der Unternehmensspitze ausgegangen. Weitere Untersuchungen ergaben allerdings, dass der Betrug systematisch betrieben, die Vertuschung auf höchster Unternehmensebene inszeniert und gebilligt wurde, dieser mehr als ein Jahrzehnt dauerte und dabei Dutzende von Ingenieuren beteiligt waren.

Verschärfend zu dem, was in der Branche als normal galt, war die VW-Führungskultur von Angst und Einschüchterung geprägt. Zudem bestand im Unternehmen eine Führungsstruktur, die durch Familienkontrolle, Staatseigentum und Mitarbeitereinfluss gekennzeichnet war und die VW von externen Stimmen und Einflüssen abschirmte. Diese Mischung in Verbindung mit einem Führungsstil, der durch «Führen durch Angst» beschrieben wird, könnte erklären, warum diejenigen, die das paradoxe Versprechen einlösen mussten, eher zur Täuschung griffen, als ein Scheitern zuzugeben. Als Reaktion auf die gravierenden Regelverstöße betonte der Nachfolger Winterkorns, wie wichtig es sei, das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit nach dem Skandal wiederherzustellen. Er versprach verbesserte Betriebsabläufe sowie Berichts- und Kontrollsysteme, um die Verantwortlichkeiten zu klären und ein robusteres System für Hinweisgeber zu gewährleisten. Vier Jahre nach dem Skandal endet der Werbespot von VW mit «in the darkness, we found the light», unterlegt mit «Hello darkness, my old friend». Damit unterstreicht das Unternehmen sein Engagement für die Elektromobilität, einhergehend mit der Zustimmung, zwei Milliarden Dollar für die Infrastruktur von Elektrofahrzeugen auszugeben und den Skandal so hinter sich zu lassen.

«Geldstrafen, Entschädigungen, Rückrufkosten, Auswirkungen auf die Autopreise, höhere Kreditkosten.»

Die Auswirkungen

Der VW-Dieselskandal hatte drastische Folgen für Investoren, Händler sowie Kunden und wirkte sich auf die gesamte Automobilbranche aus – u. a. verloren Dieselmotoren massiv an Popularität. Neben Auswirkungen rechtlicher Natur führte der Skandal zu Umsatzeinbußen sowie zu einem Image- und Reputationsverlust der Marke. Die Werbung für «saubere Dieselfahrzeuge» führte zu einer systematischen Täuschung der Kunden. Betroffene Käufer sahen sich einem geringeren Wiederverkaufswert gegenüber, da der Name der Marke durch den Skandal in Verruf geraten war.

Die finanziellen Auswirkungen für das Unternehmen waren vielfältig: Geldstrafen und Entschädigungen, Rückrufkosten, Auswirkungen auf die Autopreise und höhere Kreditkosten. Nach dem Skandal wurden Sammelklagen und mehrere Klagen gegen VW eingereicht. Diese kamen von Aufsichtsbehörden, Verbraucher*innen, Investor*innen und dem Vertragshandel. Für das Managementteam war der Skandal mit zahlreichen Klagen, strafrechtlichen Verurteilungen, Rücktritten, Suspendierungen und Untersuchungen verbunden.

Der Betrugsprozess in Deutschland gegen vier ehemalige VW-Manager kommt nur langsam voran, weil die meisten Zeugen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Viele Verhandlungstermine wurden wegen der Corona-Pandemie abgesagt, der Vorstandsvorsitzende Winterkorn ist wegen eines ärztlichen Gutachtens noch nicht vor Gericht erschienen. Seit 2018 läuft zudem ein Gerichtsverfahren, in dem vor allem institutionelle Anleger Ansprüche in Milliardenhöhe geltend machen. VW soll lange Zeit Informationen über den Abgasskandal geheim gehalten haben, wodurch Anleger einen finanziellen Schaden erlitten haben.

VW gibt zu, dass sich die Kosten für Rückkäufe, Reparaturen und Rechtsstreitigkeiten bisher auf mehr als 32 Milliarden belaufen – vor allem in Form von Bußgeldern und Schadensersatzzahlungen in Nordamerika. Ein zentrales Thema für Aufsichtsbehörden und Umweltbehörden war der Status der Vergünstigungen, die VW für seine angeblichen Umweltinitiativen gewährt wurden. VW beging Betrug, indem das Unternehmen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Steuererleichterungen in Anspruch nahm, um den Verkauf vermeintlich schadstoffarmer Autos zu fördern. Ironischerweise wurde VW in den Jahren 2009 und 2010 die Auszeichnung «Umweltfreundlichstes Auto des Jahres» verliehen. Auch wenn die Auszeichnung später zurückgezogen wurde, bot sie für lange Zeit kostenlose Werbung.

Die Auswirkungen auf den Aktienmarkt waren für VW immens: In den ersten beiden Handelstagen nach Bekanntwerden des Skandals verlor die Aktie rund ein Drittel ihres Wertes und verharrte lange Zeit auf diesem Niveau. Die Anleger beklagten, dass VW den Finanzmärkten Informationen über den Dieselbetrug vorenthalten habe, wofür sie angesichts des durch den Betrug verursachten Wertverlusts eine Entschädigung fordern. Der Skandal betraf aber auch die Automobilindustrie als Ganzes. Andere Automobilhersteller gerieten ebenfalls ins Visier der Aufsichtsbehörden. Händler mussten mit einem Bestand an schwer verkäuflichen Autos umgehen und stoppten den Verkauf, Zulieferer von Komponenten für die Dieseltechnologie und andere von VW abhängige Lieferanten waren massiv betroffen. Die gesamte Branche wurde in Mitleidenschaft gezogen. Schließlich litten auch die Beschäftigten unter den folgenden Kostensenkungs-und Rationalisierungsprogrammen.

Die Folgen für Umwelt und Gesundheit sind schwer zu beziffern. Die verursachte Luftverschmutzung begünstigte Smog und wurde mit einer Zunahme von Asthma- und Atemwegserkrankungen sowie vorzeitigen Todesfällen in Verbindung gebracht. VW versuchte, den Schaden durch Vergleiche, Entschädigungen, Rückrufe und eine Behebung der Mängel durch technische Änderungen an den betreffenden Modellen zu beheben. In den meisten Fällen konnten die Fahrzeuge in Europa mit einem einfachen Software-Update und einer kurzen Fahrt zur Werkstatt repariert werden. In schwierigeren Fällen war eine kleinere Hardware-Reparatur erforderlich.

In den USA, insbesondere bei Fahrzeugen der ersten Generation, war die Angelegenheit komplizierter. VW schlug den Geschädigten vor, einen neuen Katalysator in diese Fahrzeuge einzubauen. Der Versuch, die Motoren zu reparieren, um die Abgasnorm zu erfüllen, beeinträchtigte allerdings die Leistung und Effizienz, diese stand allerdings im Mittelpunkt des Versprechens von VW. Die Kunden beschwerten sich daraufhin, dass ihre Fahrzeuge einen höheren Kraftstoffverbrauch und eine geringere Leistung aufwiesen. Bei der Anhörung vor dem US-Kongress räumte der für das US-Geschäft zuständige CEO ein, dass die Leistung der Fahrzeuge leiden könnte, wenn die Abgasnormen eingehalten würden. Auf die Frage einer Kongressabgeordneten, warum VW kein Auto baue, das diese Ziele erfülle, erklärte er «ich denke, weil Schummeln billiger ist.»

Die dunkle Seite des paradoxen Managements

Der Verlauf des VW-Skandals zeigt, wie das Unternehmen Impression Management einsetzte, um mit Paradoxien umzugehen, die durch internen (hochgesteckte Ziele und Ambitionen) und externen Druck (gesetzliche Anforderungen, starker Wettbewerb, Kundenerwartungen) ausgelöst wurden. Der von Angst und Einschüchterung geprägte Führungskontext spielte dabei eine entscheidende Rolle.

Die vermeintliche Behebung eines technischen Problems mit einer Lösung, die sich letztlich als Illusion herausstellte, führte dazu, dass VW sich noch tiefer in das ursprüngliche Paradoxon verstrickte. Ohne eine technische Lösung für die Herausforderung erwies sich die Bewältigung des Paradoxons als unmöglich. Der dramatische Fall zeigt deutlich die Schattenseiten des falschen Umgangs mit Paradoxien und organisatorischem Fehlverhalten.

Die Kombination aus paradoxen Versprechen, Stretch Goals, technischer Unmöglichkeit und externem wie internem Druck kann Unternehmen dazu verleiten, Fassaden zu entwickeln, die mit der Realität wenig zu tun haben. Der VW-Abgasskandal zeigt eindrucksvoll die Risiken und dysfunktionalen Folgen eines Impression Managements, welches die Kluft zwischen paradoxen Versprechen und der Praxis überbrückt.

