Wir machen jetzt Dailys

Wie Unternehmen agile Methoden konterkarieren

Weil sich die digitale Geschäftswelt immer schneller dreht, bilden sich Teams nur noch, um eine bestimmte Aufgabe zu erledigen, und lösen sich dann wieder auf. So zu arbeiten, lässt sich aber nicht einfach verordnen. Neun Irrtümer über agile Methoden – und wie es doch noch klappen kann.

Kaum ein Unternehmen verzichtet heute darauf, agile Methoden auszuprobieren. Ob Vendor Management, regulierte Industrie oder eine Bank, fast überall geht es inzwischen darum, agil zu handeln oder sich agil aufzustellen. Am häufigsten setzen die Teams auf Scrum, danach folgen Kanban, DevOps sowie Lean und Design Thinking. Das zahlt sich aus. Wer sich agil neu erfindet, bekommt meist mehr raus, als er oder sie vorher reingesteckt hat. 89 Prozent der Teams, die agile Methoden nutzen, erzielen Ergebnisse, die den Aufwand rechtfertigen. Sie liefern ihre Projekte schneller ab, machen dabei weniger Fehler und gehen seltener Risiken ein, wie die Hochschule Koblenz in einer Studie mit mehr als 600 Teilnehmenden aus 20 Ländern zeigt (Komus et al., 2020). Trotz dieser guten Erfahrungen kommen Unternehmen aber nicht immer zum gleichen Ziel, obwohl sie von sich sagen, den gleichen Aufwand zu betreiben. Einige meinen, die Erfolgswahrscheinlichkeit gleiche einem Münzwurf. Wie kann das sein?

Agil handeln versus agil sein

Auch wenn es agile Methoden heißt, ist Agilität keine Methode. Es ist auch kein Werkzeug, um bessere Software zu schreiben oder ein Framework, das jeder lernen und anwenden kann, wie die Regeln eines Spiels. Vielmehr setzt sich Agilität aus verschiedenen Werten und Prinzipien zusammen, oder kurz: aus Glaubenssätzen, um besser zu entscheiden und schneller zu einem Ergebnis zu kommen. Das agile Manifest (Beck et al., 2001) nennt vier dieser Glaubenssätze, an denen sich z. B. Scrum, Kanban & Co. orientieren:

1. Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge.
2. Funktionsfähige Produkte sind wichtiger als umfassende Dokumentationen.
3. Zusammenarbeit mit Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlung.
4. Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.

Wer diese Glaubenssätze liest, fragt sich häufig, wie er oder sie jetzt danach handeln soll, um agil zu sein. Gerade Neulinge auf diesem Gebiet wissen nicht gleich, wo sie starten sollen, und suchen deshalb zunächst nach agilen Werkzeugen, nach etwas, das sich sofort anwenden lässt und von anderen wahrgenommen wird. Simon Powers (2006) nennt das die agile Zwiebel (agile onion) in deren Kern bewährte Werkzeuge und Techniken für agiles Arbeiten stecken (vgl. Abbildung 1). Dazu gehören beispielsweise Daily Meetings, Retrospektiven und Story Points. Doch genau wie ein Hammer niemanden zum Handwerker macht, machen agile Techniken allein niemanden zum Pionier für Agilität. Wichtiger noch als die Werkzeuge, die für jeden sichtbar sind, weil sie offensichtlich etwas an der Art zu arbeiten verändern, sind die zu verinnerlichenden Werte. Sie lassen sich weniger leicht erkennen, sind es aber, die erst zu den gewünschten Ergebnissen im Unternehmen führen. Menschen verständigen sich am besten über Werte, nicht über Abläufe, denn das macht sie nahezu beliebig austauschbar – und verhindert Spitzenleistungen. Grund dafür ist einer der wichtigsten Werte im Arbeitsleben: Vertrauen zwischen Menschen. Genau das aber geht verloren, wenn Menschen nur noch in einen vorher festgelegten Ablauf vertrauen, statt sich gegenseitig Vertrauen zu schenken. Mit dem Vertrauen verlagert sich zudem auch die Verantwortung auf den Prozess, weil das Individuum nicht mehr selbst zu entscheiden braucht, was zu tun ist. Das verstößt nicht nur gegen die agilen Glaubenssätze, sondern erfüllt gleich zwei von fünf Kriterien, die Patrick Lencioni identifiziert hat, warum Teams scheitern (Lencioni, 2002). Die weiteren drei sind, neben fehlendem Vertrauen und fehlender Verantwortung, die Angst vor Konflikt, fehlende Verbindlichkeit (Commitment) und Unaufmerksamkeit gegenüber den Resultaten. Deshalb dürfen flache Hierarchien und kleine Teams, die selbst verantwortlich sind und entscheiden sollen, nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben. Beides leitet sich unmittelbar aus dem agilen Mindset ab (vgl. Hofert, 2018, S. 20ff.). Der Personaldienstleister Hays hat festgestellt, dass agile Teams nicht nur besser entscheiden und Prioritäten richtig setzen, sondern auch die Beteiligten besser einbinden und sich viel stärker an dem orientieren, was Kund*innen sich wünschen (Hays 2015, S. 16). Aktuellere Studien kommen zu ähnlichen, wenn auch weniger detailliert aufgeschlüsselten Ergebnissen. Was sie alle gemeinsam haben: Sie beziehen sich auf Organisationen, die agile Glaubenssätze bereits verinnerlicht haben.

 

Ansonsten würden die Führungskräfte nicht entlastet, sondern wären damit beschäftigt, agile Werkzeuge einzuführen und ihr Team zwar mit anderen Methoden zu steuern, aber eben doch immer noch zu steuern. An genau dieser Schwelle stehen viele Unternehmen. Sie führen agile Werkzeuge ein und trainieren sich an, danach zu handeln. Doch agile Glaubenssätze tatsächlich zu verinnerlichen und dafür zu sorgen, dass sich die Teams wirklich selbst verantwortlich fühlen, sie zu ermutigen, selbst zu entscheiden, das ist für viele noch ein weiter Weg (vgl. Lasnia & Nowotny, 2018, S. 41ff. und S. 82f.). Dafür müssen sich Unternehmen in Teilen neu erfinden. Wenn man so will, geht es darum, den Sprung aus dem Kern der Zwiebel (vgl. Abbildung 1) in die äußeren Schalen zu schaffen. Dorthin, wo die agile Organisation anfängt, sich zu verselbständigen. Daran, an dem letzten Quäntchen Mut, scheitert manch agile Transformation.

Neun Irrtümer im agilen Alltag

Wie schmal der Grat zwischen gerade noch klassisch und gerade eben schon agil sein kann, sollen die folgenden Beispiele aus der Praxis zeigen. Wer regelmäßig in agilen Teams oder in Teams arbeitet, die es noch werden wollen, dürfte sich hier wiederfinden.

1. Wir sind jetzt agil. Wir machen Dailys. Darin stecken gleich zwei falsche Annahmen. Die Aussage ersetzt nur eine Methode durch eine andere. Über den Individuen stehen, anders als das agile Mindset vorschlägt, weiterhin Prozesse. Wer so spricht, befindet sich tief im Innern der agilen Zwiebel und vermutet wohl, dass sich durch die agilen Werkzeuge automatisch ein besseres Ergebnis einstellt. Daraus ergibt sich eine mögliche Gefahr: Cherry Picking, also sich aus klassischen und agilen Methoden das auszusuchen, was dem Entscheider gerade nützt. Dann fühlt es sich für die Mitarbeitenden so an, als wäre Agile nur eine zusätzliche Belastung, weil das Daily eben täglich stattfindet, statt des vormals wöchentlichen Jour Fixes. Praktisch heißt das, es geht so weiter wie bisher. Das Unternehmen gewinnt dadurch nichts, denn: «A fool with a tool is still a fool» (Ron Weinstein). Scrum, aus dessen Baukasten das Daily stammt (vgl. Abbildung 2), ist eine Heuristik. Sie bedient sich der agilen Glaubenssätze, um hochkomplexe Probleme zu lösen, die sich nur schwer beschreiben und deshalb schwer in die klassische Wasserfallplanung übersetzen lassen. Die Dailys dienen dazu, sich gegenseitig auf den aktuellen Stand zu bringen und zu besprechen, wer was als nächstes tut – sie sind nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in einem normalen Scrum Cycle alles passiert.

 

2. Wir brauchen keinen Plan. Wir sind agil. Agil sein, heißt nicht, auf einen Plan ganz zu verzichten. Wer so vorgeht, lässt seine agilen Teams nackt im Wind stehen. Zwar brauchen die Kolleg*innen keinen bis zur Abnahme getakteten Plan. Wohl aber eine Idee, Vision oder Zielvorgabe, worauf das agile Projekt hinlaufen soll. Dazu gehört auch, Pläne zu schmieden, und zwar kontinuierlich, kleinteilig und innerhalb des Teams. Von außen muss deshalb das Warum oder das Was kommen sowie Grundvertrauen darin, dass sich ein agiles Team selbst organisiert (vgl. Triest & Arend, 2019, S. 157ff.) und aufgabenbezogen Pläne fasst.

3. Ich entscheide nichts. Auch nicht der Product Owner. Viele Unternehmen trauen sich nicht oder nur zaghaft, Verantwortung an den Product Owner eines agilen Teams abzugeben. Wenn es wirklich wichtig wird, sollen immer noch Gremien entscheiden oder diejenigen, die vor einer agilen Transformation schon auf den richtigen Stühlen saßen. Das geht fast immer schief, weil sich ein Product Owner dann verhält wie jemand, der ein Projekt leitet – und so zum Spielball der Geschäftsleitung verkommt. Tatsächlich sollen Product Owner aber die einzigen sein, die ins Team kommunizieren und Anforderungen formulieren. Ihre Aufgabe ist es, Bedürfnisse innerhalb der Organisation zu erkennen und zu priorisieren. Wo das nicht passiert, sollten die Unternehmen ihre agilen Rollen klären (vgl. ebd. S. 105ff., 159ff. und Schmiedlinger, Rasche, Thonfeld & Tuchen, 2021, S. 53ff., insb. S. 60–63).

4. Wer zum Teufel hat das verbockt? Das ist eine gefährliche Frage, weil sie nach Schuldigen sucht, statt zu betonen, was das Team aus einem Fehler gelernt hat. Fehler zu machen, ist in der agilen DNA fest verankert, weil es darum geht, sich einem großen Problem in kleinen Schritten zu nähern und ständig zu schauen, was funktioniert und was nicht. Dahinter steckt ein völlig anderes Menschenbild als jenes der industriellen Revolution, die Arbeitsteilung, Planung und möglichst wenig Irritationen als ideal betrachtet (Taylorismus). Agile Teams gehen von einer systemisch-konstruktiven Haltung aus: «Jeder Mensch handelt aus seiner Sicht im jeweiligen Augenblick und Kontext sinnvoll» (Oestereich & Schröder, 2019, S. 18). Mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, untergräbt dieses Ideal und unterminiert den freien Fluss der Ideen in Teams, weil jeder damit rechnen muss, an den Pranger gestellt zu werden.

5. Unsere Kundenberater*innen wissen am besten, was die Kund*innen wollen. Hinter dieser häufig getroffenen Fehlannahme steckt die Idee, dass Mitarbeitende und Kund*innen gleich oder zumindest äquivalent handeln und denken. Was wir gut finden, finden sie auch gut. Wer aber auf unterstellten Wünschen beginnt, ein Projekt durchzuführen, riskiert viel. Schlauer ist es, ständig zu validieren, ob das, was das eigene Unternehmen gerade entwickelt, dem entspricht, was der Markt will. Immerhin basiert das gesamte agile Mindset darauf, die Welt als ständig in Bewegung wahrzunehmen. Diese Bewegung aber können Mitarbeitende erfahrungsgemäß nicht simulieren, weil sie sich permanent mit ihrem eigenen Anschauungsobjekt – dem neuen Produkt oder dem nächsten Update – auseinandersetzen. Kund*innen dagegen beschäftigen sich damit nur genau in dem Augenblick, in dem sie ein Angebot nutzen. Darum gilt: So früh wie möglich die Zielgruppe um Rat fragen und sie dauerhaft einbinden.

6. Wir bauen den goldenen Henkel schon im MVP. Ein MVP – Minimal Viable Product – ist das am ehesten lauffähige Produkt und darum notwendigerweise nicht perfekt. «Verabschiede dich von perfekt, freunde dich an mit erledigt», schreibt Maria-Xenia Hardt (2021) über ihre Doktorarbeit, die sie teils unter erheblichem Zeitdruck erstellt hat. Das gilt beispielhaft für jedes agile Projekt. Nicht, dass man es nicht besser machen könnte, doch dafür bleibt noch Zeit, wenn es erstmal funktioniert. Zudem bestehen zwei gravierende Risiken, falls das MVP bereits einen vermarktungsfähigen Zustand (MMP) erreicht. Erstens wird häufig das Budget gekürzt, weil das Produkt angeblich fast fertig ist, und zweitens verlängern sich die Release-Zyklen, da sich niemand traut, ein unfertiges Produkt zu veröffentlichen. Reihenhäuser statt Luftschlösser bauen, führt eher zum Erfolg.

7. Straffer Zeitplan und knappe Ressourcen? Mit Scrum bekommen wir das hin! Die Wahrheit ist, dass sich Projekte mit Scrum meist aufwändiger, weniger schnell und mit höheren Kosten als mit einem vergleichbaren, klassisch als Wasserfall geplanten Projekt umsetzen lassen. Der Grund: Scrum versteht sich nicht als Liefermaschine, sondern als Heuristik um zu lernen. Wenn keine Zeit dafür besteht, Wissen aufzubauen, auszuprobieren und zu lernen, eignet sich Scrum nicht für das vorgesehene Projekt. Vielmehr baut die Entscheidung, Scrum einzusetzen, unnötigen Druck auf das Scrum-Team auf, bloß rechtzeitig fertig zu werden. Das Problem: Scrum macht inspect and adapt stark (vgl. Sutherland, 2002, S. 15–17), nicht follow suit, also stumpf dem zu folgen, was andere vorgeben – und sei es nur die Vorgabe, einfach zu machen, statt dem Sinn und Zweck agiler Methoden zu genügen und den Teams die Zeit einzuräumen, die sie brauchen, um zu lernen und sich zu verbessern. Besonders gefährlich ist dieses Vorgehen, wenn es bereits erfolgreiche Scrum-Projekte im Unternehmen gibt. Deren Sinn droht nachträglich Schaden zu nehmen.

8. Selbst mitdenken müssen, stand aber nicht in der User Story. User Stories müssen einfach geschrieben sein und nicht mit zu vielen Details überladen. Hänge das Bild im Kinderzimmer 1,50 Meter über dem Boden, 2 Meter von der rechten Wand entfernt mit einem 3cm Nagel auf und setze den Hammer im 45-Grad-Winkel an und schlage genau dreimal kräftig zu, ist keine sinnvolle User Story, wenn es darum geht, ein Bild aufzuhängen, ohne, dass es runterfällt. Im schlimmsten Fall trifft derjenige, der diese Anweisungen ausführt, die Stromleitung. Details auszuarbeiten und auftretende Schwierigkeiten zu umgehen, gehört zu den Kernaufgaben des agilen Teams. Vorab sollten alle beteiligten Personen klären, ob jeder den Kontext und das Ziel des Kunden – die User Story im wörtlichen Sinne – versteht. Das reicht. Anderenfalls gilt das berühmte Sprichwort: shit in, shit out.

9. Ich habe leider keine Zeit für die Retro. Wer die Retrospektive schwänzt, um keine Zeit für den nächsten Sprint zu verlieren, höhlt inspect and adapt (vgl. ebd.) aus und verhindert so, dass das Team lernt. Zudem bauen sich möglicherweise Spannungen auf, falls sich jemand im Team übergangen oder nicht ausreichend gewürdigt fühlt. Diesen Konflikt tragen Betroffene mit sich herum und stecken damit schlimmstenfalls alle anderen an. Weil niemand von diesen Befindlichkeiten weiß, bleibt unentdeckt, ob es sich um einen unglücklichen Einzelfall handelt oder um etwas, das andere Kolleg*innen genauso empfinden. Ein womöglich ernstes Problem bleibt unausgesprochen. Das ist Gift für die gesamte Firmenkultur. Wer skeptisch zu den Retros eingestellt ist, lässt sich häufig mit einer Scrum-Simulation überzeugen, dass sie sinnvoll sind und das Team weiterbringen.

Agilität richtig verankern

Fast alle diese Beispiele, warum Agilität im Unternehmen scheitert, lassen sich darauf zurückführen, dass viele Führungskräfte die neuen Methoden einfach verordnen. Ihnen ist nicht klar, dass sie sich für mehr als nur einen Werkzeugkasten entscheiden. Wer agile Teams fördern und deren Erfolg sicherstellen will, muss sich auf einen kulturellen Wandel einlassen, der auch Auswirkungen auf etablierte Führungskräfte hat. Dafür sollten sich Organisationen bewusst entscheiden (vgl. Schmiedlinger, Rasche, Thonfeld & Tuchen, 2021, S. 3–14). Das setzt auch voraus, zuerst das richtige Umfeld zu schaffen, damit agile Methoden florieren – agil sein zu wollen, weil das jetzt alle machen, führt dagegen nahezu sicher zu Frustrationen. Führungskräfte sollten nicht bloß imitieren was andere machen oder was in Büchern steht. «Being Agile» und «Agile Doing» unterscheiden sich stark voneinander, insbesondere darin, was erreicht werden soll – in der Beratersprache ist das der Impact. Und der findet vor allem im Kopf statt. Scrum, Kanban & Co. zielen darauf, das Lernen zu vereinfachen. Sie schaffen Räume, um sich auszutauschen und stellen Formate und Methoden vor, die das agile Mindset fördern. Sie stellen das Warum über das Wie. Darum ist agil sein auch so anstrengend, weil sich agile Teams das Warum permanent vergegenwärtigen müssen und keinen vorab gefassten Plan abarbeiten. Agilität gilt als ein Wertesystem zweiter Ordnung, das für obligatorisch und nicht optional hält, das Wozu und Wohin immer wieder von neuem auszuleuchten (Oestereich & Schröder 2019, S. 22).

Auf diese Klärung lassen sich alle agilen Methoden und Frameworks zurückführen. In seinem Aufsatz «Aufbruch in das Ungewisse» in OrganisationsEntwicklung Heft 4/2020 nennt Alexander Nicolai dies die «Logik des iterativen Innovierens», die sich innerhalb der agilen Teams abspielt und die für Unternehmen als übergeordnetes Leitbild dienen sollte, und erklärt, warum es sich dabei um einen «zeitlosen Kern» von Agilität handelt. Er beschreibt, wie aus der Not und einer simplen Webseite heraus Airbnb entstand. Die ersten drei Buchungen waren der MVP und noch nicht das fertige Produkt. Transferwise, Dropbox oder die Digitalbank N26 seien auf eine ähnliche Weise großgeworden. N26 ist auch deshalb ein gutes Beispiel, weil das Unternehmen derzeit mit der Bankenaufsicht im Clinch liegt. Im Juli 2021 hat die BaFin gegen N26 eine Geldbuße von 4,25 Mio. Euro verhängt, weil die Bank Lücken bei der Geldwäscheprävention nicht rechtzeitig geschlossen hat (BaFin, 2021). Hier prallen zwei völlig verschiedene Weltbilder aufeinander. Nicolai rät deshalb, Iterationsbarrieren abzubauen und sich eine flexible Distanz zum «operating core» zu erlauben: «Weit genug entfernt, um möglichst frei iterieren zu können, nah genug, um erfolgskritische Ressourcen hebeln zu können …» (Nicolai 2020).

Wer sich für dieses Mindset öffnet, bleibt ständig in Bewegung. Zwar gibt es auch in einer agil organisierten Arbeitswelt hin und wieder Aufgaben, die keinen Spaß machen. Eine Routine, die nicht selten zum Boreout führt, stellt sich dagegen kaum ein, weil verinnerlichte Agilität bedeutet, niemals an einem bestimmten Ziel anzukommen. Kein Unternehmen kann insofern jemals abschließen, sich agil zu transformieren. Auf den erreichten Gipfel folgt immer schon der nächste Change (vgl. Schmiedlinger, Rasche, Thonfeld & Tuchen 2021, S. 180–192). Wer agil mit Hilfe eines Transformationsteams werden möchte, sollte sich deshalb davor hüten, dieses Team später aufzulösen, sondern sich stattdessen fragen, wie es dazu beitragen kann, die agile Botschaft im Unternehmen weiterzutragen.

 

Sophie Hummel
Partner Senacor Technologies

Ann-Katrin Stehle
Senior Consultant Senacor Technologies, Frankfurt am Main

 

Literatur

• BaFin (2021). N26 Bank GmbH: BaFin setzt Geldbußen fest. https://zoe.ch/bafin
• Beck, K. et al. (2001). Agile Manifesto. www.agilemanifesto.org, zuletzt abgerufen am 6. Oktober 2021.
• Hardt, M.-X. (2021). Silicon-Valley Methoden im Studium: Verabschiede dich von «perfekt», freunde dich an mit «erledigt». Der Spiegel. https://zoe.ch/erledigt-statt-perfekt
• Hays AG (2015). Von starren Prozessen zu agilen Projekten: Unternehmen in der digitalen Transformation. https://zoe.ch/haysdigitransformation
• Hofert, S. (2018). Das agile Mindset: Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten. Springer-Gabler.
• Komus, A. et al. (2020). Studie Status Quo (Scaled) Agile 2019/2020. Hochschule Koblenz. www.status-quo-agile.de
• Lasnia, M. & Nowotny, V. (2018). Agile Evolution: Eine Anleitung zur agilen Transformation. BusinessVillage.
• Lencioni, P. (2002). The Five Dysfunctions of a Team: A Leadership Fable. Jossey-Bass.
• Nicolai, A. (2020). Aufbruch in das Ungewisse: Die Logik des iterativen Innovierens als zeitloser Kern agiler Innovationsmethoden. OrganisationsEntwicklung, Heft 4/2020, 46–51.
• Oestereich, B. & Schröder, C. (2019). Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. Vahlen.
• Powers, S. (2006). What is Agile? Adventures with Agile. https://www.adventureswithagile.com/2016/08/10/what-is-agile/
• Schmiedlinger, C., Rasche, C., Thonfeld, E. & Tuchen, K. (2021). Agile Transformation. Der Praxisguide zum Change abseits des Happy Paths. Hanser.
• Sutherland, J. (2015). Die Scrum-Revolution. Management mit der bahnbrechenden Methode der erfolgreichsten Unternehmen. Campus.
• Triest, S. & Ahrend, J. (2019). Agile Führung: Mitarbeiter und Teams erfolgreich führen und coachen. mitp Verlag.


Kooperation als Grundsatzentscheidung

Facilitator Adam Kahane im Gespräch

Zusammenarbeit ist kein Wert an sich, sondern eine Abwägung von Kosten, Nutzen und der Mühsal der Auseinandersetzung mit anderen. Ein Gespräch mit Facilitator Adam Kahane, Direktor von Reos Partner in Montréal, über das Beseitigen von trennenden Hindernissen und die Entscheidung, welche Gesamtheit an Interessen gerade von Bedeutung ist.

ZOE: Bei der Lektüre Ihres Buchs hatte ich irgendwie die Vorstel­lung, dass Ihnen da jeder mehr oder weniger zustimmen müsste. Warum scheitern wir trotzdem so oft in der Zusammenarbeit?

Kahane: Das ist eine gute Frage. Das Interessante daran ist: Wenn es derart einleuchtend ist, warum denken dann so viele Leute, dass sie konventionelle Kollaboration machen müssen – und welche Risiken birgt das? Sie haben da einen nützlichen Begriff verwendet: Es ist eine rationalistische Herangehensweise. Mein Lehrer Kees van der Heijden argumentiert, dass die Arbeit der rationalistischen Schule zu Unternehmensveränderung und -strategie sowohl ubiquitär als auch lächerlich ist. Denn wenn man sich die Bedingungen ansieht, die für einen rationalistischen Ansatz in der Praxis notwendig sind, wird man erkennen, dass sie fast nie erfüllt werden. Man kann also sagen, dass irrationalerweise ein rationalistisches Paradigma dominiert.

Die Leute mögen die Idee von Zusammenarbeit zwar gut finden, tatsächlich aber ist Zwang die kulturelle Norm. Man könnte es auch als die eigennützige Option bezeichnen. Das hat zur Folge, dass Leute oft behaupten, dass sie zusammenarbeiten, aber eigentlich Zwang anwenden. Das ist pure Manipulation. Deshalb habe ich den Begriff Stretch gewählt: Es ist eine Dehnung wie beim Work-out im Fitnessstudio. Sie fühlt sich unbequem, seltsam und schmerzhaft an, bis man sich daran gewöhnt hat.

ZOE: Sie haben in der ganzen Welt gearbeitet, häufig Friedens­ prozesse moderiert, etwa in Südafrika, Kolumbien, Ecuador oder Thailand. Gibt es da signifikante Unterschiede oder ist es dieselbe Art der Zusammenarbeit wie in Unternehmen?

Kahane: Diese Situationen sind alle unterschiedlich und doch alle gleich. Von meinem Naturell her interessiere ich mich für das, was gleich ist, ich nähere mich diesen Dingen im Guten wie im Schlechten auf einer hohen Abstraktionsebene und sehe die Ähnlichkeiten.

Ich würde nicht sagen, dass meine Arbeit zwangsläufig Friedensarbeit ist, aber sie findet, ebenso wie die Arbeit von Reos Partners, zu hundert Prozent in Multi-Stakeholder-Systemveränderungsprozessen statt. Dabei handelt es sich um Personen, die i. d. R. in keiner formalen hierarchischen Beziehung stehen. Es kann durchaus gewichtige Macht- oder Ressourcenunterschiede zwischen ihnen geben, aber sie befinden sich nicht in derselben Organisationshierarchie.

Normalerweise kann niemand verfügen oder erzwingen, wie etwas gemacht wird. Zumindest nicht im Projekt an sich. Meiner Erfahrung nach verlangt eine Systemveränderung mit vielen Stakeholdern die Konzentration auf echte Zusammenarbeit, weil keiner eine Antwort erzwingen könnte. Alle Beteiligten haben immerzu die Option, auszusteigen. Sie sind freiwillig da und weil sie jederzeit gehen können, besteht der Bedarf nach Zusammenarbeit – es muss aufrichtig zugehen, kollaborativ und mehrere Gesamtheiten müssen bedient werden.

ZOE: In Ihrem neuen Buch «Facilitating Breakthrough» geht es um die vertikale und horizontale Dimension der Zusammenarbeit. Wie beeinflussen diese Zusammenarbeit?

Kahane: Das Buch gibt eine Neudefinition des Facilitators als jemand, der die Zusammenarbeit unterstützt. Diese Rolle kann von einem Berater, einer Führungskraft oder einem Manager, einem Teammitglied oder einem Coach übernommen werden. Konventionelle Zusammenarbeit ist meistens das, was ich vertikale Kollaboration nenne. Vertikal bedeutet hier lediglich, dass es ein Hierarchiegefälle zwischen dem Größeren und dem Kleineren sowie dem Oberen und dem Unteren gibt. Zum Beispiel, dass die einzelne Person gegenüber der Abteilung nachgeben muss, diese wiederum gegenüber  dem  Unternehmen als Ganzes sowie der Junior gegenüber dem Senior und der Nicht-Experte gegenüber dem Experten. Vertikale Facilitation ist durch die Gewichtung charakterisiert, beziehungsweise die Verwendung von Hierarchie, um einen Weg zu finden. Ich würde sagen, dass vertikale Facilitation die häufigste Form ist, sogar unter Facilitatoren, die sich selbst als sehr egalitär verstehen. Die Vorstellung, dass der Größere über dem Kleineren und der Obere über dem Unteren steht, ist in den meisten Kontexten derart grundsätzlich, dass sie Standard ist.

Dann gibt es eine weitere gebräuchliche Art der Facilitation: Ich nenne sie horizontale Facilitation. Hier ist Gleichwertigkeit das Prinzip. Oberste Priorität hat nicht das Wohl des Teams, des Unternehmens oder der Aktion als Ganzes, sondern das Wohl jedes einzelnen Teilnehmenden. Die Vorteile horizontaler Facilitation sind Autonomie und Vielfalt. Die Nachteile sind Zersplitterung und völliger Stillstand.

Leute behaupten oft zusammenzuarbeiten, aber eigentlich wenden sie Zwang an.

ZOE: Also braucht es letztlich eine Entscheidung für die eine oder für die andere Richtung?

Kahane: In meinem Buch argumentiere ich auf Basis dieser Definition, dass wir sowohl vertikale als auch horizontale Facilitation anwenden müssen, wenn wir systemischen Wandel ermöglichen wollen – sei es in Unternehmen oder in anderen sozialen Kontexten. Das ist eine klassische Polarität, wie sie Barry Johnson in seinem Buch über Gegensätze beschreibt, deshalb geht es nicht darum, die eine oder die andere Möglichkeit zu wählen. Es geht auch nicht darum, einen Kompromiss zu finden, sondern darum, zwischen horizontal und vertikal zu wechseln. Genau das nenne ich «Transformative Facilitation». Diese wechselt zwischen vertikaler und horizontaler Facilitation, um die oben erwähnten Nachteile zu reduzieren. Wenn man feststellt, dass man mit der horizontalen Facilitation zersplittert und zum Stillstand kommt, wechselt man zur vertikalen und so weiter. Das Hin- und Herwechseln ermöglicht das Vorwärtskommen.

ZOE: Wir sprechen über Facilitation. Was empfehlen Sie jeman­dem, der in einem Unternehmenskontext versucht, Zusammenar­beit zu fördern und zu unterstützen?

Kahane: Ein Facilitator ist jemand, der Zusammenarbeit möglich macht. Es ist mir wirklich ein Anliegen, den Begriff neu zu definieren. In einer Welt, in der Zwang eine begrenzte Reichweite hat, ist es unabdingbar, dass eine der primären Rollen von Führungskräften, Managern und anderen Teammitgliedern die Rolle des Facilitators ist. Dazu muss ich die Geschichte erzählen, in der das Buch seinen Ursprung hat: 2017 war ich Facilitator in einem Workshop in Uganda, nachdem das Friedensabkommen unterzeichnet worden war. Dieser brachte ehemalige Guerillas, Politiker, CEO und indigene Anführer zusammen, die eben erst einen 52-jährigen Bürgerkrieg beendet hatten. Dabei war auch ein Mann, den ich bereits vorher getroffen hatte und von dem ich überrascht war, ihn dort zu sehen: Francisco de Roux, er ist in Kolumbien sehr bekannt und war früher das Oberhaupt der dortigen Jesuiten. Erst in der Vorwoche war er zum Leiter der Wahrheits- und Versöhnungskommission ernannt worden. Auf die Frage, warum er hier sei, antwortete er, er habe gerade diesen neuen Job übernommen und es könnte dafür hilfreich sein, teilzunehmen. Am Ende des ersten Tages kam er auf mich zu und erklärte: Adam, ich erkenne, was du da tust. Ich antwortete, ok, cool – und was tue ich? Er sagte: Du beseitigst, was den Ausdruck des Geheimnisses behindert.

ZOE: Und was bedeutet das?

Kahane: Dieser Satz war die Inspiration für das neue Buch. Zwei Dinge folgen daraus. Erstens: Die meisten Facilitators, Führungskräfte und Manager denken, ihre Hauptaufgabe bestehe darin, Leute dazu zu bringen, Dinge zu tun. Francisco hat mir geholfen zu realisieren, dass man das so gut wie nie schafft. Ich kann meinen Lebenspartner oder meine Lebenspartnerin nicht dazu bringen, etwas zu tun, nicht meine Kinder, nicht meine Katze. Ich kann Leute, über die ich keine hierarchische Macht habe, nicht dazu bringen, irgendetwas Bestimmtes zu tun. Deshalb ist Facilitation ein sehr interessantes Prinzip. Denn es geht darum, wie man einen Beitrag in der Welt leistet, auch ohne, dass man es schafft, irgendjemanden dazu zu bringen, etwas zu tun. Francisco bringt es auf den Punkt: das Entscheidende ist nicht, irgendjemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, sondern das Entscheidende ist, die Hindernisse zu beseitigen. Das ist eine ganz andere Perspektive, auf Facilitation und Management zu blicken.

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Adam Kahane – Biografie

Adam Kahane ist im kanadischen Montréal Direktor von Reos Partners, einem internationalen Sozialunternehmen, das Menschen dabei hilft, bei ihren wichtigsten und schwierigsten Problemen gemeinsam voranzukommen. Als Facilitator ist er rund um den Globus aktiv als Organisator, Gestalter und Vermittler von Prozessen, in denen Führungskräfte aus Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft gemeinsam an der Lösung von Herausforderungen arbeiten. Systemische Transformation, komplexe Situationen und die Lösung von Konflikten sind Adam Kahanes Spezialgebiete. Er hat in über fünfzig Ländern und in allen Teilen der Welt mit Führungskräften, Politikern, Generälen, Guerillas, Beamten, Gewerkschaftern, Gemeindeaktivisten, Vertretern der Vereinten Nationen, Geistlichen und Künstlern gearbeitet.