In Anbetracht des paradoxen, von der Unternehmensleitung gesetzten ambitionierten Ziels kann man davon ausgehen, dass die Manager*innen der unteren Ebenen keine andere Wahl hatten, als die Unmöglichkeit zuzugeben – oder die Illusion zu schaffen, das Unmögliche erreicht zu haben. Sie waren machtlos angesichts einer Lose-Lose-Situation – verdammt, etwas zusagen, verdammt, dies nicht zu tun.

In gewisser Weise delegierte die Unternehmensleitung ein unmögliches Paradoxon an die Ingenieure, was letztlich zu einer Diskrepanz zwischen den Unternehmenszielen und den Handlungen der Akteure sowie zur Aufrechterhaltung einer Illusion führte. Während das Topmanagement in Unternehmen solche Paradoxien als lösbare Herausforderung ansieht, erleben untere Ebenen sie als unlösbar und managen angesichts der Unmöglichkeit wie im Fall von VW eher Eindrücke als Emissionen.

Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen und organisatorischen Komplexität, des Wandels und diverser Knappheiten wird die Fähigkeit, mit Paradoxien umzugehen, immer wichtiger. Es ist unbestritten, dass Führungsstrukturen, die Organisationsmitglieder davon abhalten, schlechte Nachrichten zu übermitteln, genau wie eine Kultur, in der «der Zweck die Mittel heiligt» und Angst und Einschüchterung vorherrschen, sowie Anreizsysteme, die zu unethischen Verhaltensweisen einschließlich Betrug und Fälschung führen, ein zweifelhaftes Management von Paradoxien wie im Fall von VW fördern. In einem solchen Kontext begünstigt der permanente Druck auf das mittlere Management nach Ergebnissen und Zielen die Entwicklung eines Umfelds, in dem die unausgesprochene Akzeptanz von Illegalität und das Wegschauen bei Abweichungen zum akzeptieren Ausweg werden.

Noch bedrohlicher ist, dass das falsche Management von Paradoxien dazu führt, dass die oberste Führungsebene ihre eigenen Problemlösungskapazitäten und die Ressourcen des Unternehmens überschätzt und möglicherweise Eindrucksmanagement und Selbstbetrug weitertreiben. Aus Angst, das Gesicht zu verlieren und kritisiert zu werden, bemühen sich die unteren Ebenen, das von der Spitze geschaffene Narrativ zu schützen, statt das Topmanagement mit den praktischen Schwierigkeiten eines «Sowohl-als-auch»-Ansatzes zu konfrontieren.

Umgang mit Paradoxien

Der VW-Dieselskandal ist ein Beispiel für eine paradoxe Herausforderung, bei der das Unmögliche möglich erscheint. Ein Fall, in dem der falsche Umgang mit Paradoxien zu dysfunktionalen Verhaltensweisen führt und in einem kolossalen Misserfolg mündet, und in dem Erzählung und Praxis auseinanderdriften. Paradoxien, die technisch nicht zu bewältigen sind, sollten Anlass für Organisationen, ihre Mitglieder und Berater*innen sein, achtsamer und bescheidener mit ihnen umzugehen und übereilten «Lösungen» für komplexe Probleme kritischer gegenüberzustehen.

Manager*innen sollten sich bewusst sein, dass vertraute und einfache Lösungen mit der Zeit zur Selbstverständlichkeit und im Laufe der Zeit zu einem Problem werden können. Lösungen können gerade dann problematisch werden, wenn sie automatisch greifen und unhinterfragt bleiben, nur weil sie in der Vergangenheit funktioniert haben. Es ist daher wichtig, eine kritische Haltung gegenüber routinemäßigen Lösungen und Organisationsrezepten zu entwickeln. Immer dann, wenn eine Lösung schleichend zur Gewohnheit wird, birgt sie das Risiko, zum Problem zu werden.

Der vorliegende Fall zeigt, wie der Umgang mit Paradoxien zu unangenehmen Überraschungen und Teufelskreisen führen kann, die sich nur schwer einfangen lassen. Die Arbeit am System statt im System, das Überschreiten bestehender Grenzen und das Erforschen und Sichtbarmachen gegensätzlicher Ansichten sind wichtige Voraussetzungen für ein wirksames Paradoxie Management. Auch und gerade die nähere Beschäftigung mit den Schattenseiten paradoxer Konstellationen eröffnet Organisationen die Möglichkeit, komplexe Situationen positiv und nachhaltig zu gestalten. Eine Organisationskultur, die Führungskräften und Mitarbeitern*innen ausreichend Gelegenheit gibt, aus Verlusten zu lernen und die die psychologische Sicherheit bietet, Misserfolge zuzugeben, ist eher in der Lage, mit komplexen und widersprüchlichen Zielen umzugehen.

Berater*innen können für Organisationen, die mit Paradoxien konfrontiert sind, unterstützend hilfreich sein, um organisatorische Herausforderungen und deren Kompromisse verständlich zu machen, zum Umdenken aufzufordern und einen Entwicklungsraum zu schaffen, in dem widersprüchliche Ziele diskutiert und bewältigt werden können. Ihre Rolle kann z. B. darin bestehen, latente Spannungen sichtbar zu machen oder eine andere Rahmung der Spannungen anzubieten, um so die Paradoxien besser handhabbar zu machen. Oder sie dienen als «dritte Person», um widersprüchlichen Ideen genügend Raum zu geben und eine Außenseiterperspektive einzubringen.

Organisationen oder Führungskräfte neigen mitunter dazu, Widersprüche durch Entweder-oder-Lösungen aufzulösen (siehe Interview mit Barry Johnson auf Seite 33), um sehr managementorientiert zu erscheinen. Ein solcher Umgang mit Paradoxien mag kurzfristig ein gutes Image vermitteln und Ängste abbauen, es birgt aber die Gefahr, langfristig ineffektiv zu sein. Auch hier können Berater*innen hilfreich sein, indem sie gemeinsam Annahmen entlarven, den Status quo in Frage stellen, Spannungen und Widersprüche sichtbar machen und die Fähigkeit zu paradoxem Denken und Handeln fördern. Beratende können einen Raum schaffen und Manager*innen dazu ermutigen, Widersprüchlichkeit zuzulassen und gegensätzliche Forderungen zu vertreten, ohne dass das eine auf Kosten des anderen gehen muss. Genauer gesagt, können sie Manager*innen dabei helfen, die Neugierde auf Widersprüche und versteckte Gegensätze, die Akzeptanz von Konflikten, die Fähigkeit und Freiheit, Fragen zu stellen, die Bereitschaft, Komplexität zu steigern, statt diese zu reduzieren, und die Wertschätzung widersprüchlicher Erkenntnisse zu fördern. Ein erfolgsversprechender Bearbeitungsprozess setzt voraus, dass die Gegensätze nicht (mehr) als unabhängig betrachtet werden. Ein solcher Ansatz schafft die Voraussetzung für das Erkennen der Verbindung zwischen den in Spannung stehenden Kräften, integriert Perspektiven und ermöglicht ein Verständnis, dass die Welt auch Spannungen und Widersprüchen besteht.

Schließlich sollten Führungskräfte in die Tiefe und in die Breite gehen. Sie müssen in die Tiefe gehen, um ihre Organisation zu verstehen. Und sie müssen in die Breite gehen, um die Welt und ihre komplexen Zusammenhänge zu verstehen. Unabdingbar dafür sind Zeit oder Raum für Reflexion, um nicht den einfachen Weg zu wählen, sondern Gelegenheiten wahrzunehmen, sich mit Paradoxien auseinanderzusetzen, die Chancen des Lernens durch Erkundung zu nutzen und Rückblick, Einsicht und Vorausschau zu verbinden.

Prof. Miguel Pina e Cunha
Nova School of Business and Economics, Carcavelos, Portugal

Prof. Medhanie Gaim
Associate Professor und Dozent, Umeå School of Business and Economics, Schweden

Prof. Dr. Stewart Clegg
Emeritus Professor, UTS Business School und Professor, University of Sydney Faculty of Engineering, School of Project Management

Prof. Dr. Thomas Schumacher
ZOE-Redakteur, Prof. für Organisation und Führung, Kath. Hochschule Freiburg, Lehrbeauftragter Univ. St. Gallen, Partner osb-international, Wien

Literatur

• Berti, M. & Simpson, A. V. (2021). Die dunkle Seite der organisatorischen Paradoxien: The dynamics of disempowerment. Academy of Management Review.
• Borgeest, K. (2021). Manipulation von Abgaswerten. Springer Fachmedien.
• Cunha, M. P., Giustiniano, L., Rego, A. & Clegg, S. (2017). Mission impossible? The paradoxes of stretch goal setting. Management Learning.
• Cunha, M. P., Clegg, S. R., Rego, A. & Berti, M. (2021). Paradoxien von Macht und Führung. Routledge.
• Ewing, J. (2017). Schneller, höher, weiter: The inside story of the Volkswagen scandal. Random House.
• Gaim, M., Clegg, S. & Cunha, M. P. (2021). Managing Impressions Rather Than Emissions: Volkswagen und die falsche Beherrschung des Paradoxen. Organization Studies.
• Gaim, M., Clegg, S., Cunha, M.P. & Berti, M. (2022). Organisatorisches Paradoxon. Cambridge University Press.
• Goffman, E. (1959). Die Darstellung des Selbst im täglichen Leben. Anchor.
• Lutz, B. (2015). Ein Mann etablierte die Kultur, die zu VWs Abgasskandal führte: A diesel dictatorship. Road and Track.
https://zoe-online.org/vw-diesel-fiasco
• Pradies, C., Tunarosa, A., Lewis, M. W. & Courtois, J. (2021). Von bösartigen zu tugendhaften paradoxen Dynamiken: Die sozialsymbolische Arbeit von Unterstützungsakteuren. Organization Studies.
• Smith, W. & Lewis, M. (2022). Beides und Denken. Harvard Business Review Press.

 


Digital transformieren

Wie digitale Innovationen neue Chancen und Risiken für das Change Management bringen

Zunehmend experimentieren Organisationen mit Digitalen Innovationen für Organisationalen Wandel (DIOW), um das Change Management nachhaltiger und wirksamer zu machen. Allerdings gibt es bislang nur unzureichende Erkenntnisse zu deren Einsatz. In diesem Artikel adressieren wir die Chancen und Risiken von DIOW, um Veränderungsprozesse inklusiver, individualisierter und anpassungsfähiger zu gestalten. Damit möchten wir die Diskussion über ein wichtiges Thema vertiefen, das die Zukunft des Change Managements voraussichtlich prägen wird.

Veränderungen sind für Organisationen lebenswichtig, dennoch sind Veränderungsprozesse mit Herausforderungen behaftet. Insbesondere die digitale Transformation schreitet voran und stellt bestehende Geschäftsmodelle auf den Kopf. Während der Fokus oft auf der digitalen Transformation liegt, also der Frage «Wie meistern wir den digitalen Wandel?», ist über das Thema «digital transformieren» d. h. also «Wie können digitale Innovationen die Transformation unterstützen?», bislang weniger bekannt.

Status quo: Digitale Innovationen und Change

Digitale Innovationen, d. h. Produkte oder Prozesse, die als neu und signifikant anders wahrgenommen und durch digitale Technologien ermöglicht werden, verändern die Arbeitswelt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Organisationen begonnen haben, mit Digitalen Innovationen für Organisationalen Wandel (DIOW) zu experimentieren (siehe auch Zeitschrift OrganisationsEntwicklung 2/2020 zu «Smarter Wandel»). Diese DIOW kommen in unterschiedlichsten Formen und reichen vom Einsatz sozialer Medien über Gamification bis zu datengetriebenem Monitoring. Das Interesse an DIOW ist an der wachsenden Zahl an Beratungsfirmen und Startups in diesem Bereich abzulesen. Ziel ist es, Wandel digitalgestützt zu begleiten, um wichtige Stellhebel wie Beteiligung, Befähigung und Kommunikation wirksamer zu gestalten.

Der aktuelle Stand der Forschung zeigt, dass über den Einsatz von DIOW unzureichende Erkenntnisse vorliegen. So ist u. a. unklar, welche Merkmale der Gestaltung und des Einsatzes von DIOW besonders erfolgsversprechend sind, welche Voraussetzungen die Akzeptanz der Stakeholder beeinflussen oder wie der Beitrag von DIOW für den Veränderungserfolg aussehen und gemessen werden kann. Für Organisationen stellen sich auch Fragen, die über die reine Wirksamkeit hinausgehen: Sie müssen in regulierten Umwelten mit widersprüchlichen Interessen umgehen. Fragen zu Datenschutz und Mitbestimmung sind in digitalen Arbeitswelten ebenso zu berücksichtigen wie Diversität und Gleichstellung. Das heißt, dass neben den – v. a. von den Anbietern – angepriesenen Chancen, auch die Risiken adressiert werden müssen (Kanitz & Gonzalez, 2021).

Typen digitaler Innovationen für organisationalen Wandel

Doch wie sehen diese DIOW konkret aus? Zum einen lassen sich DIOW aus einer Technologieperspektive betrachten. Hier geht es darum, welche Funktionen DIOW aufweisen. In diesem Beitrag unterscheiden wir drei Kategorien. Erstens sehen wir zunehmend den Einsatz von digitalgestützten Beteiligungs- und Dialogformaten, um die Initiierung inklusiver zu gestalten. Zweitens betrachten wir digital personalisierte Nudges und Boosts, um die Mobilisierung mittels maßgeschneiderter Interventionen voranzutreiben. Drittens beobachten wir den Einsatz von datengetriebenem Echtzeit-Monitoring, um durch automatisierte Analysen eine flexible Anpassung der Maßnahmen während der Umsetzung zu ermöglichen. Abbildung 1 fasst die Kategorien, Beschreibungen und Beispiele zusammen.

Aus einer Aufgabenperspektive – d. h. in welcher Phase DIOW zu welchem Zweck eingesetzt werden – rückt zum anderen die Gestaltung des Prozesses in dem Mittelpunkt. Die Forschung hat verschiedene Faktoren identifiziert, die im Zusammenspiel die Veränderung ermöglichen und stellt dabei den «Faktor Mensch» als entscheidend heraus. Genau hier setzen DIOW an und bieten Chancen auf drei Ebenen:
1. Inklusion: breite und tiefe Involvierung vieler Stakeholder um die Qualität und den Buy-in der Betroffenen zu stärken
2. Individualisierung: individuell maßgeschneiderte, aber skalierbare Kommunikation und Befähigung der Betroffenen
3. Anpassungsfähigkeit: zielgenaues Nachsteuern eines datengetriebenen Veränderungsprozesses auf Basis zeitnaher Rückkopplung zwischen Führungskräften und Beschäftigten

Im Folgenden bringen wir die Aufgaben- und Technologieperspektive zusammen und erläutern Chancen und Risiken beim Einsatz von DIOW. Abbildung 2 fasst die wesentlichen Punkte zusammen.

Digitale Innovationen in der Initiierung: Inklusiv durch breite und tiefe Involvierung

Vor allem digitalgestützte Beteiligungs- und Dialogformate bieten Möglichkeiten, um Veränderungsprozesse inklusiver zu machen. Durch soziale Netzwerke, Blogs oder Wikis können Stakeholder am Diskurs über Veränderung teilnehmen («Demokratischer Wandel»).

Chancen. Die aktive Involvierung ist ein etablierter Stellhebel im Change Management, um die inhaltliche Qualität von Initiativen zu steigern und die Akzeptanz der Betroffenen zu stärken. Allerdings ist die Involvierung von Stakeholdern mit gegensätzlichen Interessen über längere Zeiträume kompliziert und aufwendig. DIOW bieten hier neue Chancen und finden zunehmend Anwendung in Unternehmen aber auch im öffentlichen Raum (z. B. Bürgerbeteiligung in Veränderungsprozessen in Städten, siehe Trénel, 2020). Zunächst erlauben DIOW die Möglichkeit, die Breite der Involvierung zu erhöhen und eine größere Anzahl von Stakeholdern einzubinden. So hat IBM bereits in den 2000ern virtuelle «Jams» durchgeführt. Hierbei wurden Mitarbeiter*innen aufgefordert, ihre Meinungen und Vorschläge zu einer Initiative in einer virtuellen Community zu teilen. Nach vielen tausenden Kommentaren, wurden diese mit automatisierten Textanalysen ausgewertet, um das Stimmungsbild und die wesentlichen Themen zu identifizieren. Die Kernergebnisse flossen in die Überarbeitung der Initiative ein. Andere Beispiele zeigen, wie interne soziale Netzwerke den direkten und ungefilterten Austausch über Hierarchiegrenzen oder Organisationsbereiche hinweg  ermöglichen. Ziel ist es, eine große Anzahl von Stakeholdern einzubeziehen und diverse Stimmen einzufangen.