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ZOE: Was bedeutet es für einen Manager oder eine Beraterin kon­kret, die Hindernisse für Zusammenarbeit zu beseitigen?

Kahane: Von Paul Tillich gibt es das Buch «Liebe, Macht und Gerechtigkeit». Er formuliert sehr spezifische Definitionen, die sich vom üblichen Gebrauch dieser Begriffe unterscheiden. Macht, die alles antreibt, um sich selbst zu realisieren. Liebe als der Antrieb, das Getrennte zu vereinen. Und Gerechtigkeit als Struktur, die dafür sorgt, dass die Macht der einen, nicht die Macht der anderen auslöscht. Ich finde diese Definitionen gewaltig, sie erklärt viele Phänomene, denen wir der der Rolle als Facilitator und Manager*in begegnen. Um die Frage also mittels dieser Definitionen zu beantworten: Macht zu ermöglichen oder Hindernisse zu beseitigen, die Macht verhindern, bedeutet, jeden dazu zu befähigen, zu der zu erledigenden Sache das beizutragen, was er oder sie kann. Das bedeutet, Chancen zur Beseitigung kultureller, hierarchischer oder organisatorischer Hürden – jener Hürden, die eine Beteiligung an einem kollektiven Konzept oder eine Zusammenarbeit verhindern – zu erkennen, solche Chancen zu kreieren und ihnen Raum zu geben.

ZOE: Gibt es da noch mehr?

Kahane: Eine weitere praktische Umsetzung ist, die Hindernisse vor jenem zu entfernen, was ich Liebe nenne, quasi der Antrieb, das Getrennte zu vereinen. Auch hier gibt es strukturelle Hürden, die verhindern, dass unterschiedliche Einheiten miteinander verbunden sind und sie so zu Silos machen. Hindernisse für die Beziehung zwischen Kunden und Unternehmensmitarbeitenden oder zwischen Community-Mitgliedern und Mitarbeitenden. Hindernisse für die Beziehung zwischen dem Unternehmen und seinem sozialen und natürlichen Umfeld. Man könnte auch hinzufügen: Hindernisse für die Beziehung zwischen einer Person und ihrem eigenen Selbst. Das sind alles trennende Dinge. Und die praktische Aufgabe ist es, diese Hindernisse zu entfernen.

Das nächste Phänomen ist Gerechtigkeit, die für mich ein neues Element im Buch ist. Ich habe lange gebraucht, um das zu entpacken, um deutlich zu machen, dass die Strukturen entscheiden, ob einige Menschen etwas beitragen und sich verbinden, andere Menschen hingegen außenvorbleiben. Üblicherweise sind es meist Leute in höheren Positionen, die mehr Freiraum haben. Sie dürfen mit anderen sprechen, sie dürfen zu Meetings gehen, sie dürfen sich äußern, sie dürfen frei reden, sie dürfen neue Ideen vorschlagen. Wohingegen Leute in niedrigeren Positionen, Angehörige marginalisierter Gruppen, Minderheiten, Frauen oder Mitarbeitende mit direktem Kundenkontakt in den meisten Unternehmen weniger Möglichkeiten haben, etwas beizutragen und sich zu verbinden. Das ist unfair, ungerecht und hemmt Zusammenarbeit. In diesem Sinn versuche ich, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welche Veränderungen man in der Struktur anstreben muss, um Beitrag, Verbindung und Gleichheit zu ermöglichen.

ZOE: Wenn Sie sich heute Ihren Ansatz ansehen: Was überrascht Sie selbst am meisten?

Kahane: Mich überrascht, dass der Gedanke an Alternativen zu Zwang, zu Herumkommandieren oder brutaler Hierarchie wahrscheinlich schon sehr lange existiert. Als ich «Collaborating with the enemy» geschrieben habe, war mir bewusst, dass die konventionelle Zusammenarbeit eine vertikale ist, aber nicht, dass ich mich einseitig auf die Nachteile konzentriere. Bei Shell arbeiteten wir mit Charles Hampden-Turner, der von Dilemmata spricht, statt von Gegensätzen. Sein Kernpunkt: Es ist der große Fehler von Unternehmen, fälschlicherweise zu glauben, sie hätten die Wahl, wenn sie vor einem Dilemma stehen. Tatsächlich – und das ist bemerkenswert – identifizierte Hampden-Turner ein Bündel an Dilemmata bei Shell, das in seiner Präzision so schockierend war, dass es intern im Unternehmen nur informell herumgereicht wurde. Sein eigentlicher Punkt war wunderbar: Zentralisierung versus Dezentralisierung oder explizite Dienstleistungsverträge versus informelle Absprachen sind z. B. keine Wahlmöglichkeiten, sondern Dilemmata. Und wer denkt, er hätte die Wahl, wird zehn Jahre Zentralisierung bekommen und dann zehn Jahre Dezentralisierung.

ZOE: Es gibt also kein Entweder-­oder?

Kahane: Der erste Satz meines Buches lautet: «Building forward together is becoming less straight forward.» Mein Wortspiel mit dem Ausdruck «straight forward» enthüllt, dass Zusammenarbeit eben nicht geradlinig ist. Sie ist eine Spirale. Man muss sich in ihr zurück- und vorwärts bewegen. Die wesentliche Fähigkeit ist dabei, wahrnehmen zu können, was gerade passiert und welchen Schritt man als nächstes machen muss. Das kann man nicht im Voraus prognostizieren.

ZOE: Mr. Kahane, vielen Dank für das interessante Gespräch.


Können Sie Change?

Was Veränderungskompetenz ausmacht

Veränderungskompetenz ist ein vielschichtiges Konstrukt. In sich stetig im Wandel befindenden Unternehmen spielt sie eine immer größere Rolle. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sowie ein agiles Mindset (Hofert, 2018) kennzeichnen mittlerweile die Anforderungsprofile im Recruiting sowie der Personalentwicklung. Die Lust und Fähigkeit zur Veränderung wird zur Schlüsselkompetenz auf allen Ebenen in den Unternehmen. Doch was ist eigentlich eine «Veränderungs-kompetenz»? Um sie rekrutieren und entwickeln zu können, müssen wir unter die Oberfläche schauen.

Zunächst umfasst Veränderungskompetenz als sog. Meta-Kompetenz ein Set an Ressourcen, mit dem kognitive und praktische Fähigkeiten sowie soziale Verhaltenskomponenten wie Haltungen, Emotionen, Werte und Motivation mobilisiert werden. Das bedeutet ganz praktisch, Veränderungen aktiv mitzugestalten, ist nicht nur eine Frage des Könnens, sondern vor allem eine Frage des Wollens. Wissen und Können sowie die individuelle Motivation zum Wandel müssen zusammenspielen. So bedeutet das Vorhandensein von Veränderungsfähigkeiten (leider) noch lange nicht, dass die entsprechende Bereitschaft, sich auf das Neue einzulassen, ebenso ausgeprägt sein muss. Diesen Aspekt gilt es in Personalauswahl und -entwicklung zu berücksichtigen. Schauen wir uns dieses Zusammenspiel genauer an. Ein umfassendes Konzept zur Veränderungskompetenz von Mitarbeitenden legt Szebel (2015) vor. Veränderungskompetenz umfasst zunächst die Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft (das Können und Wollen). Wissen und Erfahrung in Bezug auf  Veränderungsprozesse ist ein ebenso wichtiger Bestandteil wie die individuellen Persönlichkeitsdispositionen. Eingebettet ist der Mitarbeitende in den organisationalen Kontext und damit auch in den jeweiligen Veränderungskontext. Dieser stellt einen wichtigen Einflussfaktor vor allem auf die sog. spezifische Veränderungsbereitschaft dar (siehe Abbildung 1).

 

Verändern können – Zusammenspiel von Persönlichkeit und Fähigkeiten

Kompetent mit Veränderungen umzugehen, verlangt zum einen nach einem ganzen Set an verschiedenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Wichtig ist hierbei festzustellen, dass Mitarbeitende über ein möglichst breites Verhaltensrepertoire sowie entsprechende entsprechende Handlungsstrategien verfügen, welche ihnen einen flexiblen Umgang mit verschiedenen Veränderungssituationen erlauben. Dieses Phänomen bezeichnet Szebel als «agile Anpassungsfähigkeit» (Szebel, 2015, S. 110). Sie umfasst die Selbststeuerung (Selbstreflexion, Resilienz) sowie die Flexibilität auf verschiedene Situationen entsprechend zu reagieren (Problemlösefähigkeit, Umgang mit Informationen) als auch die Fähigkeit zur Umsetzung (Fokussierung, Zielorientierung).

Zum anderen kommen auf Seiten der Persönlichkeit stabile, überdauernde Eigenschaften ins Spiel wie z. B. Selbstwirksamkeit, Optimismus, positives Selbstwertgefühl, Offenheit für Neues, Extraversion, Risikofreude, Ambiguitätstoleranz (einen Überblick liefert Vakola et al., 2013). Stabile Merkmale der Persönlichkeit bieten in Bezug auf Personaleinstellung oder -entwicklung die Möglichkeit der standardisierten Messung mit Hilfe von Fragebögen (z. B. NEO Fünf-Faktoren Inventar nach Costa & Mc Crae, 2008). Doch was damit erfasst wird, indiziert eher das Vorhandensein einer allgemeinen Veränderungsbereitschaft der Mitarbeitenden.

Verändern wollen — Bedeutung der spezifischen Veränderungsbereitschaft

Die Unterscheidung in eine allgemeine und spezifische Veränderungsbereitschaft klärt die verschiedenen Reaktionsweisen von Mitarbeitenden im Wandel auf (siehe Abbildung 2).

Die spezifische Bereitschaft stellt eher eine emotionale und kognitive Einstellung gegenüber dem konkreten Veränderungsvorhaben dar. Sie ist damit durch den jeweiligen Veränderungskontext, also durch die Gestaltung des Change-Projektes, beeinflussbar. Wohingegen die allgemeine Veränderungsbereit als zeitlich stabil und änderungsresistent anzusehen ist, da sie auf Persönlichkeitsdispositionen beruht. Personen können sich demnach generell im Unternehmen als veränderungsbereit zeigen, «einen spezifischen Veränderungsprozess jedoch ablehnen» (Szebel, 2015, S. 106). Dies hat Implikationen für die Personalauswahl: Selbst wenn bei der Einstellung eine neue Mitarbeiterin z. B. Offenheit für Neues bewiesen hat (stabile, messbare Persönlichkeitseigenschaft), kann sich diese Mitarbeiterin trotzdem im konkreten Veränderungsprojekt gegen den Wandel stellen (spezifische, negative Veränderungsbereitschaft). Im konkreten Change-Vorhaben lässt sich jedoch die spezifische Haltung des Einzelnen durch die Gestaltung des Veränderungskontextes durch z. B. Kommunikation und Involvement beeinflussen. Damit wird die Bedeutung der motivierenden Change-Kommunikation nochmal deutlich (vgl. Dold & Röbcke-Gronau, 2018).

 

«Veränderungen aktiv mitzugestalten, ist nicht nur eine Frage des Könnens, sondern vor allem eine Frage des Wollens.»

Demnach sollte bei der Einstellung neuer Mitarbeitender auf die Ausprägung der Persönlichkeitseigenschaften geachtet werden, die positiv mit der allgemeinen Veränderungsbereitschaft zusammenhängen. Ebenso können die einzelnen Fähigkeiten zur Veränderung wie z. B. Selbstreflexion oder Problemlösefähigkeit mit etablierten Methoden der Eignungsdiagnostik wie simulative Verfahren oder biografische Verfahren erfasst werden. Geht es jedoch um die konkrete Bereitschaft, in einem Change-Projekt aktiv mitzuwirken, sind wir gefordert den organisationalen Kontext beziehungsweise den Change-Prozess zu gestalten.

 

Resistance to change oder readiness for change?
Die persönliche Entscheidung für oder gegen den Wandel hängt vom Veränderungskontext ab. Besonders Aspekte wie «die wahrgenommene Unterstützung durch die Führungskraft, die Kommunikation der Veränderung, Möglichkeiten der Partizipation» (Szebel, 2015, S. 108) fördern die Veränderungsbereitschaft von Mitarbeitenden in Bezug auf ein spezifisches Veränderungs-vorhaben. Diese Faktoren zur Gestaltung von Change-Projekten sind nicht neu. Ihre besondere Wirkung jedoch auf die spezifische Bereitschaft jedes Einzelnen erklärt, warum Change Agents trotz einer agilen Belegschaft auf Widerstand stoßen – auch als resistance to change bekannt (Erwin & Garman, 2010).

«Die persönliche Entscheidung für oder gegen den Wandel hängt vom Veränderungskontext ab.»

Grundsätzlich wird empfohlen Widerstand als eine Form von Auseinandersetzung der Beteiligten zu verstehen, die hilfreich ist, um die Qualität organisationaler Entscheidungsprozesse im Change zu verbessern. Bedenken der Mitarbeitenden sprechen daher eher für eine aktive Auseinandersetzung und für ein gewisses Involvement, welches positiv zu sehen ist, im Gegensatz zu einer eher gleichgültigen Haltung gegenüber der Veränderung (Ford et al., 2008, Bateh et al., 2013). Damit ist die Wahrnehmung bzw. Reaktion der Organisation auf die Bedenken der Beteiligten entscheidend für den Erfolg eines Veränderungsprojektes. Erwin & Garman (2010) fassen zusammen, welche Faktoren in Veränderungsprozessen den Widerstand von Mitarbeitenden beeinflussen können: die Qualität von Kommunikation und Information über das Veränderungsvorhaben, das Verständnis der Beteiligten bezüglich der konkreten Erwartungen an sie, die persönliche Einschätzung, wie der Prozess ihr Arbeitsumfeld verändern wird und wie sie dabei tatsächlich unterstützt werden. Des Weiteren sollte die konsistente Kommunikation der Führungskräfte eine Einheit zwischen Inhalt und Verhalten darstellen (Vorbildwirkung des Managements). Ziel sollte es sein, Vertrauen bei den Beteiligten zu schaffen und Offenheit gegenüber der Veränderung zu erzeugen.

Widerstand kann jedoch nur zu Beginn eines Change-Programmes antizipiert werden und somit in die Planung integriert werden. Anders ist es bei der sogenannten readiness for change, dem proaktiven Verhalten gegenüber dem Change (Oreg et al., 2011). Readiness for change steht für eine umfassende Einstellung oder Haltung, die Veränderung kognitiv und emotional zu akzeptieren und daher den Status quo aktiv verlassen zu wollen. Wichtig ist hier die kognitive und emotionale Ebene im Change zu adressieren, z. B. über die Kommunikation oder Führung. Eine positive Veränderungsbereitschaft kann vor allem im Vorfeld des Change-Prozesses beeinflusst werden. Die zentralen Stellschrauben dafür lauten (Holt et al., 2007):

• Unter welchen Rahmenbedingungen findet der Change statt? – Interner Kontext
• Was genau soll geändert werden? – Changespezifischer Inhalt
• Wie sieht der Veränderungsprozess genau aus? – Transparenz über den Prozess

Für die spezifische Veränderungsbereitschaft ist es wichtig, dass die beteiligten Personen glauben, dass die Veränderung notwendig ist, dass sowohl sie als auch die Organisation über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, den Wandel zu bewältigen (Selbstwirksamkeit), und dass die Veränderung einen positiven Nutzen für sie hat (Rafferty et al., 2013). Die Handlungsempfehlungen, die sich in Bezug auf den Umgang bzw. die Gestaltung von resistance to change und readiness for change ableiten lassen, finden sich in Abbildung 4.

Fazit

Um Veränderungskompetenz zu fördern, muss man sowohl konkrete Fähigkeiten und Bereitschaften sowie Persönlichkeitsdispositionen des Mitarbeitenden in den Blick nehmen. In der  Personalauswahl und -entwicklung ist es hilfreich folgendes zu unterscheiden: stabile, messbare Merkmale, die der Personalauswahl dienen können und weniger stabile Merkmale, die beeinflussbar sind und im konkreten Change adressiert werden können. Für veränderungsresistente Persönlichkeiten wird es in Zukunft immer schwerer werden, in den sich stetig im Wandel befindenden Unternehmen Akzeptanz zu finden. Hier werden dringend Konzepte benötigt, eine Persönlichkeitsentwicklung zumindest mittelfristig zu ermöglichen. Die Entscheidungshoheit liegt letztlich bei den Unternehmen: Der Wert bzw. Beitrag eines Menschen in der Organisation hängt vielleicht (?) nicht einzig und allein von dem Merkmal der Veränderungskompetenz ab.

 

Prof. Dr.-Ing. Ina Kohl
Business & Law School Berlin, Professorin für Wirtschaftspsychologie

 

Literatur

• Bateh, J., Castaneda, M. E. & Farah, J. E. (2013). Employee Resistance to Organizational Change. International Journal of Management & Information Systems (IJMIS), 17(2), 113-116.
• Costa Jr, P. T. & McCrae, R. R. (2008). The Revised NEO Personality Inventory (NEO-PI-R). Sage Publications, Inc.
• Dold, S. & Röbcke-Gronau, C. (2018). Aufwärts, abwärts, seitwärts. Worum es bei erfolgreicher Kommunikation im Wandel heute gehen muss. OrganisationsEntwicklung, 37(4), 29-68.
• Erwin, D.G. & Garman, A.N. (2010). Resistance to organizational change: Linking research and practice. Leadership & Organization Development Journal, 31(1), 39-56.
• Ford, J. D., Ford, L. W. & D’Amelio, A. (2008). Resistance to change: The rest of the story. Academy of management Review, 33(2), 362-377.
• Hofert, S. (2018). Das agile Mindset. Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten. Springer Gabler.
• Holt, D. T., Armenakis, A. A., Feild, H. S. & Harris, S. G. (2007). Readiness for Organizational Change: The Systematic Development of a Scale. The Journal of Applied Behavioral Science, 43(2), 232-255.
• Oreg, S., Vakola, M. & Armenakis, A. (2011). Change recipients’ reactions to organizational change: A 60-year review of quantitative studies. The Journal of applied behavioral science, 47(4), 461-524.
• Rafferty, A. E., Jimmieson, N.L. & Armenakis, A. A. (2013). Change Readiness: A multilevel Re-view. Journal of Management, 39(1), 110-135.
• Szebel, A. (2015). Veränderungskompetenz von Mitarbeitern. Eine empirische Untersuchung zur differentiellen Konstrukterschließung der individuellen Veränderungskompetenz von Mitarbeitern unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses dispositionaler Persönlichkeitsfaktoren. Dissertation, Universität zu Köln.
• Vakola, M., Armenakis, A. & Oreg, S. (2013). Reactions to organizational change from an individual differences perspective: A review of empirical research. In S. Oreg, A. M. & R. By (Hrsg.): The Psychology of Organizational Change: Viewing Change from the Employee’s Perspective (pp. 95-122). Cambridge University Press.


Spielwiese und Impulsgeber zugleich

Wie Corporate Influencer die Organisation verändern

Mit praxisnahen Ergebnissen und Erkenntnissen sowie persönlichen Äußerungen der verschiedenen Netzwerkmitglieder, vermittelt diese explorative Fallstudie einen realistischen Eindruck davon, wie Botschafternetzwerke in ihren Grundzügen funktionieren und wie auch in anderen Unternehmen begünstigende Rahmenbedingungen für ein Entstehen hergestellt werden können.

Botschafternetzwerke sind ein recht neues Phänomen in der Organisationsentwicklung und setzen sich aus Mitarbeitenden der verschiedensten Funktionsbereiche und Hierarchieebenen eines Unternehmens zusammen. Diese sogenannten Corporate Influencer präsentieren geteilte Werte und fungieren auf digitalen Plattformen und in physischen Begegnungen als Botschafter*innen eines Unternehmens in der Öffentlichkeit. Unternehmensbotschafter*innen zeichnen sich dadurch aus, dass ihr Engagement zum Teilen von Wissen und zur Verbreitung von unternehmensbezogenem Content nicht Teil ihrer Jobbeschreibung ist, sondern auf Freiwilligkeit und einer intensiven emotionalen Bindung zum Unternehmen beruht. Sie folgen dabei keinem Auftrag, sondern wählen ihre Themenschwerpunkte, Formate und Kommunikationskanäle selbstbestimmt aus. Dies fördert die Autonomie, Verbundenheit und Kompetenz der einzelnen Botschafter*innen und verschafft dem Netzwerk zahlreiche Möglichkeiten zur Einflussnahme und Organisationsentwicklung. Denn für erfolgreiche Change-Prozesse ist die Beteiligung und Kooperation vielfältiger Organisationsmitglieder elementar.

In unserer Fallstudie haben wir die beiden Botschafternetzwerke der Deutschen Telekom AG (Telekom Botschafter) und der Daimler AG (influBenzer, Graswurzelinitiative) in Zusammenarbeit mit zwölf Teams von Studierenden und mithilfe semistrukturierter Interviews analysiert. Ziel war es herauszufinden, wie die Botschafternetzwerke ticken, was sie verbindet und unterscheidet und wie die Botschafternetzwerke auf die Studierenden, als nächste Generation von Manager*innen und Organisationsentwickler*innen, wirken. Der Konstruktion eines Fremdbilds durch neutrale Außenstehende folgte eine intensive interne Beschäftigung der Netzwerke mit ihrem Selbstbild und der Frage nach der Identität (Wer sind wir? Wo stehen wir? Was wollen wir verändern und wie können wir das erreichen?).

Besonderheiten von Botschafternetzwerken

Aus Sicht der Botschafternetzwerke ist jeder Mitarbeitende eines Unternehmens gleichzeitig ein möglicher Repräsentant der Organisation und sendet (mehr oder weniger intendiert und koordiniert) Botschaften nach innen (Kolleg*innen) und außen (Kund*innen, Gesellschaft). Die Netzwerke stellen einen hierarchiearmen und informellen Verbund dar. Die Mitglieder schätzen die hohe Diversität des Netzwerks in Bezug auf Standort, Funktionsbereich, Geschlecht und Alter der Mitglieder («Je diverser es ist, desto intensiver unsere Diskussionen. Und umso intensiver wird das, was wir zusammen tun», Mitglied der influBenzer). Die Mitglieder zeichnen sich durch eine ausgeprägte Offenheit und Veränderungsbereitschaft aus und bringen ihre persönlichen Interessen und Stärken in die Netzwerkarbeit ein («In dem Netzwerk sind Leute, die gerne mit Menschen agieren, die gerne gemeinsam über Dinge sprechen und die auch gerne was verbessern wollen, im Unternehmen und für ihre eigene Situation», Mitglied der influBenzer).

Für die Unternehmensbotschafter*innen ist die Authentizität und kreative Freiheit des Netzwerks von zentraler Bedeutung («Deswegen finde ich es auch so schön, weil das Netzwerk aus engagierten Personen heraus entstanden ist und nicht aus der Firma heraus. Sonst hätte das nicht diesen Charme», Mitglied der influBenzer). Die Mitglieder nehmen dadurch eine gemeinschaftliche Veränderungskraft wahr («Man hat das Gefühl, man ist Teil von etwas Größerem und kann mitgestalten», Mitglied der Telekom Botschafter).

Motivation der Mitglieder

Vielen Mitgliedern ist es persönlich sehr wichtig, nach innen wie außen zu vermitteln, wofür ihr Arbeitgeber steht. Das Engagement der Botschafter*innen ist stark von ihrer Leidenschaft und Verbundenheit zum Unternehmen geprägt (Stichwort #Werkstolz und #influBenzer). Zudem fühlen sie sich durch die Offenheit und Vielfalt des Netzwerks angezogen. Jeder Mitarbeitende ist willkommen, vorgeschriebene Beitrittskriterien gibt es nicht. Vielmehr definiert diese jeder für sich selbst: Was macht mich aus? Für welche Themen stehe ich? Wo (mit) kann ich helfen? «Wir wollen, dass Menschen sich wohl fühlen, dass sie sich gebraucht fühlen, eine Stimme haben, die sie einbringen können, ihre Kompetenzen einbringen können, Feedback bekommen (…). Und das treiben wir mit voran» (Mitglied der Telekom  Botschafter). Als Botschafter*innen organisieren sich diejenigen in Unternehmen, die Lust haben, einen Schritt weiter zu gehen und nicht in ihrer formalen Rolle zu verharren. «Für mich ist das einfach eine Gruppe an Menschen, die ein ähnliches Mindset haben, die ein Interesse daran haben, Dinge zu bewegen; die sich auch den Mund nicht verbieten lassen, denen es nicht darum geht, irgendetwas Schönzureden oder als Werbebotschafter oder so etwas aufzutreten, sondern die einfach ihre Meinung zu dem Thema haben – zu dem was bei uns passiert. Die auch dazu stehen und die keine Angst haben das zu äußern», Mitglied der influBenzer. Selbstbestimmung im Arbeitskontext, das Einbringen der eigenen Kompetenzen, spielt eine wichtige Rolle für die Motivation: «Dieses Gefühl, dass man selbst mitgestalten und nicht nur gesteuert wird als Arbeitskraft (…). Das ist eine Sache, die mich immer wieder bestätigt», (Mitglied der Telekom Botschafter). In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf kritische Aspekte innerhalb des Unternehmens aufmerksam gemacht. Neben der Organisationsentwicklung ist die persönliche Weiterentwicklung ein wichtiger motivierender Faktor für die Netzwerkmitglieder: «Je sichtbarer du wirst, umso besser werden deine Aufstiegschancen. Und so ein Netzwerk bietet riesengroße Chancen, sichtbarer zu werden», Mitglied der influBenzer.

Statt des Veränderungsanspruchs steht bei den Telekom Botschafter*innen vielmehr die Stärkung der Unternehmenskultur und die Stimmung unter den Mitarbeitenden ganz oben auf der Agenda.

Herausforderungen von Botschafternetzwerken

Botschafternetzwerke sind dann besonders authentisch und wirksam, wenn sie die Vielfalt des Unternehmens repräsentieren und nicht nur lokal verankert sind. Ausgeprägtes «Silo-Denken und -Handeln» einzelner Funktionsbereiche und Standorte erschweren dies jedoch. Ebenso ist es für viele Netzwerke herausfordernd, die «echten Schaffer» (Mitglied der influBenzer), also die Mitarbeitenden aus der Produktion oder aus den Lagern, abzuholen und zu integrieren. In vielen Initiativen dominieren zahlenmäßig «white collar» Mitarbeitende aus der Verwaltung und dem Management. Auch eine Internationalisierung des Netzwerks in global agierenden Konzernen stellt eine Herausforderung für die Selbstorganisation dar, ist aber eine große Chance für Vielfalt. Daneben haben die Netzwerke bisweilen mit Klischees zu kämpfen. Denn einige Aktivitäten können durchaus polarisierend wirken. Sowohl in der internen als auch in der externen Wahrnehmung stoßen bspw. die Telekom Botschafter*innen auf ungläubiges Unverständnis, wobei es als ungewöhnlich oder sogar exotisch betrachtet wird, wenn sich Mitarbeitende eines Unternehmens so deutlich und sichtbar mit ihrem Arbeitgeber, der Marke und der Gemeinschaft der Kolleg*innen identifizieren. «Für viele sind wir einfach laufende Werbefiguren» (Mitglied der Telekom Botschafter). In Anbetracht der Unternehmensgröße gibt es auch innerhalb des Konzerns eine sehr breite Diversität von Sichtweisen und Perspektiven und so finden sich auch innerhalb des Unternehmens Bereiche, Umfelder und Kolleg*innen, die mit der Initiative nichts anfangen können, der Community generell ablehnend gegenüberstehen oder einzelne Aktionen kritisch betrachten. Das wird von den Botschafter*innen akzeptiert und der konstruktive Austausch mit kritischen Stimmen ist für die Weiterentwicklung oft hilfreich.

«Authentizität und kreative Freiheit des Netzwerks sind von zentraler Bedeutung.»

Dass sich die Botschafter*innen durchaus kritisch mit Problemen im Unternehmen befassen und Impulse setzen («Wir beschäftigen uns durchaus auch mit Dingen, die aus unserer Sicht nicht so rund laufen, an denen wir noch arbeiten möchten – auch mit Hilfe unserer Reichweite», Mitglied der Telekom Botschafter), wird mitunter weniger wahrgenommen. Bei diesen Aktivitäten betreten die Botschafter*innen häufig Neuland und bewegen sich in den sozialen Medien teilweise in einer rechtlichen Grauzone («Muss ich das als Werbung kennzeichnen, wenn ich etwas über die Deutsche Telekom poste?», Mitglied der Telekom Botschafter). Die Netzwerkaktivität auf einem hohen Niveau zu halten und immer wieder neue Impuls nach innen und außen zu senden, bedeutet einen erheblichen persönlichen Aufwand.

Dieser Herausforderung begegnen die Mitglieder, indem der «Staffelstab» (Mitglieder der Telekom Botschafter) immer wieder weitergegeben wird und bei den verschiedenen Netzwerkaktionen wechselnde Personen in den Lead gehen. Die interviewten Botschafter*innen empfinden eine Trennung zwischen Arbeit und Privatleben mehr oder weniger herausfordernd. Jedes Mitglied entscheidet selbst, wie viel Zeit er oder sie der Netzwerkarbeit widmet (es werden keine «Aufträge» verteilt). Die meisten Botschafter*innen engagieren sich neben ihrer beruflichen Haupttätigkeit, das heißt sie suchen sich aktiv Freiraum oder verlagern ihre Botschafter-Aktivitäten in die Freizeit. Eine Vermischung von beruflichen Themen in das persönliche Umfeld und umgekehrt findet durch einen steigenden Anteil von selbstgesteuertem und eigenverantwortlichen Arbeiten in der aktuellen Situation (Flexibilität von Arbeitsorten, Homeoffice) ohnehin statt. Jedoch wird auch angemerkt, dass es «durch den Arbeitsalltag im Home-Office schwieriger geworden ist, sich in losen Initiativen, die nicht dem Arbeitsergebnis zugeteilt werden, zu engagieren», (Mitglied der influBenzer). Bei der Telekom wird in manchen Konzernbereichen ein 80/20-Modell angeboten, bei dem bis zu 20 Prozent der Arbeitszeit für Fachfremdes (z. B. für die Telekom Botschafter-Aktivitäten und Aktionen) genutzt werden kann.

Steckbriefe

Name: Telefon Botschafter (https://telekom.com/botschafter)
Entstehung: Die Community der Telekom Botschafter wurde 2015 als Grassroot-Bewegung (#Werkstolz) durch die Einzelinitiative eines Kollegen initiiert, der aus eigener Motivation heraus im Social Intranet einen Aufruf startete. Aufgrund dieses Aufrufs fanden sich die ersten Interessierten, aus deren Kreis sich das heutige Kernteam geformt hat. Aus diesem Kern entstand ein selbstorganisiertes Menschen-Netzwerk innerhalb des Konzerns, das sich selbst die Mission gegeben hat, dem Unternehmen ein persönliches Gesicht zu geben und Kund:innen und Kolleg:innen mit magenta Werkstolz zu begeistern. Aktuell besteht die Community aus ca. 200 aktiven Botschafter:innen aus allen möglichen Konzernbereichen und vielen Regionen der Erde.
Mission: «Wir als TELEKOM BOTSCHAFTER begeistern mit magenta Werkstolz unsere Kunden und Kollegen. Wir helfen, motivieren und geben der Telekom ein persönliches Gesicht.» ➤ Neugier, Leidenschaft und Begeisterung für die eigene Arbeit und den Arbeitgeber in sozialen Medien, im privaten Umfeld sowie im Arbeitsumfeld teilen. + «Ich bin die Telekom, auf mich ist Verlass»
Struktur: Ca. 200 aktive Botschafter*innen + Kernteam mit 20 Botschafter*innen, die besondere organisatorische Rollen übernommen haben
Organisation: TELEKOM BOTSCHAFTER-Seite im Social Intranet You and Me als Zentraler «Treffpunkt»; wöchentliche Meetings (Webex-Calls) für alle Telekom Botschafter*innen, für das Kernteam und für Sonderprojekte; zwei bis drei persönliche Treffen pro Jahr

Name: InfluBenzer
Entstehung: Die Idee zur Gründung eines Botschafternetzwerks ist 2019 im Rahmen einer Reverse Mentoring Session entstanden. Der Begriff #influBenzer wurde über einen Namenswettbewerb im Social Intranet gefunden und begleitet seitdem die Initiative.
Mission: «InfluBenzer begeistern Menschen im Unternehmen und außerhalb. Wir sind stolz auf unsere Herkunft (#weilwirMercedessind) und unsere Zukunftsfähigkeit. In der laufenden Transformation des Unternehmens unterstützen wir aktiv mit unserer ganzen Kraft und Erfahrung nach innen als Vorbilder die Veränderung. Mit dieser Leidenschaft geben die influBenzer neben den großartigen Produkten dem Unternehmen viele menschliche Gesichter.»
Struktur: Ca. 150 Follower im Social Intranet, Kernteam um Schwerpunkte und Themen abzustimmen
Organisation: Aktive Community im Social Intranet als zentraler Treffpunkt, unregelmäßige Calls Themenbezogen, Treffen auf internen Veranstaltungen wie z. B. dem Digital Life Day 2019