Darüber hinaus fördern DIOW die Tiefe der Involvierung. Involvierungsmaßnahmen unterscheiden sich in der Qualität des Austauschs und können eher fokussiert, einseitig-informativ (z. B. anonyme Befragungen) oder offen, dialogorientiert sein (z. B. Open Space Workshop). Beispielsweise experimentieren Organisationen mit DIOW, die digitalgestützt Dialogprozesse in Kulturveränderungen anstoßen, strukturieren und auswerten. Dabei machen Teilnehmer*innen über mehrere Phasen Angaben über eine App (z. B. zu Unternehmenswerten) und diskutieren im Anschluss die aggregierten Ergebnisse im eigenen Team, um einvernehmlich neue Eingaben in der Gruppe vorzunehmen. Dieser iterative Prozess wird durch digitale Impulse wie Kurzvorträge oder Übungen begleitet. Dadurch können viele Betroffene über einen längeren Zeitraum tiefgreifend eingebunden und gleichzeitig ein kollektiver Reflexionsprozess angestoßen werden. Zusätzlich entstehen wertvolle Daten, die für die Diagnose von Kulturfacetten in der Organisation, aber auch für die Ableitung von Maßnahmen genutzt werden können.

Risiken. Die Nutzung sozialer Medien kann einen gewissen Grad an Kontrollverlust über die entstehenden Inhalte bedeuten. Es ist möglich, dass die generierten Ideen im sozialen Netzwerk nicht konform mit der Ausrichtung sind, die die Initiator*innen im Kopf hatten. Darüber hinaus können in sozialen Netzwerken negative Dynamiken entstehen. Durch die transparenten Interaktionen kann die rasche Verbreitung negative Ressentiments oder Widerstände bezüglich der Veränderung stärken. Führungskräfte haben nur eingeschränkte Möglichkeiten, Einfluss auf die Netzwerkdynamiken zu nehmen. Entsprechend ist eine professionelle Moderation der digitalen Beteiligungsformate essenziell (Groß & Hardwig, 2020). Darüber hinaus können DIOW überhöhte und teils unrealistische Erwartungen hinsichtlich der Berücksichtigung des Inputs hervorrufen. Beispielsweise können diese die Erwartung schüren, dass der Input sich direkt und sichtbar in den Inhalten oder Entscheidungen niederschlägt.
Ist das wie oft in der Praxis – aus guten Gründen – nicht der Fall, kann dies zu Frustration und Gleichgültigkeit führen und die Bereitschaft untergraben, sich erneut einzubringen. Gerade bei digitalgestützten Beteiligungsformaten, die für die Initiator*innen ressourcenschonender anzuwenden sind als analoge Formate, kann schnell der Eindruck von Pseudo-Beteiligung entstehen. Damit ist gemeint, dass Beteiligung nur simuliert wird, ohne wirklich Mitsprache an Inhalten und Entscheidungen zu gewähren.

Digitale Innovationen in der Mobilisierung: Individualisiert und zielgenau befähigen

Personalisierte Nudges und Boosts, die die unterschiedlichen Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen, eröffnen neue Perspektiven. Während Nudges, d. h. personalisierte Handlungsimpulse, eine Verhaltensänderung initiieren sollen (z. B. individuelle Push Nachrichten sich im nächsten Meeting stärker einzubringen), fokussieren Boosts die Förderung der persönlichen Entscheidungs- und Handlungskompetenz (z. B. Erklärvideo zum Hintergrund der Reorganisation) der Beteiligten (Hertwig & Grüne-Yanoff, 2017).

Chancen. Standardisierte Change Management Ansätze, die die unterschiedlichen Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen nicht ausreichend berücksichtigen, gelten als wenig erfolgsversprechend. Daten ermöglichen die Individualisierung von Interventionen, um damit der Diversität der Stakeholder besser gerecht zu werden. Hierbei werden Daten zu individuellen Charakteristika genutzt, um zielgruppenspezifische Interventionen zu generieren. Durch Clusteranalysen können unterschiedliche Typen identifiziert (z. B. Skeptiker vs. Early Adopter) und im Anschluss mit orchestrierten Interventionsbündeln adressiert werden. So erhält jede*r Beteiligte auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittene Handlungsimpulse. Aus der Perspektive von Führungskräften können damit Interventionen auf bestimmte Zielgruppen in Bezug auf Inhalt und Timing angepasst werden (z. B. Vorwissen, Abteilungszugehörigkeit). Ein weiterer Vorteil ist die leichtere Skalierbarkeit der DIOW. Diese lassen sich auf viele Tausende von Betroffenen über Landesgrenzen und Hierarchieebenen hinweg anwenden und erlauben damit eine skalierbare Individualisierung. Zum Beispiel nutzen einige Organisationen spezielle Change-Applikationen, die auf den Smartphones der Betroffenen installiert werden und damit jederzeit verfügbar sind (DiLeonardo et al., 2020). Über diese Apps werden kurze Befragungen bereitgestellt (z. B. zur Veränderungseinstellung), um relevante Daten zu sammeln. Eine Person, die von der Veränderung bereits überzeugt ist, kann dann andere Kommunikationsmaßnahmen über die Applikation empfohlen bekommen (z. B. Video zur Change Roadmap), als eine Person, die z. B. die Hintergründe der Initiative noch gar nicht kennt. Es geht also darum, die Passung zwischen Interventionen und Bedürfnissen der Empfänger*innen zu erhöhen und damit die Wirksamkeit zu steigern.

«Personalisierte Nudges und Boosts eröffnen neue Perspektiven.»

Risiken. Bei solchen digital personalisierten Interventionen ist zum einen unklar, wer genau und warum die Zielgrößen (z. B. Effizienz, Wohlbefinden, Verständnis) solcher Interventionen festlegt und das Optimum für die Empfehlungen bestimmt. Die Wirkung solcher Interventionen ist zudem kontextsensitiv und kann je nach Art der Veränderung variieren. Ob personalisierte Nudges im Change die erwünschte Wirkung erzielen können, ist bisher wenig erforscht. Deshalb muss die Entwicklung solcher Interventionen gut vorbereitet und getestet werden. Zum anderen bleibt der Datenschutz eine Herausforderung. Da personalisierte Interventionen auf Basis von Daten generiert werden, brauchen wir evidenzbasierte Typologien, auf welche die Interventionen zugeschnitten werden können. Was sind sinnvolle Indikatoren, die in die Typologien-Bildung einfließen können und dürfen? Die besten Daten, um Interventionen zu individualisieren, sind häufig personenbezogene Daten. Entsprechend muss deren Verarbeitung die Datenschutzverordnungen erfüllen und die Zustimmung zur Verarbeitung eingeholt werden. Das wiederum kann zu Ablehnung der App (Laumer et al., 2016) führen. Eine erfolgreiche Mobilisierung ist folglich erschwert.
Die Frage ist demnach, unter welchen Umständen Mitarbeiter*innen bereit sind, solche Daten zu teilen. Ansätze zur Pseudonymisierung können sinnvoll sein, um die Datenqualität hochzuhalten und Datenschutz zu gewährleisten. Zudem können die Konsequenzen der Differenzierung ein Risiko sein, da einige Personengruppen durch die automatisierten Prozesse bestimmte Interventionen nicht erhalten, auf die andere Gruppen Zugriff haben. So kann die Bereitstellung von individualisierten Trainings unter den Mitarbeitet*innen zu einer wahrgenommenen Ungerechtigkeit führen. Diese möglicherweise als Sonderbehandlung empfundenen Interventionen können zu Unsicherheit und Misstrauen führen, was letztlich den Erfolg der Veränderung gefährdet. Darüber hinaus stellt sich die Frage, was mit Konsens und Commitment in einer Gruppe passiert, wenn viele Individuen eine unterschiedliche Reise durch die Veränderung erleben. Die Interventionen können zwar individuell wirken, aber kollektiv die Abweichung in Wahrnehmungen und Meinungen in einer Gruppe stärken.

Digitale Innovationen in der Umsetzung: Maßnahmen evidenzbasiert und dynamisch anpassen

Datengetriebenes Echtzeit-Monitoring von Veränderungsprozessen umfasst den Einsatz von Anwendungen, die Kurzbefragungen – sogenannte change readiness checks – für Betroffene bereitstellen, die erhobenen Daten dann automatisch und gemeinsam mit zusätzlich eingespeisten Daten (z. B. Personaldaten) auswerten und schließlich in Dashboards aufbereiten.