Wirkung von Botschafternetzwerken

Botschafternetzwerke schaffen innerhalb der Organisation eine emotionale Verbundenheit («Mittlerweile habe ich keine Kollegen mehr in dem Botschafterkreis. Ich habe Freunde», Mitglied der Telekom Botschafter) und beflügeln Sichtbarkeit und Integration: «Durch das Netzwerk verändert sich die Sichtweise auf das Unternehmen – dass dahinter Menschen stehen. Und dass Menschen wahrgenommen werden, die vorher gar nicht aufgetaucht sind», (Mitglied der influBenzer). Die Botschafter*innen verstehen sich selbst als gemeinsam agierende Organisationsentwickler*innen, die «mit guten Erfahrungswerten vorausgehen und eine Leuchtturmwirkung innerhalb des Konzerns einnehmen (…)» (Mitglied der influBenzer). Die Mitglieder engagieren sich überwiegend in ihrer Freizeit und organisieren sich über Unternehmensbereiche und Hierarchiegrenzen hinweg. Dadurch tragen sie implizit zur Enthierarchisierung in Unternehmen bei. Denn das Netzwerk vermittelt ein Gefühl der Verbundenheit und Gleichheit, das die Mitarbeiternden dazu motiviert, sich innerhalb der Organisation persönlich zu entfalten und einzubringen. Die Community-Mitglieder tauschen sich nicht nur in ihren Funktionen und Rollen aus, sondern verfolgen als Menschen ein gemeinsames Ziel. Botschafter*innen wirken insbesondere auch nach außen und erschaffen dabei neue und überraschende Perspektiven auf das Unternehmen. So resümiert ein Studierender der Europa-Universität Flensburg (EUF) nach den Interviews: «Großkonzerne wirken auf junge Hochschulabsolventen oft sehr alt und eingestaubt. Die dynamischen und motivierten Botschafter polieren das Image auf und lassen den Konzern moderner wirken.» Ein anderer stellt fest: «Ich finde es sehr beeindruckend, wie schnell die Motivation von wenigen Personen ‘anstecken’ kann.» Die unerwarteten Erkenntnisse zeigen der nächsten Generation von Manager*innen bislang ungeahnte Möglichkeiten auf: «Ich hatte zunächst erwartet, dass es sich um Menschen handelt, die ihrem Leben durch die starke Identifikation mit ihrem Arbeitgeber und deren öffentlicher Repräsentation mehr Sinn geben wollen. Allerdings hat sich die Annahme in beiden Unternehmen als komplett falsch erwiesen. Ich finde das Thema dadurch sogar für mich interessant, um auch selbst daran mitzuwirken, große Konzerne agil zu halten.» Auf die Studierenden wirkten die Netzwerke durchaus unterschiedlich. Während die Telekom Botschafter verstärkt nach außen wirken möchten und ihre Sichtbarkeit fokussieren, zielen die influBenzer auf interne Veränderungsprozesse ab. In den Interviews und in der Ergebnisdiskussion mit dem Netzwerk vermittelten die influBenzer zum einen, «dass sie stolz sind auf das, was sie tun, zum anderen wirkten sie aber auch sehr viel kritischer und vorsichtiger als ihr magenta-farbenes Pendant» (Studentin der EUF). Insgesamt ist die transformative Wirkung und Reichweite von Botschafternetzwerken nicht zu unterschätzen. Insbesondere die Telekom Botschafter sind weit über die Unternehmensgrenzen bekannt und inspirieren andere Unternehmen, ähnliche Initiativen zu starten. Die wachsende Anzahl an Botschafternetzwerken wird deren Bedeutsamkeit für die Unternehmenswelt zukünftig noch weiter steigern.

Begünstigende Faktoren für die Unternehmenspraxis

Es gibt kein Kochrezept für den Aufbau und die Entwicklung eines Botschafternetzwerks, da jedes Unternehmen seine individuellen Subkulturen mit sich bringt. Rückblickend empfehlen wir, nicht mit einem Meilensteinplan zu starten, sondern Schritt für Schritt vorzugehen: Zunächst eine Keimzelle («die Vortänzer») für das Netzwerk ausmachen und diese dann ansprechen, begeistern und letztlich für die Idee gewinnen. Als ideale Plattform – und später als Sprachrohr für das Netzwerk – eignet sich das Social Intranet des Unternehmens. Es geht darum, Menschen zusammenzuführen und ungezwungen in den Austausch miteinander zu bringen. Da Vielfalt die Grundlage für ein lebendiges und innovatives Netzwerk darstellt, sollte darauf beim Netzwerkaufbau besonderer Wert gelegt werden. Mit der richtigen Botschaft («Es ist völlig egal wo ihr herkommt, lasst uns darüber reden, wo wir gemeinsam hinwollen») ergibt sich quasi von allein ein buntes Netzwerk – wie bei den Telekom Botschaftern. Auch bei den influBenzern wird Diversität als Erfolgsfaktor gesehen. Unterrepräsentierte Bereiche sollten stärker in das Netzwerk integriert werden, indem ihnen Möglichkeiten angeboten werden, sich einzubringen. Dabei geht es nicht um «Wachstum um jeden Preis», sondern darum, Mitstreiter zu finden, die Verantwortung und konkrete Aufgaben übernehmen. In den Interviews zeigte sich mitunter, dass eine strenge Unternehmenskultur, die auf Richtlinien beruht, hemmend auf die Botschafteraktivitäten wirkt. Wenn Mitarbeitende Angst davor haben, etwas falsch zu machen, scheuen sie vor internen und insbesondere externen Botschaften zurück.

Essentiell für die Wirksamkeit und den Fortbestand eines Botschafternetzwerks ist die Duldung durch die Unternehmensführung und die Unternehmenskommunikation. Diese Funktionsbereiche fürchten mitunter einen «Wildwuchs» des Netzwerks und damit Kontrollverlust. Botschafternetzwerke streben hingegen nach Unabhängigkeit und möchten nicht als Marketinginstrument fremdgesteuert werden. Hier hilft gegenseitiges Vertrauen, regelmäßiger Austausch mit der Unternehmenskommunikation zu aktuellen Themen des Unternehmens und der Branche sowie wiederkehrende Reflexionsphasen. In diesen beleuchten die Botschafter*innen gemeinsam, wo das Netzwerk steht und welche Positionen es bezieht angesichts dynamischer wirtschaftlicher und betrieblicher Veränderungen (Mitglied der Telekom Botschafter: «Nach jedem ‘Big Bang’ sortieren wir uns neu»).

Fazit

Netzwerke wie die Telekom Botschafter erfahren aktuell viel Aufmerksamkeit und gelten als Vorbilder für andere Gruppen von Corporate Influencern. Als Graswurzelbewegungen stellen Botschafternetzwerke eine bunte Spielwiese für Organisationen dar und haben das Potenzial, Unternehmen aus der Mitte heraus zu verändern (vgl. auch Kluge & Kluge, 2020). Die Netzwerke entwickeln sich dynamisch weiter, immer wieder entstehen Sub-Netzwerke, wie etwa die Corporate Rebels oder der Sustainability Club bei Daimler (der Oberbegriff influBenzer steht hier für alle Initiativen und Bewegungen zusammen). Die Mitglieder der betrachteten Netzwerke werden als authentisch wahrgenommen, da es sich typischerweise um Mitarbeitende ohne offiziellen Auftrag und professionellen Social-Media-Hintergrund handelt. Die Netzwerke widmen sich in ihrer Arbeit nicht nur personalbezogenen Fragestellungen. Die influBenzer zielen bspw. auf einen vermehrten internen Diskurs ab – über komplexe Themen wie Zukunftsgestaltung – und Markenidentität und möchten Transformation und Strukturwandel in Unternehmen aktiv mitgestalten. Ihre Aktivitäten sind daher stark nach innen gerichtet.

In Botschafternetzwerken steckt hohes Innovationspotenzial für Unternehmen, denn hier versammeln sich sehr motivierte Mitarbeitende aus sämtlichen Unternehmens- und Funktionsbereichen, die sich durch große Offenheit und eine starke emotionale Bindung zu ihrem Arbeitgeber auszeichnen. Sie fühlen sich nicht nur dem Image, sondern auch der Weiterentwicklung des Unternehmens verpflichtet und bringen selbstinitiiert und -organisiert Impulse für die Organisationsentwicklung hervor. Anders als formal verankerte Bestandteile der betrieblichen Aufbau- und Ablauforganisation fokussieren Botschafternetzwerke in Form einer informellen Community und damit als eine neue dritte und wichtige Säule des Organisationsgefüges, nicht eine mandatierte Vertretung von Beschäftigten des Unternehmens oder von Interessensgruppen, die für festgelegte Themen wie die Arbeitsbedingungen innerhalb des Unternehmens stehen, sondern die Wirkung des Unternehmens nach innen (Kolleg*innen helfen und motivieren, Employee Experience & Engagement) sowie nach außen (Kund*innen helfen und gewinnen, Customer Experience) und dem Unternehmen ein persönliches Gesicht geben (Employer Branding). Wir glauben, dass neben der Aufbauorganisation (Linienstruktur) und der Ablauforganisation (Projekte) die selbstgesteuert entstehenden Netzwerke (Communities) – als dritte Säule der Zusammenarbeit – einen wesentlichen Anteil zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Eine Stärkung und Anerkennung von vernetztem Arbeiten fördern Lösungen im VUCA-Umfeld, in dem sich aktuell viele organisationale Aufgaben bewegen. Die transformative Wirkung von Botschafternetzwerken beschränkt sich nicht auf die Kultur der Zusammenarbeit, sondern berührt auch die Führungskultur. Das Konzept «Servant Leadership» kann dabei von einer wörtlich dienenden zu einer feiernden Führungshaltung überleiten. Führungskräfte werden zu Fans ihrer Mitarbeitenden und geben ihnen Kraft zur Selbstentfaltung – innerhalb wie außerhalb der Unternehmensgrenzen.

«Botschafternetzwerke tragen implizit zur Enthierarchisierung in Unternehmen bei.»

Geben Sie ihren Mitarbeiter*innen den Raum zu wachsen, dann entwickeln sich eigenständig handelnde und wirkungsvolle Botschafternetzwerke. Auch wenn Sie hilfreiche interne Fürsprecher und Stakeholder finden; das Gefühl und die Freiheit der Graswurzel-Bewegung und damit der «kleinen Revolution » muss spürbar bleiben, sonst verliert die Initiative an Attraktivität und Charme. Berichten Sie über Ihre ersten und nächsten Schritte und über Ihre Learnings so frühzeitig wie möglich – sowohl innerhalb des Unternehmens als auch öffentlich und transparent; sowohl über die digitalen Medien, als auch im Rahmen von Konferenzen, Events und Afterwork-Veranstaltungen. Darüber knüpfen Sie Kontakte zu anderen Unternehmen und Branchen und können Erfahrungen austauschen. Konkurrenz belebt zwar das Geschäft und treibt Innovation, Kooperation lässt es hingegen gemeinsam nachhaltig wachsen.

Dr. Tanja Reimer
Direktorin am Jackstädt-Zentrum Flensburg der Europa-Universität Flensburg, Forschung & Lehre zu Organisationsentwicklung und Innovation

Markus Heidenreich
People Lead & Corporate Ambassador, Deutsche Telekom IT GmbH (Deutsche Telekom AG)

Oliver Herbert
Manager Projekte Batterien, Mercedes-Benz AG

Literatur

• Ebner, W. (2020). Telekom Botschafter: Die Corporate Influencer-Initiative stellt sich vor. https://zoe.ch/telekom-botschafter
• Herbert, O. (2019). Geschichtenerzähler suchen einen Namen – die #InfluBenzer Initiative bei Daimler. https://zoe.ch/influbenzer-daimler
• Kluge, S. & Kluge, A. (2020). Graswurzelinitiativen in Unternehmen – Ohne Auftrag mit Erfolg! Vahlen.
• Sturmer, M. (2020). Corporate Influencer – Mitarbeiter als Markenbotschafter. Springer Gabler.


Wir haben keinen Spielraum mehr für Fehler

Im Gespräch mit Thomas Evans (CNN)

Journalismus ist in den letzten Jahren zunehmend unter Druck geraten und kämpft in Zeiten von sozialen Medien und Fakten-Check um seine Bedeutung. Ich habe mit dem erfahrenen Journalisten und Leiter des CNN-Büros London, Thomas Evans, über Mut im kleinen Handeln und überzogenen Übermut in der Selbstdarstellung gesprochen.

ZOE: Würden Sie sich selbst als mutig bezeichnen?

Evans: Ich wünschte ich wäre es, aber nein. Denke ich, dass ich manchmal mutig gehandelt habe? Ja.

ZOE: Welche Bedeutung hatte Mut bisher für Sie als Journalist?

Evans: Ein großer Teil meiner Karriere fand in Konfliktländern statt, in feindlichen und gefährlichen Situationen oder nach Naturkatastrophen. Ich habe beispielsweise viele Jahre im Irak verbracht, in Afghanistan, in Syrien, in Libyen, Ägypten während des Arabischen Frühlings, Hurricane Katrina, 9/11 … Ich denke, in diesen Kontexten zu arbeiten erfordert durchaus Mut. Ich verstehe Mut als Angstmanagement. Mutig zu handeln bedeutet nicht, ohne Angst zu handeln, sondern seine Angst zu verstehen und in der Lage zu sein, sie zu kontrollieren. In einer feindlichen Umgebung ist die Angst dein bester Freund, sie ist ein Sicherheitsmechanismus, sie hält dich am Leben. Es geht darum, seine Angst zu kontrollieren und sie zu seinem Vorteil zu nutzen, anstatt von ihr beherrscht und gelähmt zu werden.

ZOE: Müssen Journalist*innen heutzutage mutig sein?

Evans: Ich denke, wirklichen Mut im Journalismus braucht es in den Grauzonen, also in den Situationen, in denen es nicht zwangsläufig um Leben und Tod geht. Stattdessen ist mutiges Handeln gefragt, wenn ein persönliches berufliches Risiko auf dem Spiel steht. In einem Nachrichten-Unternehmen wie CNN gibt es keinen Spielraum für Fehler mehr. Wenn wir bei CNN in einer Welt der Fake News einen Fehler machen, wird das zu einer Story und wir werden verleumdet. Wir können nicht einfach sagen: Huch, da lagen wir daneben. Niemand würde uns das glauben. Es erfordert also manchmal eine Menge Mut, als Journalist heute einfach nur seinen Job zu machen. Die Auswirkungen sind in dieser Umgebung derart gravierend geworden.

ZOE: War das schon immer so?

Evans: Hätten Sie mir dieselben Fragen vor zehn Jahren gestellt, hätten wir uns viel mehr auf den Mut in der Kriegsberichterstattung konzentriert, ein Wort, was ich übrigens nicht mag. Aber vor einigen Jahren waren das noch die offensichtlichen Situationen, in denen es Mut als Journalist bedurfte. Jetzt ist der wahre Mut unser Tagesgeschäft. Die Beschimpfungen, mit denen einige meiner weiblichen Kolleginnen online konfrontiert werden, machen mich sprachlos. Trotzdem lassen sie sich davon nicht entmutigen und leisten fantastische Arbeit. Ich denke, das erfordert echten Mut. Der Mut, den man in dieser Branche heute braucht, hat nichts mit Kriegsgebieten zu tun.

ZOE: Wie wirkt es sich aus, in einem so feindseligen, möglicherweise entmutigenden Umfeld zu arbeiten?

Evans: Ich habe das Gefühl, und ich denke, einige meiner Freund*innen und Kolleg*innen würden mir zustimmen, dass vor allem die letzten vier Jahre, in denen CNN und Journalist*innen im Allgemeinen als Feind des Volkes dargestellt wurden, sehr herausfordernd waren. Im Journalismus brennen viele Leute aus. Es ist wirklich ermüdend und anstrengend. Die meisten Jobs sind rund um die Uhr besetzt, was hart sein kann. Viele halten nicht sehr lange durch. Auch ich habe in meiner Karriere Zeiten erlebt, in denen mir der Sprit ausging.

Für mich persönlich haben die letzten vier Jahre aber dazu geführt, dass ich wiedererkannt habe, was mir an einem Beruf wichtig ist und warum ich ihn ausübe. Ich habe das Gefühl wiederentdeckt, warum das, was wir als Journalist*innen machen, einen Wert hat. Schauen Sie, über Konflikte zu berichten ist einfach, weil man ganz genau weiß, was man tut. Man weiß, warum man dort ist und worum es geht. Die Stories und Nachrichten fliegen dir quasi zu. Das Drama, die Gefahren, all das kommt direkt zu dir. All die Diskreditierungen von journalistischer Arbeit in den letzten Jahren haben dazu geführt, dass viele Journalist*innen aufgestanden sind und gesagt haben: Wir sind hier, um die Wahrheit zu sagen. Es mag Ihnen nicht gefallen, was wir sagen, aber das macht es nicht weniger wahr.

ZOE: Journalist*innen stehen ja nicht selten selber gerne im Rampenlicht. Vielleicht besteht eine Form des mutigen Handelns ja auch darin, sich mehr zurück zu nehmen?

Evans: In der Tat ist es vielleicht mutiger, jemand anderem zu erlauben, zu glänzen. Ich denke, zumindest für mich besteht ein großer Teil meiner Arbeit darin, die eigenen Interessen zurückzustellen. Manchmal kann man sich selbst mit Ruhm bedecken, aber das muss nicht das Beste für die Geschichte oder das Beste für das Unternehmen oder das Team und die Kolleg*innen sein. Deshalb ja: Die Fähigkeit und das Selbstbewusstsein, sich nicht immer nur um sich selbst zu drehen, ist als Journalist ebenfalls mutig. Und ehrlich gesagt ist das leichter gesagt als getan. Der Journalismus ist eine Branche, in der es viele Egos
gibt und viele Leute, die Schwierigkeiten damit hätten, wenn sich die Geschichte nicht um sie dreht. Das kontinuierliche Reflektieren der eigenen Person und Rolle ist daher zutiefst wichtig.

ZOE: Hat Mut auch eine dunkle Seite?

Evans: Ich habe hierüber bisher noch nicht wirklich nachgedacht, aber ich denke Sie haben da einen Punkt. Jemand wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump handelt ohne Angst vor den Konsequenzen seines Handelns. Das erfordert auch ein gewisses Maß an Mut. Das muss aber nicht gut sein. Mut ist per se nicht gut oder schlecht, sondern neutral. Mut kann eine sehr kraftvolle Art sein, sich zum Guten zu verhalten. Ohne ein Laienpsychologe sein zu wollen, aber wenn man Mut mit soziopathischen und narzisstischen Persönlichkeiten kombiniert, kann das sehr gefährlich werden. (lacht)

ZOE: Hat Sie der Mut jemals im Stich gelassen?

Evans: Ja. Ich denke, wahrscheinlich mehr in meinem Privatleben als im Beruf. Ich glaube nicht, dass ich ein besonders mutiges Kind war. Das hat mir aber geholfen, ein mutigerer Erwachsener zu sein, denn ich habe erkannt, dass man einige Misserfolge haben muss, um zu erkennen, dass man Risiken eingehen kann. Beruflich gab es definitiv Zeiten, in denen ich mir wünschte, ich hätte mich stärker für eine Geschichte eingesetzt, und ich habe nicht auf mein Bauchgefühl vertraut. Das waren Situationen, in denen ich nicht so mutig war, wie ich mir selber erhofft hatte. Das Lustige an Mut ist, je mehr er gefordert ist, desto einfacher ist es, danach zu handeln. Es sind die kleinen Dinge, die ich wirklich schwierig finde. Die, bei denen man sich nicht wirklich sicher ist.

Einmal hatte ich ein Interview mit einem Massenmörder geplant. Ich wusste, dass er dem Interview zugestimmt hatte, weil er es als eine Plattform für sich und seine Botschaften nutzen wollte. Es gab eine Menge Leute bei CNN, die meinten, wir sollten es deshalb nicht führen. Wir sollten ihm diese Bühne nicht geben. Meine Meinung war: wir kontrollieren das Interview und wir müssen es letztlich ja nicht ausstrahlen. Zweitens: Ich glaube, wir sind schlauer als er. Und nicht zuletzt bin ich persönlich bereit, dieses Risiko einzugehen. Aber es gab eine Menge Argumente dagegen. Am Ende habe ich nachgegeben und wir haben es nicht gemacht. Ich weiß noch, wie frustriert ich war, dass ich es nicht durchziehen konnte. Schließlich gab ich auf, weil es einfach zu hart war, weiter dagegen anzukämpfen.

ZOE: Kann man Mut lernen?

Evans: Sich zu sagen: «Ich werde jetzt mutiger sein», wird wahrscheinlich nicht funktionieren. Wenn du dich aber fragst: Warum hat mir diese Situation Angst gemacht, warum habe ich gezögert? Was war das tatsächliche Risiko? Hätte ich in dieser Situation tatsächlich mehr Risiko eingehen sollen? Wenn du dir diese und andere Fragen stellst, dann lernst du, wie du mit deiner Angst und deiner Risikotoleranz umgehen kannst. Das ist ein ganz natürlicher Lernprozess, wenn man ihn so gestaltet.

Im Grunde ist es wie bei allen menschlichen Verhaltensweisen: Wenn man etwas zum ersten Mal tut und es erfolgreich ist und funktioniert, wiederholt man es, und nach und nach fällt es einem immer leichter. Es fühlt sich gut an und dann will man es wieder fühlen und so baut sich nach und nach ein entsprechendes Verhalten auf – auch Mut.

ZOE: Gibt es jemanden, der für Sie Mut verkörpert?

Evans: Ich erinnere mich an einen meiner Kollegen im Irak, der ein absolut chaotisches Privatleben hatte. Er trank zu viel und hatte so einige Probleme. Beruflich jedoch, rein journalistisch gesehen, war er hoch professionell und engagiert. Er strotzte nur so vor Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten als Journalist. Er hat sich in die Geschichten, die er schrieb, reingedreht und wir alle haben uns gefragt, was er da eigentlich macht. Aber er hatte Vertrauen in sich und zog es durch. Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, bei dem er am Ende mit seinen Geschichten nicht Recht behalten hätte. Und das waren nicht irgendwelche
Geschichten, die er produzierte. Seine Arbeiten wurden z. B. auf Pressekonferenzen mit dem damaligen US-Präsidenten George Bush angesprochen und der Präsident musste dazu Stellung beziehen. Dabei hat man auch versucht, seine Arbeit zu widerlegen bzw. als falsch darzustellen. Aber das hat nicht funktioniert, denn er hat nicht nachgegeben. Und er hatte mit all seinen Beiträgen Recht. Obwohl der Rest seines Lebens eine absolute Katastrophe war, hatte er eine erstaunliche Arbeitsmoral. Wenn ich also an professionellen Mut als Journalist denke, dann war er definitiv ein Beispiel dafür.

Das Gespräch führte ZOE-Redakteur Oliver Haas.


Raus aus der Komfortzone

Sozialer Mut als Wettbewerbsvorteil

Wenn man mutige Organisationen möchte, sollte man zunächst bei sich selbst anfangen. Wie einem das gelingt und wie man Andere systematisch ermutigen kann, zeigt dieser Beitrag.

Mit der Forderung nach Ermutigung rennt man im Management offene Türen ein: Ja, Mut ist ganz wichtig, gerade in der heutigen Zeit! Von seinen Mitarbeitenden und Führungskräften würde man sich wirklich mehr Mut wünschen – und von der Politik auch. Generell müssten die Deutschen mehr Mut zu Veränderungen aufbringen, statt ängstlich am Status quo zu kleben…

Man könnte das auch nennen: Plappernd am Kern der Sache vorbeischwätzen. Paradoxerweise macht es gerade diese voreilige Begeisterung schwierig, mit Sorgfalt und Tiefe über Mut zu reden.

Perfekt ins Bild passt da, dass die begeisterte Zustimmung absolut folgenlos bleibt: Wenn ihnen Mut tatsächlich so wichtig ist, weshalb entwickeln die Verantwortlichen dann eigentlich keine Strategien und Programme, um den so schmerzlich vermissten Mut zu fördern? Warum erforschen sie nicht die Gründe der Mutlosigkeit? Warum ignorieren sie mögliche Zusammenhänge mit der bestehenden Unternehmens- und Führungskultur?

Welche Art von Mut wollen wir?

Wer sich von seinen Mitarbeitenden und Führungskräften mehr Mut wünscht, muss zunächst einmal klären, was genau er eigentlich erreichen will: Möchte er tatsächlich, dass seine Adressaten künftig Risiken eingehen, mit denen sie sich, andere und/oder die Firma in Gefahr bringen? Vermutlich nicht. Aber was ist dann das Ziel?

Mut ist zunächst einmal wertfrei. Einen Einbruch zu begehen oder seine ersten Karriereschritte als Trickbetrüger zu machen, erfordert auch Mut. Doch das sind schädliche, destruktive Formen von Mut, gegen andere Menschen und gegen die Gemeinschaft gerichtet. Solch anti-sozialer Mut ist weder anstrebenswert noch förderungswürdig. Was sowohl Teams und Organisationen als auch die Gesellschaft insgesamt brauchen, ist mehr pro-sozialer Mut, also einer, der zur eigenen Weiterentwicklung und/oder der Gemeinschaft beiträgt.

Das tut Mut vor allem in zwei Fällen: Zum einen dann, wenn sich Menschen persönlich entwickeln, indem sie ihre bisherigen Grenzen überwinden, sich an neue Herausforderungen wagen und dabei neue Erkenntnisse und Fähigkeiten erwerben; zum anderen dann, wenn sie ihren bestmöglichen Beitrag zu übergeordneten Zielen leisten. Also etwa, wenn sie beherzt und ohne Rücksicht auf soziale Erwünschtheit ihre Meinung vertreten, statt sich bedeckt zu halten oder anderen nach dem Mund zu reden. Es geht um Mut in Alltagssituationen, in denen keinerlei physische Gefahr droht. Eine schwierige Aufgabe zu übernehmen zum Beispiel oder sich gegen den Konsens im Team zu stellen, ist mit keiner körperlichen Bedrohung verbunden. Es birgt jedoch emotionale und soziale Risiken. Wer sich aus seiner Komfortzone wagt und sich an neuen Aufgaben versucht, riskiert zu scheitern. Wer ein heikles Thema anspricht, kann sich unbeliebt machen und verbale Prügel bekommen. Er läuft Gefahr, angegriffen zu werden, möglicherweise ganz alleine dazustehen, sich nicht durchsetzen zu können, im schlimmsten Fall ausgegrenzt zu werden. Wer unorthodoxe Vorschläge macht, kann abgebürstet oder ausgelacht werden.

Weiterentwicklung der Einzelnen und/oder der Gemeinschaft

Mut hat dann den größten Nutzen, wenn er die Einzelnen und/oder die Gemeinschaft weiterbringt – idealerweise beides. Beim Eingehen physischer Risiken ist das in aller Regel nicht der Fall: Unsere Herausforderungen liegen nur noch selten darin, Räuber oder wilde Tiere abzuwehren. Damit sich ein Team oder eine Firma weiterentwickelt, ist der Mut erforderlich, das warme Nest des allgemeinen Konsenses zu verlassen und Stellung zu beziehen. Irgendwer muss dafür das Wagnis eingehen, sich lächerlich oder unbeliebt zu machen. Dieser soziale Mut bringt uns auch als Individuen voran, hilft uns, unsere Potenziale auszuschöpfen und unsere Ängste zu reduzieren. Denn Angst wird man nicht los, indem man vor ihr wegläuft – Angst wird man los, indem man ihr entgegen geht.

Sozialer Mut hat das Potenzial zum strategischen Wettbewerbsvorteil – für den Einzelnen wie für Unternehmen und Non-Profit-Organisationen. Wer als Individuum mutig agiert, wird bei ansonsten gleichen Fähigkeiten mehr erreichen als jemand, der seiner Angst nachgibt, und sich damit auf die Dauer auch ein höheres Ansehen erwerben und bessere Karrierechancen haben.

Mutige Teams und mutige Unternehmen machen mehr aus ihren Ressourcen. Sie entfalten einen höheren «Wirkungsgrad», also letztlich eine höhere Produktivität. So erzielte ein Bankvertrieb einen wachsenden Pro-Kopf-Umsatz und -Ertrag, nachdem dort systematisch auf eine ermutigende Führungskultur hingearbeitet wurde. Erreicht wurde das hauptsächlich dadurch, dass die Mitarbeitenden ihr Geschäft mit «schwierigen», sprich besonders kritischen Kund*innen ausbauten, um die viele bisher einen Bogen gemacht hatten – genau wie die meisten Wettbewerber.

In ähnlicher Weise ist eine mutige Fertigung produktiver und erzeugt eine höhere Qualität, einfach weil Ineffizienzen wie Fehlerquellen früher beim Namen genannt und beseitigt werden. Das Band anzuhalten, wenn man entdeckt hat, dass ein Produkt fehlerhaft ist, erfordert die Übernahme von Verantwortung – risikoloser ist, die Augen zuzumachen und das fehlerhafte Teil vorbeilaufen zu lassen. Ebenso erfordert es Mut, einen fehleranfälligen Prozess zum Thema zu machen – oder seine Vorgesetzten darauf hinzuweisen, dass in ihrem Bereich nicht alles optimal läuft.

Selbst mutiger werden

Was kann man tun, um sein Team oder seine Firma in Richtung mehr Mut zu bewegen? Ein guter Anfang ist, mit sich selbst zu beginnen. Von heroischen Aufbrüchen ist dabei abzuraten: Der Ansatz «Ab morgen fürchte ich mich vor nichts und niemandem mehr» ist kaum durchzuhalten und kann zu Rückschlägen führen, von denen man sich nicht so leicht erholt. Erfolgversprechender ist, jeden Tag ein kleines bisschen mutiger zu werden. Das gelingt am besten in Situationen, die auf der Kippe stehen, bei denen man also schwankt, ob man etwas sagen soll oder nicht. Dort wäre es ein guter Anfang, im Zweifelsfall Stellung zu beziehen, statt den Mund zu halten.

Das ist nicht so spektakulär wie heroische Aufbrüche, hat aber eine längere Halbwertszeit. Und es summiert sich: Jeden Tag ein kleiner Schritt – oder jeden zweiten, weil man manchmal etwas Zeit braucht, um sich von der eigenen Tapferkeit zu erholen –, so kommt im Laufe der Zeit eine ordentliche Strecke zusammen.

Wichtig ist, dabei realistische Erwartungen zu haben. Es wäre unrealistisch zu erwarten, dass eine mutige Intervention immer etwas Positives bewirkt. Noch unrealistischer wäre, auf allgemeine Begeisterung zu hoffen. Denn mutigeres Handeln wird in vielen Fällen wenigstens einigen der Beteiligten ungelegen kommen; entsprechend fängt man sich zuweilen harsche und abwehrende Reaktionen ein. Trotzdem ist es im Interesse der Sache zuweilen sinnvoll, der «Spielverderber» zu sein, der sich dem Harmonie-Konsens verweigert und auf weiterem Nachdenken beharrt.

Der richtige Maßstab für mutiges Handeln

Wer mutiges Handeln daran misst, ob es möglichst unmittelbar zum Erfolg und zu allgemeiner Zustimmung führt, entmutigt sich selbst. Realistischer ist, darauf zu setzen, dass mutiges Handeln die Situation zwar im Durchschnitt verbessert, aber nicht in jedem Einzelfall, und auch nicht immer sofort.

Der einzige sinnvolle und vor allem der einzig praktikable Maßstab ist, ob wir in einer gegebenen Situation unseren bestmöglichen Beitrag zur gemeinsamen Sache geleistet haben bzw. leisten. Denn ob es etwas bewirken wird und wie die anderen reagieren werden, können wir im Voraus nie sicher wissen. Deshalb bringt es auch nichts, darüber zu grübeln. Ebenso wenig sinnvoll ist es, das tatsächliche Ergebnis zum Maßstab unseres Handelns zu machen. Denn erstens haben wir das nicht allein in der Hand, und zweitens ist das ein Expost-Maßstab, der uns im Vorfeld nichts hilft.

«I think our number one problem is that nobody wants to take responsibility for anything. But don’t quote me on that.»