Chancen. Starre Veränderungspläne, die wenig Raum für Anpassung und flexibles Agieren lassen, gelten als überholt. Hier versprechen DIOW mehr Beweglichkeit: Erstens ermöglicht ein Monitoring den Verantwortlichen ein evidenzbasiertes, zielgenaues und flexibles Nachsteuern der Veränderung. Veraltete Monitoring-Ansätze liefern die Auswertungen meist zeitverzögert oder aufgrund händischer Analyseprozesse auch teils fehlerbehaftet. Mit neuen Lösungen können Ergebnisse aus validierten Kurzbefragungen von repräsentativen Stichproben automatisch und in Echtzeit in übersichtlichen Dashboards dargestellt werden. Diese visualisieren Ergebnisse zu wichtigen Treibern von Veränderungserfolg (z. B. Informationsqualität und Commitment) über unterschiedliche Gruppen (z. B. Abteilungen oder Hierarchieebenen) hinweg. So können Ausreißer identifiziert und sinnvolle Maßnahmen abgeleitet werden. Diese Auswertungen können durch automatisierte Textanalysen von offenen Antwortfeldern und unstrukturierten Daten aus den internen sozialen Medien angereichert werden. Folglich kann schnell tiefgreifender erörtert werden, welche Themen bestimmte Gruppen besonders bewegen. Zweitens ermöglichen solche Monitoring DIOW schnelle  Reaktionen und Adaptionen durch zeitnahe Rückkopplung zwischen Verantwortlichen und Betroffenen. Verantwortliche können sich mit den Dashboards schnell einen guten Überblick über die Veränderungsbereitschaft in der Organisation verschaffen und zeitnah Maßnahmen ableiten. Ein Quick-Win ist häufig, dass bestimmte Ergebnisse mit den Betroffenen automatisch direkt geteilt werden können (z. B. Zugriff auf Teile der Dashboards) und damit effizient Transparenz hergestellt wird. Darüber hinaus können über die Ergebnisse evidenzbasiert Prioritäten bestimmt und direkt angegangen werden.

Risiken. Die oben angesprochenen Herausforderungen zum Datenschutz kommen auch hier deutlich zum Tragen. Effekte sozialer Erwünschtheit und strategischen Antwortverhaltens beeinflussen die Datenqualität und kommen erschwerend hinzu. Außerdem ist aus Sicht der Mitarbeiter*innen jede Befragung nicht nur eine neutrale Messung des Status Quo, sondern in sich selbst eine Intervention, die eine Signalwirkung mit unerwarteten Konsequenzen haben kann. Die geringen Nutzungskosten von digitaler Befragungssoftware können dazu führen, dass Führungskräfte in immer kürzeren Zyklen Daten sammeln – der Versuch, jede Entscheidung abzusichern – sodass Mitarbeiter*innen befragungsmüde werden. Darüber hinaus kann sich auf Seiten der Betroffenen schnell das Gefühl von Überwachung einstellen und zu neuen Widerständen führen. Der Eindruck, per Knopfdruck kontrollierbar zu sein, kann eine ablehnende Haltung auslösen, wodurch schlussendlich die erfolgreiche Veränderungsumsetzung gefährdet wird.
Aber auch aus Perspektive der Verantwortlichen kann der Einsatz von Monitoring-DIOW zu Überforderung führen. Zunächst wird die notwendige Daten- und Analysekompetenz häufig unterschätzt.
Es ist wichtig, die fachgemäßen analytischen Fragen zu stellen, die Daten im Kontext richtig zu interpretieren und daraus die geeigneten Schlussfolgerungen abzuleiten. Ein grundlegendes Verständnis von deskriptiven, aber auch komplexeren Zusammenhangs- (z. B. Regressionsverfahren) oder Clusteranalysen (z. B. latente Klassenanalysen) ist hierfür essenziell.
Das bedeutet, dass diese Datenkompetenzen innerhalb des Change Teams vorhanden sein sollten. Auch die Formulierung und Operationalisierung sinnvoller statt unbewusst lenkender Fragen, stellt eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Eine gute Validierung von Befragungsinstrumenten ist wesentlich für die Aussagekraft der gesammelten Daten. Außerdem führen solche Anwendungen dazu, dass das Feedback von Betroffenen kontinuierlich von den Verantwortlichen aufgenommen und adressiert werden muss. Gegeben den Reaktionen, die bestimmte Veränderungsvorhaben hervorrufen können, erfordert der Umgang mit emotional-negativem Feedback über digitale Kanäle auch starke emotional-soziale Kompetenz, um mit diesen Emotionen zu arbeiten und angemessen zu reagieren.

Weitere übergreifende Herausforderungen

Egal um welche Konstellation der oben skizzierten Aufgaben- und Technologieansätze es bei DIOW geht, kommen weitere Herausforderungen hinzu. So besteht bei einem technokratisch missverstandenen DIOW-Einsatz immer die Gefahr, die Komplexität und widersprüchliche Dynamik realer Change Prozesse hinter einer letztlich immer vereinfachenden Reduktion auf wenige Indikatoren (z. B. durch die Auswahl der KPI im Monitoring) aus dem Auge zu verlieren. Das gilt insbesondere für grundsätzlich schwer zu objektivierende Aspekte wie informelle Beziehungen oder Erfahrungswissen, deren Relevanz u. a. für Veränderungsprozesse (Pfeiffer, 2020) belegt ist. Dies gilt umso mehr für die gerade bei KI-Managementanwendungen (z. B. predictive maintenance) häufig unterschätzten, komplexen Wechselbeziehungen zwischen IT-Systemen und organisationaler Ebene in Veränderungsprozessen.

Zusammenfassung

Veränderungen in Organisationen sind eine Herausforderung. Wie wirksam DIOW dabei unterstützen können, ist eine offene Frage. Viele etablierte Methoden im Change Management bleiben voraussichtlich bestehen. Ebenso bleibt der Fokus auf dem Menschen essenziell für erfolgreichen Wandel. Allerdings bieten DIOW neue Chancen, indem sie Veränderungsprozessen neue Impulse geben sowie die Möglichkeiten von Inklusion, Individualisierung und Anpassungsfähigkeit im Change selbst verändern. Das heißt aber, dass neben Chancen, auch die Risiken ausreichend adressiert werden müssen, um den Effekt von DIOW ganzheitlich abschätzen zu können. Potenzielle Risiken fokussieren z. B. die Möglichkeit der Kontrolle, ethische und datenschutzrechtliche Bedenken sowie die potenzielle Überforderung der Anwender durch Datenflut und technisches Knowhow. Die Diskrepanz zwischen meist positiven Schilderungen der Praxis und fundierten Erkenntnissen motiviert den Diskussionsbedarf. In einem interdisziplinären Projekt gefördert durch das Bayerische Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt, 2022) gehen wir diesen Fragestellungen nach. Damit möchten wir den Diskurs über einen wichtigen Themenbereich anstoßen, der voraussichtlich die Zukunft des Change Managements prägen wird.

 

Prof. Dr. Rouven Kanitz
Assistant Professor of Organizational Change Rotterdam School of Management, Erasmus University

Saskia Hasreiter
Wiss. Mitarbeiterin und Doktorandin, Institut für Leadership und Organisation, Ludwig-Maximilians-Universität München

Dieser Beitrag entstand in enger Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Martin Högl, LMU München; Prof. Dr. Sven Laumer, Prof. Dr. Sabine Pfeiffer, Bastian Brechtelsbauer und Dr. Katja Schönian, alle FAU Erlangen-Nürnberg.

Literatur:

• bidt – Bayerisches Forschungsinstitut für Digitale Transformation (2022). Transforming digitally: Digitale Innovationen zur erfolgreichen Gestaltung des organisationalen Wandels.
https://www.bidt.digital/forschungsprojekt-diow/
• DiLeonardo, A., Mendelsohn, D., Selvam, N. & Wood, A. (2020). Personalizing change management in the smartphone era. McKinsey Quarterly, May.
https://zoe-online.org/change-smartphone-era
• Groß, S. & Hardwig, T. (2020). Über den Wolken: Moderation im virtuellen Raum. Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, Heft 2/2020.
• Hertwig, R. & Grüne-Yanoff, T. (2017). Nudging and boosting: Steering or empowering good decisions. Perspectives on Psychological Science.
• Kanitz, R. & Gonzalez, K. (2021). Are we stuck in the predigital age? Embracing technology-mediated change management in organizational change research. The Journal of Applied Behavioral Science.
• Laumer, S., Maier, C., Eckhardt, A. & Weitzel, T. (2016). User personality and resistance to man-datory information systems: A theoretical model and empirical test of dispositional resistance to change. Journal of Information Technology.
• Pfeiffer, S. (2020). Kontext und KI: Zum Potenzial der Beschäftigten für Künstliche Intelligenz und Machine-Learning. HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik.
• Trénel, M. (2020). Mitsprache digital: Lebendige Bürgerbeteiligung in Veränderungsprozessen am Beispiel der Stadt Zürich. Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, Heft 2/2020.

 


Wozu Paradoxien?

Auf dem Weg zur paradoxiefähigen Organisation und Führung

Vor knapp 30 Jahren postulierte Charles Handy das Zeitalter von Paradoxien. Komplexität und Voraussetzungsreichtum – wie uns nicht zuletzt die Klimakrise, die COVID-19 Pandemie oder der Krieg in der Ukraine vor Augen führen – konfrontieren heute Gesellschaft, Organisationen und jede*n Einzelne*n mit widersprüchlichen Situationen. Widersprüchliche Erwartungen in Organisation, z. B. dass das Alte bewahrt und das Neue entwickelt wird, dass Menschen befähigt und gleichzeitig kontrolliert werden, hocheffizient gearbeitet und gleichzeitig Raum und Zeit für Innovation geschaffen wird, Kreativität und Unterschiedlichkeit gefördert und gleichzeitig eine kohäsive Kultur geschaffen wird, treten in disruptiven Zeiten deutlicher zutage. Diese und andere Widersprüchlichkeiten in den Blick zu nehmen und einen produktiven Umgang damit zu entwickeln, wird durch eine Paradoxienperspektive auf organisationale Phänomene ermöglicht und ist unser Thema.

Organisationale Paradoxien, in der Literatur oft definiert als interdependente, widersprüchliche und andauernde Elemente (Smith & Lewis, 2011), können von individueller bis zur global gesellschaftlichen Ebene sichtbar werden: So sieht sich der Einzelne widersprüchlichen Erfolgsvorstellungen gegenüber, z. B. der Gleichzeitigkeit von effizienter, gegenwartsbezogener Aufgabenerfüllung und flexiblem, kreativem Lernen für Morgen. Auf der Ebene von Gruppen geht es z. B. darum, dass Personen möglichst individuell und eigenständig sein wollen und gleichzeitig ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit haben. Auf Ebene der Gesamtorganisation stehen sich oft Spannungsfelder aus Teil und Ganzem gegenüber, wenn beispielsweise die Zielvorstellungen oder Arbeitsweisen des einen Bereichs nicht mit denen anderer Bereiche oder der Gesamtorganisation kongruent sind, der lokale Teilerfolg nicht den Gesamterfolg nach sich zieht. Oder wenn Organisationen im Bildungs-, Gesundheits-, Wissenschafts- oder Wirtschaftsbereich zunehmend Erwartungen ihrer Anspruchsgruppen ernst nehmen, neben wirtschaftlichen Zielen auch andere, mitunter konfliktäre Zwecke zu verfolgen. Derartige so genannte hybride oder pluralistische Organisationen sind inhärent widersprüchlich – eben paradox. Sie spiegeln grundlegende gesellschaftliche Spannungsfelder wie Klimawandel, Pandemien, soziale Ungleichheit wider, sind häufig widersprüchlich, komplex und bringen beim Lösungsversuch oft unbeabsichtigte und mitunter sogar gegenteilige Folgen hervor.

Luescher & Lewis (2008) bringen es auf den Punkt, wenn sie behaupten, dass das Problem nicht das Problem ist, sondern die Art wie wir darüber denken. Mit anderen Worten geht es insbesondere für Führungskräfte darum, sich selbst mit den unauflösbaren Widersprüchen in deren jeweiligen Kontext anzufreunden. Gerade in Organisationen aber reicht eine individuelle paradoxe Haltung zu Paradoxien – ein so genanntes paradoxical mindset (Miron-Spektor et al., 2017) – nicht aus, weil Führung zunehmend zu einer gemeinschaftlichen Aufgabe wird. Es geht darum, Plattformen zu etablieren, um die Situation und die eigenen Beiträge zu reflektieren, gemeinsam Paradoxien in den Blick zu nehmen, einen Umgang damit zu finden und diese Einsichten in experimentellen Schritten über geeignete Routinen, Prozesse und Strukturen in Organisationen zu verankern – wohlwissend, dass Paradoxien nicht verschwinden und damit eine immer wiederkehrende Bearbeitung erfordern.

Paradoxien treten insbesondere unter den Bedingungen von Ressourcenknappheit, Pluralismus und Veränderung auf. Ressourcenknappheit produziert Entscheidungsnotwendigkeit, gerade weil man beispielsweise nicht logisch eindeutig klären kann, welche Alternative besser ist. Pluralistische Kontexte bringen eine Vielfalt von Verständnissen, Interessen und Vorgehensweisen mit sich, die für sich genommen vernünftig, zusammengenommen aber oft absurd, widersprüchlich oder wechselseitig ausschließend erscheinen. Veränderung führt zur Infragestellung bisheriger Praxis, der damit verbundenen Verständnisse, Ziele und Interessen angesichts einer ungewissen Zukunft, von der man erwartet, dass es anders wird, aber nicht weiß, ob es besser wird.

Verständnisse von Paradoxien

Der Blick auf Paradoxien in Organisationen – in Form von Stabilität und Veränderung, Gegenwart und Zukunft, Zentralisierung und Dezentralisierungen, wirtschaftlicher und sozialer Zwecke, Wettbewerb und Kooperation, lokales und globales Agieren – richtet sich auf die Ungereimtheiten, die Dynamik, das Unklare von Organisationen. Der Blick durch die paradoxale Brille fokussiert den Kern wozu es Führungskräfte in Organisationen braucht, nämlich das (rational) Unentscheidbare zu entscheiden. Dazu müssen solche widersprüchlichen, unlösbaren Spannungsfelder auf Ebene von Individuen, Gruppen oder Organisationen rekonstruiert und beschreibbar gemacht werden. Auf dieser Basis können dann Organisationen, Teams und Einzelakteure mit Paradoxien produktiv umgehen. Denn Paradoxien können lähmen oder zum kreativen Handeln einladen, zu Teufelskreisen oder positiven Entwicklungsdynamiken – vicious oder virtuous cycles – führen, und sich strukturell oder kulturell über die Zeit fortsetzen. In der Literatur finden sich drei unterschiedliche Verständnisse von organisationalen Paradoxien.

 

Widersprüchliche Erwartungen

Spannungsfelder wie das gleichzeitige Verfolgen von Effizienz und Innovation oder von Wettbewerb und Kooperation sind Beispiele für das Verständnis von Paradoxien als widersprüchliche Erwartungen. Ein Hauptteil der Literatur folgt diesem Verständnis und untersucht auf welche Art und Weise die Akteure damit produktiv umgehen oder auch nicht (Putnam, Fairhurst & Banghart, 2016). Abbildung 1 zeigt beispielhaft einige dieser Spannungsfelder.

«Paradoxien treten insbesondere unter Ressourcenknappheit, Pluralismus und Veränderung auf.»

Das Beleuchten derartige Spannungsfelder dient der Komplexitätssteigerung, weil deutlich wird, dass die jeweiligen Elemente sich gegenseitig bedingen. Dazu drei Beispiele: 1) Wandel braucht Stabilität und Stabilität braucht Wandel. 2) Gerade weil Organisationen fortlaufend arbeiten und ihrerseits komplex sind, ändern sie sich nur von selbst, aber eben genau deshalb auch nicht (im beabsichtigten Sinne). 3) Entscheidungen (wie z. B. in der Pandemie) müssen sowohl schnell und von einzelnen sowie breit abgestützt und akzeptiert getroffen werden, um erfolgreich Wirkung zu entfalten. Auch wissen viele Führungskräfte bewusst oder unbewusst, dass sie die Steuerung einer Organisation verantworten, die sich aber nicht im trivialen Sinne steuern oder gar beherrschen lässt. Das ist vor allem bei hybriden oder pluralistischen Organisationen der Fall, deren Mitglieder sich an den unterschiedlichen Zwecken orientieren, die sich zu manchen Zeiten diametral gegenüberstehen.

«Der ironische Ausgang hebt hervor, dass das Andere bereits im Einen mit angelegt ist.»

Der Fokus auf einzelne solcher Paradoxien dient zudem der Komplexitätsreduktion. Er hilft, eine zunächst unübersichtliche Handlungssituation auf wenige Spannungsfelder zu reduzieren. Insofern kann es hilfreich sein, eine zunächst unübersichtliche Handlungssituation nach den unterschiedlichen Erwartungen zu hinterfragen, um möglichen Paradoxien auf die Spur zu kommen, wenn sich zeigen lässt, welche davon unerlässlich sind. Natürlich können Organisationen mit mehreren derartigen Spannungsfeldern konfrontiert sein (und sind es in der Regel auch), die sich ggf. gegenseitig verstärken oder ausgleichend wirken, was aber von der jeweiligen Situation abhängt (Sheep, Fairhurst & Khazanchi, 2017).