Anonymer Manager

Deshalb ist hier der «Mut zur Unvollkommenheit» gefragt, den die Individualpsychologin Sofie Lazarsfeld (1881 – 1976) schon vor fast 100 Jahren gefordert hat: Oft müssen wir handeln, ohne im Voraus zu wissen, ob es richtig ist, wie die anderen reagieren werden und wozu es führen wird. Und dabei stehen wir jedes Mal vor der Wahl, entweder in der sicheren Deckung zu bleiben oder mutig zu sein und ins (soziale) Risiko zu gehen. Aus der Perspektive dessen, was die Individualpsychologie Gemeinschaftsgefühl nennt, ist das einzig relevante Kriterium für unser Handeln: Leisten wir nach unserer eigenen Überzeugung, also «nach bestem Wissen und Gewissen», unseren bestmöglichen Beitrag zu einer positiven Entwicklung? Das kann natürlich immer nur aus der Einschätzung der Situation heraus geschehen, die wir vor unserer Intervention hatten – nicht aus späteren Erkenntnissen und Einsichten oder dem Ergebnis, das schließlich eingetreten ist. Im Nachhinein ist man zuweilen klüger, doch es lähmt nur – sprich: es entmutigt –, sich davon beirren zu lassen. Sicher ist: In der Deckung zu bleiben, ist nur sehr selten der bestmögliche Beitrag.

Das hat eine wichtige Konsequenz: Wir sollten uns eine mutige, konstruktive Intervention auch dann als richtige Entscheidung anrechnen, wenn sie nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt. Wir haben dann nicht bewirkt, was wir bewirken wollten, aber wir haben «mutig und unvollkommen», wie Theo Schoenaker es formuliert hat, unser Bestes getan. Wenn wir unseren bestmöglichen Beitrag nicht als richtige Entscheidung verbuchen, was sollten wir dann als richtige Entscheidung verbuchen?

Andere systematisch(er) ermutigen

Doch so gut es ist, selbst mutiger zu werden, davon wird nicht automatisch auch unser Team mutiger und schon gar nicht die ganze Firma. Zusätzlich sollten wir lernen, unsere Umgebung systematisch zu ermutigen, und eine ermutigende Kultur aufbauen. Mit anderen Worten, wir sollten Ermutigung nicht nur zu einem zentralen Prinzip unseres eigenen Handelns machen, sondern zur Leitlinie der ganzen Organisation.

Aber wie ermutigt man seine soziale Umgebung? Wie kann man Ermutigung lernen? Der beste Einstieg ist, sich bewusst zu machen, dass Sie hier keineswegs bei null anfangen: Wir alle sind ständig dabei, unsere Umgebung teils zu ermutigen, teils zu entmutigen – nur, dass wir dies in aller Regel nicht bewusst und planmäßig tun, sondern inhaltsgetrieben, sprich, als spontane Reaktion darauf, was uns gefällt oder missfällt.

Wenn wir von einem Vorschlag spontan sehr angetan sind und dies verbal und/oder nonverbal zum Ausdruck bringen, hat das genauso seine Wirkung auf diejenige, die ihn gemacht hat, wie wenn wir eine Idee als Schwachsinn bezeichnen und brüsk vom Tisch wischen. Das Gleiche gilt, wenn wir bei einem Redebeitrag mehrfach den Kopf schütteln oder zustimmend nicken, wenn wir konzentriert zuhören oder uns parallel mit unserem Smartphone beschäftigen.

«Nur was Adressaten als Ermutigung empfinden, ist Ermutigung – alles andere war bestenfalls ein gutgemeinter Versuch.»

Die Wirkung unserer Signale verstärkt sich ohne unser Zutun, wenn wir für die Adressaten wichtig sind, gleich ob aus beruflichen oder persönlichen Gründen. Hierarchische Über- bzw. Unterordnung spielt dabei eine größere Rolle als den meisten Führungskräften bewusst ist: Vor allem entmutigende Signale haben ungleich höheres Gewicht, wenn sie von Hierarchie-Höheren kommen. Persönliche Dominanz verstärkt den Effekt.

Die eigenen Gewohnheiten systematisch erforschen

Bevor Sie also darüber nachdenken, welche neuen Techniken und Methoden der Ermutigung Sie sich aneignen sollten, empfiehlt es sich, systematisch zu erforschen, wie und wodurch Sie bereits heute ermutigend bzw. entmutigend wirken. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Quellen: Erstens Selbstbeobachtung und Selbstreflexion, zweitens das Feedback der Umgebung.

Selbstbeobachtung und Selbstreflexion sind der Anfang. Halten Sie am besten nach jedem Gespräch, bei längeren Gesprächen auch mal zwischendurch, kurz inne und fragen sich: Wie ermutigend oder entmutigend war oder bin ich eigentlich gerade? Welche Reaktionen meiner Gesprächspartner habe ich beobachtet – und sprechen die dafür, dass sie sich von mir ermutigt fühlen oder eher das Gegenteil? Dabei werden Sie vermutlich nicht alles sehen, aber es wird Ihnen schon einiges auffallen. Das schult Ihre Selbstwahrnehmung. Und wenn Sie die eine oder andere Ihrer Reaktionen im Nachhinein nicht ganz glücklich finden, sind Sie frei, daraus Schlussfolgerungen für das nächste Mal abzuleiten.

Vermutlich fällt Ihnen dann auch auf, dass Sie gar nicht immer ermutigend sein wollen. Müssen Sie auch nicht. Sie müssen es genauso wenig, wie jemand immer Klavier spielen muss, bloß weil sie es kann. Sie entscheiden frei, wann und wen Sie ermutigen wollen – und wen und wann nicht. Nur: Wenn Sie es wollen, sollten Sie es können. Wie Schönheit, so liegt auch Ermutigung im Auge des Betrachters: Nur was die Adressaten als Ermutigung empfinden, ist Ermutigung – alles andere war bestenfalls ein gutgemeinter Versuch. Die Aussage «Ich habe sie/ihn ja ermutigt, aber sie/er hat es nicht angenommen» ist ein Widerspruch in sich: Wenn sie es nicht angenommen hat, dann war es keine Ermutigung, auch wenn es in edelster Absicht geschah. Ebenso wenig gilt das Argument: «Ich wollte ihn/sie überhaupt nicht entmutigen; sie/er hat meine Reaktion nur leider in den falschen Hals bekommen!» Kurz und trocken: Was entmutigend gewirkt hat, war eine Entmutigung, gleich ob dies in unserer (bewussten) Absicht lag oder nicht.

Nun liegt es nicht allein in unserer Hand, ob etwas ermutigend wirkt. Wenn Ermutigung scheitert, kann das auch an der Beziehung, am Zeitpunkt oder an den Vorerfahrungen des Adressaten liegen. Trotzdem machen Sie sich das Lernen leichter, wenn Sie auf das Alibi «Ich wollte ja, aber …» verzichten und akzeptieren, dass bei der Ermutigung das Resultat zählt und nicht die Absicht. Wenn Sie Ihr Agieren in dieser Weise reflektieren, gewinnen Sie einen neuen, erweiterten Blick auf Ihre sozialen Folgen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das bereits erste Veränderungen bewirken: Sie werden Wirkungen entdecken, die Sie nicht wirklich wollen und deshalb korrigieren, und Sie werden sich positiver Wirkungen bewusst werden und sie verstärken. Etwas mehr Mut erfordert es, das Feedback Ihrer Umgebung einzuholen. Das kann unangenehme Überraschungen bringen, weil es einen mit den blinden Flecken der eigenen Wahrnehmung konfrontiert – doch gerade deshalb ist es so nützlich, auch wenn es erst einmal schmerzt.

Ein «Klassiker» ist, dass dominante Persönlichkeiten, die sich rasch eine Meinung bilden und sie auch dezidiert äußern, die Rückmeldung bekommen, dass ihre schnellen und zuweilen harschen Reaktionen auf Vorschläge und Ideen mehr emotionalen Flurschaden anrichten als ihnen bewusst ist, zumal wenn sie den Adressaten hierarchisch übergeordnet sind. Im Grunde kann Ihnen kaum etwas Besseres passieren, als dass Sie auf diese Weise von Nebenwirkungen Ihres Handelns erfahren, die Sie bislang nicht im Blick hatten. Auch wenn Ihnen das im ersten Moment missfällt: Diese unerwünschten Wirkungen gehen ja nicht davon weg, dass Sie die Augen vor ihnen verschließen.

Indirekte und direkte Ermutigung

Wer lernen möchte, ermutigender zu werden, richtet seine Aufmerksamkeit fast automatisch darauf, was sie oder er sagen oder tun könnte, um anderen Mut zu machen. Das ist aber erst der zweite Schritt: Fast noch wichtiger – und zugleich das Fundament jeder direkten Ermutigung – ist das, was Theo Schoenaker als «indirekte Ermutigung» bezeichnet hat (Schoenaker, 1991) (vgl. Abbildung 1).

Indirekte Ermutigung besteht letztlich darin, ein Klima zu schaffen, in dem es allen Beteiligten leicht(er) fällt, etwas zu wagen und soziale Risiken einzugehen. Sie geht im Kern zurück auf Rudolf Dreikurs’ Begriff der «Familienatmosphäre» (1964), die das Verhalten und die soziale Entwicklung von Kindern mitbestimmt und die in ihrer Tendenz sowohl ermutigend als auch entmutigend sein kann. (Womit Dreikurs wiederum an Alfred Adlers «Familienluft» (1925) anknüpft.)

Indirekte Ermutigung gelingt am besten, wenn wir als Person eine Ausstrahlung entwickeln, die andere dazu einlädt, ihre Komfortzone zu verlassen, statt sie einzuschüchtern oder vorsichtig werden zu lassen. Spürbare, erlebbare Wertschätzung schafft das Vertrauen, vorbehaltlos akzeptiert zu sein und auch etwas wagen und Fehler machen zu dürfen. Das erzeugt eine Atmosphäre, die die Harvard-Professorin Amy Edmondson unter der Bezeichnung «psychological safety» bekannt gemacht hat.

An mangelnder psychologischer Sicherheit bzw. an einem wenig ermutigenden Klima liegt es oft, wenn das vielbeschworene «Empowerment» in der Praxis wieder einmal nicht greift: Es bringt wenig, die Mitarbeitenden zu «ermächtigen» (was immer das bedeutet) und sie zu eigenverantwortlichem Handeln aufzufordern, wenn die Atmosphäre eher entmutigend ist und sie das Gefühl haben, auf keinen Fall etwas falsch machen zu dürfen.

Wichtig ist: Indirekte Ermutigung ist keine Vorübung, bevor endlich die «richtige» Ermutigung an die Reihe kommt – sie ist das Herzstück der Ermutigung. Wenn jemand spürt, dass wir sie oder ihn schätzen, ihr etwas zutrauen und an ihre Fähigkeiten glauben, dann ist eine direkte Ermutigung oft gar nicht mehr notwendig. Denn in solch einem ermutigenden Grundklima fällt es den Betreffenden auch so schon leicht(er), mutigere Gedanken zu fassen und entsprechend zu handeln.

Das gilt erst recht in Gruppen: Wenn es gelingt, in einem Team ein ermutigendes Klima zu schaffen, dann denken, diskutieren und handeln alle Beteiligten, fast ohne es zu bemerken, von sich aus mutiger und ermutigen sich damit auch gegenseitig. Solche Teams erkennt man daran, dass dort sehr lebhaft und kontrovers diskutiert wird, aber mit hoher gegenseitiger Wertschätzung und im gemeinsamen Bestreben, die beste Lösung für die Aufgabe bzw. das Unternehmen zu finden. Direkte ermutigende Impulse sind dann kaum noch erforderlich oder können sich auf gezielte Interventionen beschränken, etwa um besonders zurückhaltende Teammitglieder aus der Reserve zu locken: «Möchten Sie Ihr Kopfwiegen einmal in Worte fassen?»

Von der persönlichen Weiterentwicklung zur Organisations-Entwicklung

Direkte Impulse sind zuweilen notwendig, wenn es um persönliche Weiterentwicklung geht. Also etwa dann, wenn man erreichen will, dass sich Mitarbeitende an Aufgaben heranwagen, um die sie bislang einen Bogen gemacht haben. Doch direkte Ermutigung entfaltet ihre volle Wirkung nur, wenn die Adressaten sich angenommen fühlen und eine positive, ermutigende Beziehung besteht. Wenn das der Fall ist, dann schadet es auch nichts, wenn die direkte Ermutigung nicht bloß aus zarten Signalen besteht, sondern aus einer nachdrücklichen Forderung. Ermutigung heißt nicht, sich gegenseitig mit Wattebäuschchen zu bewerfen. Ermutigung heißt, sich gegenseitig beim Wachstum zu unterstützen, also bei der Weiterentwicklung und Ausschöpfung der eigenen Fähigkeiten. Das kann und wird – und darf – auch das eine oder andere Mal gegen Widerstände geschehen.

In der erwähnten Bank zum Beispiel lernten die Vertriebsmanager, statt ihre Mitarbeitenden einfach unter Druck zu setzen, damit sie mehr Geschäft mit schwierigen Potenzialkund*innen machten, mit ihnen Gespräche über ihre Ängste und Unsicherheiten zu führen. Sie diskutierten dann etwa, was passieren könnte, wenn sie auf diese Kund*innen zugingen und ihnen Angebote machten, und was ihnen helfen würde, besser mit möglichen Schwierigkeiten zurechtzukommen. Wenn die Mitarbeitenden sich besser gerüstet fühlten und ihre Sorgen reduziert waren, machten die Vorgesetzten deutlich: Sie erwarteten von den Mitarbeitenden keinen Verkaufsabschluss, sondern «nur» ein beherztes Gespräch. Die ausdrückliche Botschaft war dabei: Es dürfen – und es werden – auch Dinge schiefgehen. Wir befinden uns in einem Lernprozess, der Höhen und Tiefen durchlaufen wird. Erwartet wird, über den eigenen Schatten zu springen – der Erfolg ist nicht das geforderte Ziel, sondern die früher oder später unvermeidliche Folge.

«Ermutigung heißt nicht, sich gegenseitig mit Wattebäuschchen zu bewerfen, sondern sich beim Wachstum zu unterstützen.»

Die Kundengespräche wurden gemeinsam nachgearbeitet; wo sinnvoll, wurden Kund*innen zusätzliche Informationen nachgereicht oder ergänzende Angebote gemacht. Vor allem gingen die Mitarbeitenden innerlich immer besser gerüstet in die nächsten Gespräche mit diesen schwierigen Kund*innen.

Und die Erfolge kamen: Sie erwiesen sich tatsächlich als unausweichliche Folge eines mutigeren Vorgehens. Mutiger zu werden heißt letztlich, als Person wie als Organisation immer wieder die eigene Komfortzone zu verlassen und sich Herausforderungen zu stellen, an die man sich bislang nicht herangewagt hat. Das ist zuweilen anstrengend, aber es lohnt sich. Im Grunde gibt es kaum etwas Befriedigenderes als immer wieder zu erleben, was man alles hinbekommt, das man sich noch vor ein paar Jahren oder Wochen nicht zugetraut hätte.

Gerade im beruflichen Umfeld, wo es um Leistung und um Ergebnisse geht, ist es völlig legitim, nicht nur sich selbst zu fordern, sondern auch seine Umgebung: seine Mitarbeitenden, seine Kolleg*innen, aber durchaus auch seine Vorgesetzten und Kund*innen. Denn je mehr und je schneller sich alle Beteiligten weiterentwickeln, desto mehr wird eine mutige und ermutigende Kultur zu einem strategischen Wettbewerbsvorteil, der für Konkurrent*innen kaum aufzuholen ist.

 

Winfried Berner
Gründer und Inhaber von Die Umsetzungsberatung,
spezialisiert auf Change Management und Kulturveränderung


Die Magie des Konflikts

Ein Gespräch mit Reinhard Sprenger

Für den Management-Experten Dr. Reinhard K. Sprenger liegt im Konflikt die Lösung – auch für den Erfolg und die Zukunftsfähigkeit von Organisationen. Warum ist das so? Und worauf sollten Führungskräfte beim Streiten besonders achten?

ZOE: Herr Dr. Sprenger, worin liegt die Magie des Konfliktes und warum haben Sie ihr ein ganzes Buch gewidmet?

Sprenger: Die Magie des Konflikts besteht im oszillierenden Flimmern. Der Konflikt stößt ab und zieht an, verbindet und trennt, vitalisiert und paralysiert. Jeder weiß, dass ohne Konflikt keine Entwicklung möglich ist. Dennoch versucht ihn jeder zu vermeiden. Und wenn das nicht geht, ihn zu lösen. Was unwahrscheinlich ist. Nicht einmal wünschbar. Genau dieses Pulsieren ist aber wichtig für die Zukunft unserer Kinder, die in keiner Konsensgesellschaft mehr leben werden, sondern in einer Konfliktgesellschaft. Dafür brauchen wir einen anderen Konfliktbegriff.