Ironischer Ausgang

Während das erste Verständnis die Erwartungen an eine Situation fokussiert, hebt das zweite Verständnis die Handlungsfolgen hervor. Seit der Antike kennt man das Ikarus-Paradoxon und mit Joseph Hellers (1994) gleichnamigem Roman auch Catch-22. Beide kennzeichnen einen ironischen Ausgang, weil statt der intendierten Wirkung das Gegenteil eintritt. Bei Joseph Heller geht es darum, sich als Soldat als verrückt einstufen zu lassen, um weiteren Kampfhandlungen zu entgehen, wobei der Vorgang selbst dazu führt, dass man als normal und damit kampfähig klassifiziert wird. In Organisationen ist ein bekanntes Beispiel die Paradoxie des Erfolgs (Miller, 1993). Sie beschreibt, dass – ganz im Sinne des immer höher fliegenden Ikarus – anhaltender Erfolg das Risiko des Misserfolgs birgt, wenn sich die Akteure zunehmend auf ihr Erfolgsrezept verlassen. «Never change a winning team», verkennt in diesem Sinne, dass die Umwelt sich ändert, also der Gegner sich an die eigene Spielweise anpasst. Vielleicht liegt hier auch der Grund dafür, dass bei vergangenen Weltmeisterschaften (2010, 2014, 2018) der jeweilige amtierende Weltmeister im folgenden Finalturnier früh ausschied. Die Perspektive des ironischen Ausgangs hebt hervor, dass das Andere (z. B. der Misserfolg) bereits im Einen (z. B. dem Erfolg) mit angelegt ist. Forschung in dieser weniger bekannten Richtung fragt beispielsweise danach, wie trotz der bekannten Erfolgsrezepte die Akteure in Organisationen den Blick auf mögliche Alternativen offenhalten und ihre Sensibilität für Veränderungen in der organisationalen Umwelt aufrechterhalten. Ziel ist es dabei, möglichst vorausschauend Veränderungen anzugehen, bevor es zu spät ist oder einschneidende Kriseninterventionen nötig werden.

Paradoxale Operationen

Ein drittes Verständnis, das Luhmanns Theorie sozialer Systeme und Günther Ortmann vertiefen, ist jenes der paradoxalen Operation. Demnach sind Entscheidungen bei genauer Betrachtung stets paradox: Eine Entscheidung setzt echte Alternativen voraus, sonst wäre es keine Entscheidung. Durch die Wahl einer Alternative entsteht aber das Gegenteil: weil eine Alternative gewählt wurde, gelten die übrigen Alternativen als schlechter. Mit anderen Worten impliziert die Operation des Entscheidens die Bedingung ihrer Möglichkeit, die Alternativen, die zugleich keine Alternativen und somit die Bedingung ihrer Unmöglichkeit sind. Gegen eine Alternative kann man sich nur entscheiden, wenn es eine bessere Alternative gibt, aber eine schlechtere Alternative ist keine Alternative. Deshalb sind Entscheidungen gleichzeitig festlegend (durch die Wahl einer Alternative) und kontingent (weil die anderen Alternativen jetzt, später, am gleichen oder einem anderen Ort hätten gewählt werden können). Forschungen in dieser Richtung beschäftigen sich beispielsweise damit, wie Organisationen und ihre Akteure die Paradoxie des Entscheidens ausblenden und einblenden, in andere Zeiten und Orte verschieben oder durch die Verschiebung an Einzelpersonen auslagern, die die anstehende Frage dann entscheiden und so die Organisation von der Paradoxie entlasten.

Alle drei Verständnisse von Paradoxien können Führungskräfte, Mitarbeitende und Berater*innen darin unterstützen, das Bild einer vorliegenden Handlungssituation zu schärfen. Je nach Verständnis treten unterschiedliche Aspekte hervor – Erwartungen, Handlungsfolgen, Entscheidungen – die wiederum miteinander kombiniert werden können, um sich so ein reichhaltiges Bild von einer ansonsten komplexen, unübersichtlichen und dynamischen Handlungssituation zu erarbeiten. Für den Umgang mit Paradoxien bzw. deren Management haben sich einige grundlegende Zugänge entwickelt, die im folgenden Abschnitt behandelt werden.

Umgang mit Paradoxien: von der Lösung zur Entfaltung

Anders als Probleme – die Auswahl zwischen zwei ansprechenden Pizzen lässt sich durch eine entsprechende Wahl lösen – kann man Paradoxien nicht zum Verschwinden bringen. Es geht im Umgang mit Paradoxien darum, sie zu entfalten, weil sich widersprüchliche Erwartungen, ironische Ausgänge oder paradoxe Operationen nicht auflösen lassen. Sie verschwinden nicht, sondern tauchen immer wieder auf, womöglich an einem anderen anderen Ort in der Organisation oder auch zu einer anderen Zeit. Statt also Paradoxien zu lösen, geht es um ihre Entfaltung. Entfaltungsansätze reichen vom Ignorieren, über den Fokus auf ein Element statt des anderen, der Suche nach verbindenden Synergien bis hin zur schrittweisen Erweiterung des Kontextes, in dem eine Paradoxie eingebettet ist (Putnam et al., 2016). Die grundlegenden Entfaltungsansätze umfassen etwa ein Entweder-oder bei dem eine Seite einer Paradoxie gegenüber der anderen priorisiert wird. Beispiele wären die Verstaatlichung gesellschaftlich relevanter Leistungen, um sie einem wirtschaftlichen Zweck zu entziehen oder im Unternehmenskontext die Steigerung von Entwicklungsinitiativen auf Kosten des aktuellen Geschäfts. Prinzipiell nimmt bei der Fokussierung des einen der Zug und damit die Spannung hin zum anderen Pol zu. Beispielsweise leidet die Effizienz bei verstaatlichten Unternehmen oder der Wunsch nach Stabilität steigert die Unruhe in Organisationen, ohne dass Entwicklungsinitiativen ihre geplante Wirkung im Arbeitsalltag entfalten.

«Anders als Probleme kann man Paradoxien nicht zum Verschwinden bringen.»

Ein weiterer Entfaltungsansatz ist das Sowohl-als-auch, bei dem beide Seiten gleichzeitig verfolgt werden. Ambidextrie beschreibt z. B. die Fähigkeit von Organisationen, sowohl effizient als auch innovativ zu sein. Beides kann beispielsweise durch Trennung von Abteilungen (räumlich), zeitlich wechselndem Fokus zwischen Erforschen und Nutzen, oder dem situativen Entwickeln neuer Optionen beim Nutzen bestehender Möglichkeiten erreicht werden. Sowohl-als-auch-Ansätze erfordern von den Mitgliedern ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz. Es besteht das Risiko, dass eine fortlaufend immer wieder anders entscheidende Führung – mal die eine, dann die andere Seite oder beide Seiten dieser Paradoxie – zu Orientierungs- und Legitimitätsverlusten führt. Einen dritten Ansatz zur Entfaltung stellt das Mehr-als dar, bei dem ein drittes Element wie etwa eine neue Perspektive oder Reflexionsräume eingeführt werden, um den (erlebten) Spannungsfeldern Raum zur Artikulation als Voraussetzung für deren Bearbeitung zu bieten. Beispielsweise kann die Einführung einer Prozessperspektive dabei helfen, die Wertschöpfung als gemeinschaftlichen Bezugspunkt für die weiteren Entwicklungen zu verstehen oder ein verändertes organisationales Selbstverständnis zu entwickeln. Dieser Ansatz erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion, um sich als Teil der Situation und sowohl als Teil der Lösung als auch des Problems zu verstehen. Diese Entfaltungsansätze sind bereits aus der indischen Rechtslogik als Tetralemma bekannt, wonach Richter sich für die eine oder die andere Partei, für eine Entscheidung zu (un-)gunsten beider oder keine von beiden entscheiden, z. B. indem sie die Klage abweisen. Das Tetralemma eröffnet den Blick für weitere Entfaltungsmöglichkeiten wie übersehene Verbindungen oder Vereinbarkeiten zwischen dem Einen und dem Anderen (beides), die Erweiterung des Kontextes der Paradoxie bis hin zu einem «all das nicht, aber auch das nicht». Es kann damit genutzt werden, um innovativ und bislang vermeintlich übersehene Perspektiven und Entfaltungsmöglichkeiten zu entwickeln.

 

Für Organisationen können die entsprechenden Zugänge zu Paradoxien wie in Abbildung 2 dargestellt werden. Die skizzierten Formen zum Umgang mit Paradoxien sind überaus kontextabhängig. Je nach Geschichte, Kultur und Zukunftsausrichtung bestehen für diese Zugänge unterschiedliche Möglichkeiten und Grenzen. Zudem schließen sich die Zugänge nicht unbedingt aus. Beispielsweise zeigte sich während der COVID-19 Pandemie in Krankenhäusern, dass diese zunächst einen Wechsel zwischen ihrem Normalbetrieb und dem Pandemiebetrieb verfolgten. Ein solches Entweder-oder erschien gerade im Frühjahr 2020 angemessen aufgrund der Ungewissheit zum Infektionsgeschehen sowie der Notwendigkeit, möglichst schnell die entsprechenden Kapazitäten bereitzustellen. Mit zunehmender Dauer der Pandemie verfolgten Krankenhäuser zunehmend parallel Pandemie- und Normalbetrieb. Letztlich haben alle Patient*innen Anspruch auf Behandlung und diese lässt sich nicht unbegrenzt aufschieben. Daher wurde von einem Entweder-oder in ein Sowohl-als-auch gewechselt, wobei auch dies mit allgemein sichtbaren Nebenwirkungen einherging, insbesondere einem zunehmendem Personalausfall.

Voraussetzungen einer Paradoxiefähigkeit

Das hier vorgestellte Paradoxieverständnis sowie die Formen der Paradoxieentfaltung deuten bereits auf die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Umgang mit Paradoxien hin. Sie zeigen, dass die Entwicklung einer Fähigkeit mit Paradoxien umzugehen  ein überaus anspruchsvoller Prozess ist, der quer durch die Organisation verläuft. Für Einzelakteure und insbesondere Führungskräfte geht es darum, eine Haltung – also ein paradoxes Mindset – zu Paradoxien zu entwickeln. Dazu gehört, Widersprüchlichkeiten auszuhalten, sie als Bestandteil der Handlungssituation zu begreifen und neben den meist augenfälligen Spannungsfeldern auch ihre wechselseitige Abhängigkeit in den Blick zu nehmen. Genauso gehört zu einer solchen Haltung ein gehöriges Maß an Kreativität, um je nach Situation einen passenden Zugang für den nächsten Schritt im Umgang mit Paradoxien zu entwickeln. Auf der Ebene von Teams und Organisationen ist eine gelingende Kommunikation eine zentrale Voraussetzung für die Stärkung von Paradoxiefähigkeit. Es geht dabei insbesondere um verankerte, strukturierte und geführte Reflexions- und Experimentierräume, in denen sich die Team- oder Organisationmitglieder zu Paradoxien austauschen und mögliche Schritte im Umgang mit den erlebten Spannungsfeldern erarbeiten. An dieser Stelle können externe Beratende in der Moderation und bei der Fokussierung auf die Spannungsfelder unterstützen, wobei sie dabei wie alle übrigen Beteiligten zwar in eigener Rolle aber eben auch Teil von Problem und Lösung werden. Derartige Haltungen und Kommunikationsräume müssen in der Organisation verankert, von Führung und Kultur honoriert und in die bestehenden Routinen und Abläufe eingearbeitet werden. Andernfalls besteht die Gefahr, sich selbst mit einer widersprüchlichen Botschaft ein Bein zu stellen – ganz nach dem Motto: «wasch mich, aber mach mich nicht nass».
Gelingt der Aufbau der individuellen, team- und organisationsbezogenen Paradoxiefähigkeit über die entsprechende Reflexion und Experimentierpraxis leistet sie einen Beitrag für eine vorausschauende Selbsterneuerung im Umgang mit den derzeitigen grand oder tough challenges. Natürlich lässt sich nicht alles, was uns zunächst seltsam oder unverständlich erscheinen mag, als Paradoxie beschreiben. Insofern ist die Entwicklung von Paradoxiefähigkeit auch nur eine Erweiterung des Repertoires an Perspektiven, die wiederum eine Basis für die Entwicklung möglicher Ansatzpunkte im Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit bietet. Statt Paralyse lädt die Paradoxieperspektive zum Handeln ein, denn: «Das Gleiche lässt uns in Ruhe. Es ist der Widerspruch, der uns produktiv macht» (Johann Wolfgang von Goethe).

 

Prof. Dr. Harald Tuckermann
Universität St. Gallen/Schweiz

Prof. Dr. Thomas Schumacher
ZOE-Redakteur, Prof. für Organisation und Führung, Kath. Hochschule Freiburg, Lehrbeauftragter Univ. St. Gallen, Partner osb-international, Wien

Dr. Marc Krautzberger
Lecturer Strategy, University of Edinburgh

 

Literatur

• Farjoun, M. (2017). Contradictions, Dialectics, and Paradoxes. In A. Langley, & H. Tsoukas (Eds.), The Sage Handbook of Process Organization Studies, 1 ed.: 87-109. Sage.
• Handy, C. (1994). The Age of Paradox. Harvard Business School Press.
• Heller, J. (1994). Catch-22. Vintage Books.
• Luescher, L., S. & Lewis, M. 2008. Organizational change and managerial sensemaking: Working through paradox. Academy of Management Journal, 51: 221-240.
• Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Opladen.
• Miller, D. (1993). The Architecture of Simplicity. Academy of Management Review, 18(1): 116-138.
• Miron-Spektor, E., Ingram, A., Keller, J., Smith, W. K. & Lewis, M. W. (2017). Microfoundations of organizational paradox: the problem is how we think about the problem. Academy of Management Journal, forthcoming: 1-50.
• Putnam, L. L., Fairhurst, G. T. & Banghart, S. (2016). Contradictions, dialectics and paradoxes in organizations: a constitutive approach. Academy of Management Annals, 10(1): 1-107.
• Sheep, M. L., Fairhurst, G. T. & Khazanchi, S. (2017). Knots in the Discourse of Innovation: Investigating Multiple Tensions in a Reacquired Spin-off. Organization Studies, 38(3-4): 463-488.
• Smith, W. K. & Lewis, M. W. (2011). Towards a theory of paradox: a dynamic equilibrium model of organizing. Academy of Management Review, 36(2): 381-401.
• Varga von Kibéd, M. & Sparrer. I. (2000). Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Carl-Auer.
• von Foerster, H. (1994). Wissen und Gewissen. Suhrkamp.


Editorial Ausgabe 1/23

Paradoxien erkennen und managen

«Genau, genau, sie sind eben widersprüchlich» – rief der CEO geradezu erleichtert im ca. 30-köpfigen Kreis seines Führungsteams und einiger Führungskräfte der nächsten Ebene aus. Was war passiert? Bei der Erarbeitung wesentlicher Anforderungskriterien für die anstehende Reorganisation hatte einer der Anwesenden kritisch angemerkt, dass es sich ja um teils widersprüchliche Anforderungen handele und man wohl kaum gleichzeitig die Effizienz steigern und für innovative Angebote sorgen könne. Mein Hinweis «herzlich Willkommen in der Wirklichkeit» führte erst zum Ausruf des CEO, dann entspann sich eine lebhafte Diskussion über die benannten widersprüchlichen Anforderungen und die eigene Entweder-oder-Perspektive.

Gegensätze wie jene von Effizienz und Innovation oder auch Stabilität und Wandel, Dezentralität und Zentralität oder kurz- und langfristigen Anforderungen treten in Organisationen zuneh­mend zutage. Mehr noch: Angesichts von Pluralität, Ressourcenknappheit und Veränderung nehmen die damit einhergehenden Spannungen zu. Dabei sind die zugrundeliegenden Paradoxien bisweilen schwierig zu erkennen.

Um es klar zu sagen: Paradoxien gehören zum Normalzustand und sind Teil jeder Organisation – keine vorübergehende Betriebsstörung, die es zu beseitigen gilt. Sie treten häufig da auf, wo Organisationsmitglieder versuchen, konkurrierenden Anforderungen gerecht zu werden. Das erfordert von Führung die Fähigkeit, Paradoxien sehenden Auges als interdependent, widersprüchlich und andauernd wahrzunehmen und zu bearbeiten, statt sie zu ignorieren, zu polarisieren, zu beschwichtigen oder darauf zu bestehen, dass sie gelöst werden müssten.

Im Schwerpunkt dieser Ausgabe schauen wir auf Spannungen in Krankenhäusern im Kontext der Pandemie, identifizieren das Paradoxien-Dreieck im VW-Dieselskandal und beschreiben die widersprüchlichen Herausforderungen interner Beratung. Wir sprechen mit Praktiker*innen und Forschenden über neue Erkenntnisse zu Paradoxien und liefern Ansätze und Instrumente zum wirksamen Umgang mit ihnen.

Die Paradoxien-Perspektive wird – so unsere Überzeugung – zunehmend wichtiger für uns und die Welt in der wir leben. Die OECD beschreibt 2018 in einem Bericht, dass der Umgang mit Spannungen und Dilemmata eine der kritischen Kompetenzen ist, um die Zukunft zu gestalten und Gesellschaft zu verändern. Wir laden Sie ein, sich mutig die Paradoxien-Brille aufzusetzen. Aber Vorsicht! Die «verschärfte» Sicht auf das widersprüchliche bunte Leben in Organisationen birgt Chance und Risiko zugleich.

Herzlich, Ihr

Thomas Schumacher