ZOE: Worauf sollten Führungskräfte besonders achten, wenn sie Konflikte konstruktiv nutzen möchten?

Sprenger: Im Konflikt erfährt man eine Weltergänzung. Man kommt aus dem Mangel in die Fülle, aus der Unterbelichtung in das volle Bild. Man erfährt ja niemals mehr von einem Menschen, als wenn dieser für etwas in den Konflikt einsteigt. Umgekehrt auch: Wer nicht streitet, lernt sich selbst nicht kennen. Für Führungskräfte kommt hinzu, dass der Konflikt ihre Existenz legitimiert. Ohne Ziel- und Wertkonflikte braucht es keine Führung. So besehen sind Führungskräfte Konfliktparasiten.

ZOE: Welches sind Ihrer Erfahrung nach die größten Konfliktsünden, die Manager*innen immer wieder begehen?

Sprenger: Konfliktscheu. Sie wollen nicht verletzen und wollen nicht verletzt werden. Und aus der Furcht, zu weit zu gehen, gehen sie oft nicht weit genug. Wer aber Streit vermeidet, erntet noch lange nicht Frieden. Und es entsteht ein Pastellgemälde der Realität. Das genau ist die Idealvorstellung jener Menschen, die von einer multikulturellen, konflikt- und abwertungsfreien «one world» träumen. Wer so auf Konflikte schaut, dem fehlt es folgerichtig an Übung im vernünftigen Umgang. Eine verbreitete Konfliktsünde ist auch die Schweigespirale. Das ist die Tendenz, sich mit allgemeiner Gestimmtheit zu harmonisieren, obwohl man die Dinge vielleicht völlig anders sieht. Heute hat der Begriff der politischen Korrektheit Teile dieses Phänomens übernommen.

ZOE: Gibt es Ihres Erachtens nach kulturelle Eigenheiten, die im deutschsprachigen Raum dazu führen, dass wir Konflikt nicht immer konstruktiv nutzen?

Sprenger: Wir sind Entweder-Oder-Menschen. «Shades of Grey» ist bei uns ein pornografischer Roman, kein pragmatischer Zugang zur Welt. Sehr deutsch ist auch Harmoniesucht. Sie betont maschinenlogische Sprachbilder wie «gut geölt» und «reibungslos». Im deutschen Traditionskomplex wurzelt ein tiefes Misstrauen gegenüber den Konkurrenzmechanismen einer liberalen Gesellschaft. Tief eingewurzelt in die kollektiven Tiefenströme ist die Erfahrung mit Napoleon, der mühelos durch die zersplitterten deutschen Territorialstaaten schnitt. Mit desaströsen Folgen, wenn man sich an Wilhelm II. in der Julikrise 1914 erinnert: «Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.»

ZOE: Welche Taktiken gibt es denn, um andere, die vielleicht konfliktavers oder übermäßig rechthaberisch sind, in einen produktiven Konflikt zu führen?

Sprenger: Ich bin kein großer Freund von Taktiken. Es kann nicht darum gehen, den anderen zu therapieren. Paradoxerweise kommt man ja am weitesten, wenn man bei sich selbst bleibt. Und da hilft es, wenn ich mir klar mache, dass sich meine Verhaltensweisen relational-zirkulär entwickeln. In dem einen Fall könnte es sein, dass meine Lösungsfixierung andere Menschen entmutigt, Konflikte ergebnisoffen anzusprechen. Oder meine Inszenierung von Alternativlosigkeit, wenn ohnehin klar ist, wer sich durchsetzen wird. Im anderen Fall könnte es sein, dass meine Ego-Grandiosität das Rechthabenwollen des anderen stimuliert. Nach dem Motto: Wenn du nicht so drücken würdest, müsste ich nicht so drücken.

ZOE: In Ihrem aktuellen Buch gibt es eine Sektion darüber, wann man nicht in einen Konflikt einsteigen sollte. Wie sieht das bei typischen konfliktgeladenen Situationen in einer Organisation aus?

Sprenger: «Pick your fights» sagt man in den USA. Denn es gibt nötige Konflikte und unnötige. Unnötig sind etwa die unendlichen Auseinandersetzungen, die täglich kurz aufflackern. Auch die Fehlertrüffelhunde unter den Chefs, die professionellen Nörgler, heimlichen Intriganten – die muss man ertragen. Das ist small stuff. Auch aussichtslosen Konflikten sollte man aus dem Weg gehen. Es sei denn, man will den Angriffsselbstmord genießen. Einsteigen sollte man hingegen bei allem, was für die Zukunftsfähigkeit einer Organisation relevant ist. Das sind insbesondere strukturelle und institutionelle Entscheidungen. Aber auch da ist der richtige Zeitpunkt wichtig. Es schadet nicht, sich in der fast verlernten Kunst des Zögerns zu üben. Und eine große Tribüne zu meiden. Vor allem aber hat keiner das Recht, alten Ärger zu präsentieren. Zornes-Sparbücher gehören in die Tonne.

ZOE: Wenn Sie eine kleine Konflikt-Typologie für die Führungspraxis entwickeln müssten, welche Leitunterscheidungen würden Sie dann treffen?

Sprenger: Unser Gespräch findet mitten in der Corona-Krise statt. Die macht den Unterschied zwischen einer Entscheidung und einer Wahl besonders sinnfällig. Eine Entscheidung ist fällig vor einer Milchglasscheibe, bei offenem Ausgang und unkalkulierbaren Konsequenzen. Im Unterschied zur Wahl, die sich fakten- oder wertbasiert zu einer Seite neigt. Führung zieht ihre Existenzberechtigung aus der dilemmatischen Situation der Entscheidung – wenn es keine Kriterien gibt oder ebenso gute Gründe für die eine Seite gibt wie für die andere. Häufig sind Führungskräfte jedoch nicht auf der Höhe der Komplexität, die zu bewältigen sie bezahlt werden. Dann ziehen sie Berater herbei, gegenwärtig Virologen. Die sammeln solange Daten, bis die Dinge eindeutig und konfliktfrei scheinen. Also nicht mehr entschieden werden müssen. Das entlastet. Der Preis dafür ist Verantwortungsdiffusion bis hin zur Delegitimierung der Führung.

 


Dr. Reinhard K. Sprenger — Biografie

Dr. Reinhard K. Sprenger studierte Philosophie, Psychologie, Geschichte, Sport und Betriebswirtschaft in Bochum und Berlin. Seine Bücher haben das Führungsverständnis vieler Manager*innen nachhaltig verändert. Seit 1990 arbeitet er als selbstständiger Unternehmensberater für viele internationale Konzerne und Dax-100-Unternehmen. Sprenger lebt in Winterthur und Santa Fe. Im März 2020 ist sein Buch «Magie des Konflikts: Warum ihn jeder braucht und wie er uns weiterbringt» erschienen.


 

ZOE: Wir leben im Internetzeitalter. Wie unterscheidet sich die Handhabung von Konflikten im virtuellen Bereich eigentlich vom physischen und wo liegen spezifische Herausforderungen?

Sprenger: Die Leitunterscheidung «physisch/virtuell» ist selber der Konflikt. Das Virtuelle definiert ja das Unternehmen als Kooperationsarena völlig neu. Teilweise auch naiv und in Opposition zu unserem biologischen Gepäck. Vor allem im Mikro-Konflikt wird das deutlich. Ein wirklich produktives Konfliktgespräch ist virtuell nicht zu führen. Beispielhaft kann man das an E-Mails sehen. Wir kommunizieren durch sie nicht von Mensch zu Mensch, sondern über eine dazwischengeschaltete Maschine, die die Kommunikation formt. Aus Lockerheit wird in E-Mails schnell Distanz- und Respektlosigkeit. Und wir können die Reaktion des Empfängers nicht spüren. Deshalb die Regel: Alles Konflikthafte gehört nicht in eine E-Mail.

“Das Glück der Menschen hängt von Erwartungen ab, nicht von objektiven Umständen.”

ZOE: Sie betonen die Rolle von Erwartungen für die Konflikthandhabung. Wie kann man gutes Erwartungs-Management für den Konfliktkontext betreiben?

Sprenger: Das Glück der Menschen hängt von Erwartungen ab; nicht von objektiven Umständen. Wenn sie bekommen, was sie wollen, sind sie glücklich; wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, sind sie unglücklich. Die Krux: Egal was wir erreichen, wir wollen mehr. Perfektionsforderung wird dann zur Realitätsvermiesung. Deshalb modelliere ich den Konflikt als Erwartungsdifferenz. Zwei Menschen haben unterschiedliche Erwartungen, die beide berechtigt sind, aber nicht zueinander passen. Die eigene Erwartung sollten wir nicht als Selbstverständlichkeit etikettieren. Hilfreich ist es also, potenziell konfliktäre Erwartungen aussprechen und zu verhandeln. Werden Erwartungen enttäuscht, kann ich prüfen, ob ich an ihnen festhalten will. Man kann Erwartungen auch loslassen. Aller Ärger ist letztlich das zwanghafte Festhalten an Erwartungen.

ZOE: Warum ist eine systemische Perspektive auf Konflikte besonders hilfreich? Oder gibt es sonst Blickwinkel, die Ihnen noch erhellender erscheinen?

Sprenger: Ich brauche in meiner Praxis beide Pole – den Hitzepol des personenzentrischen Denkens und den Kältepol des Systemischen. Ich will beiden Seiten die Ehre geben, weil ich der Überzeugung bin, dass sie sich nicht ausschließen. Wenn ich allerdings priorisieren muss, beginne ich mit dem systemischen Ansatz, weil mir vieles im Unternehmen zu invasiv und therapeutisch-übergriffig ist. Erhellender erscheint mir die philosophische Perspektive, weil sie Distanz hält und uns ehemaligen Savannenwesen den Blick öffnet. Vor allem aber nicht droht.

“Ich darf niemandem so viel Macht über mich geben, dass ich meine Souveränität verliere.”

ZOE: Glauben Sie, dass die Beschäftigung mit Philosophie uns zu Konflikt-kompetenteren Menschen machen kann?

Sprenger: Unbedingt. Es ist die Erfahrung, dass es intellektuell immer gleich weit zum rettenden Ufer ist. Dass die Welt immer mehrdeutig ist und niemand einen privilegierten Zugang zur Wahrheit hat. Die ganze Fülle von Stimmen und Gegenstimmen führt einen heraus aus der Hölle der Alternativlosigkeit. Zum Beispiel das Paradox schuldloser Verschuldung bei Kierkegaard, Hegels Definition der Tragödie als Konflikt, in dem immer beide Parteien recht haben, Platons Kugelwesen. Dann erkennt man, dass Wirklichkeit gleitet, nicht sprödbrüchig feststeht, sondern stets ein wenig schaukelt, sich wendet und dreht.

ZOE: In Ihrem Buch prägen Sie den Begriff des Konfliktkünstlers. Welche Fähigkeiten muss dieser gerade als Führungskraft mitbringen bzw. kultivieren und ausbauen?

Sprenger: Wenn mein Geld auf dem Tisch läge, würde ich Führungskräfte intensiv und praxisnah mit Ambivalenzen konfrontieren. Oder besser noch: Eindeutigkeiten enttäuschen. Wenn das verstanden ist, kann das Verhalten folgen. Denn Widersprüche lassen sich leicht zu Fließgleichgewichten, Gegenseitigkeiten und Wechselwirksamkeiten verändern. So wie Türen, die mal offen, mal geschlossen sind. Dann kann man einen integrativen Blick entwickeln, Globales und Lokales zusammendenken, Bewahrung und Veränderung pendeln lassen. Dann versteht man das Unternehmen auch als kooperative Ordnung, in der verschiedene Rationalitäten gleichberechtig existieren. Nicht nur nebeneinander, auch nicht miteinander, sondern füreinander. Konflikt, so verstanden, ist das Integrationsvehikel überhaupt.

ZOE: In welchen Situationen fällt es Ihnen eigentlich persönlich schwer, den Konflikt als magischen Moment und Chance zu sehen?

Sprenger: In allen. Wegweiser gehen ja selten die Wege, die sie weisen. Ich habe, wie man so sagt, noch viel Luft nach oben. Jedenfalls konnte ich noch bei keinem Buch so viel über mich selbst lernen, wie bei diesem. Und ich musste ziemlich oft lachen.

ZOE: Vermutlich hat jeder von uns einen Konfliktbereich, in dem er oder sie an Souveränität verliert. Gibt es Verhaltensweisen, die uns helfen können, wieder die Contenance zu fassen?

Sprenger: Unzählige. Für mich die wichtigste: Selbstachtung geht immer vor Fremdachtung. Ich darf niemandem so viel Macht über mich geben, dass ich meine Souveränität verliere. Was mir übrigens bei meinen Kindern manchmal schwer fällt. Ich denke oft an Augustus, der im Zorn immer erst das Alphabet aufgesagt haben soll, bevor er reagierte. Er hat dem römischen Reich 40 Friedensjahre geschenkt. Vielleicht deshalb.

Das Gespräch führte ZOE-Redakteur Prof. Dr. Martin J. Eppler


Ambidextrie gestern und heute

Ein Interview mit Michael Tushman

Der Begriff «organisationale Ambidextrie» bezeichnet die Fähigkeit eines Unternehmens, Exploration und Exploitation gleichzeitig zu verfolgen. Es geht darum, sich sowohl mit dem Kerngeschäft durch Effizienz und kontinuierliche Optimierung auf etablierten Märkten zu behaupten (Exploitation), als auch flexibel, experimentierend und kreativ zukünftige Geschäftspotenziale für möglicherweise neue Märkte zu entwickeln (Exploration). Das Interesse an und die Forschung zu diesem Thema sind in den vergangenen 20 Jahren explosionsartig gewachsen. Harvard-Professor Michael Tushman gibt im Gespräch mit ZOE-Redakteur Thomas Schumacher einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung und zeigt auf, was wir zu dem Thema schon wissen – und was noch nicht.
Harvard-Professor Michael L. Tushman

ZOE: Mr. Tushman, zusammen mit Charles O’Reilly haben Sie viel am Konzept des ambidextren Unternehmens gearbeitet. Was genau meinen Sie damit?

Tushman: Der grundlegende Gedanke unserer Arbeit ist, dass nachhaltige Leistungsfähigkeit eines Unternehmens einhergeht mit dessen Fähigkeit, gleichzeitig sowohl sein derzeitiges Kerngeschäft auszuschöpfen, als auch neue Räume zu erschließen. Diese Herausforderung hat Jim March vor vielen Jahren formuliert und sie bildet den Kern unserer Überlegungen zu Ambidextrie.

Für etablierte Unternehmen besteht die Herausforderung darin, ihr Kerngeschäft weiter auszubauen und zugleich neue Geschäftsfelder zu sondieren. Für Manager in aufstrebenden Jungunternehmen liegt sie im Gegenteil: Die Exploration meistern sie bereits sehr gut, aber ihr Business muss irgendwann größere Maßstäbe erreichen.

Die Grundidee der Ambidextrie ist – und das wird denjenigen bekannt vorkommen, die sich mit Systemtheorie auskennen – dass die Führungskraft und ihr Team gemeinsam zwei völlig unterschiedliche Organisationsgefüge aufbauen müssen. Das kann man sich tatsächlich als zwei grundverschiedene Systeme vorstellen: eines für Exploration, eines für Exploitation. Und wesentlich ist dabei, dass diese beiden Systeme selbst inkonsistent sind.

Das ist der Schlüssel zu unserer Vorstellung von Ambidextrie: Es geht darum, Führungskräfte mit der Herausforderung zu konfrontieren, dass sie konsequent inkonsistent sein und völlig verschiedene Organisationsgefüge gleichzeitig aufbauen müssen, um heute und morgen erfolgreich zu sein.

„Es geht darum, Führungskräfte mit der Herausforderung zu konfrontieren, dass sie konsequent inkonsistent sein und völlig verschiedene Organisationsgefüge gleichzeitig aufbauen müssen, um heute und morgen erfolgreich zu sein.”

ZOE: Die Idee der Ambidextrie ist nicht gänzlich neu. Warum wird sie derzeit so wichtig für Unternehmen?

Tushman: Charles und ich schreiben nun seit 20 Jahren über dieses Thema. Der Kern des Ganzen liegt in der Herausforderung, die dynamischen Fähigkeiten eines Unternehmens aufzubauen und zu erhalten. In einer Welt, in der Dinge zunehmend modularisiert werden können und der Aufwand für Wettbewerb und Kommunikation gegen null geht, verschiebt sich der Ort der Innovation: weg aus dem Inneren der Firma selbst, wo er jahrzehntelang lag, hin zu Firma und Netzwerk. Das ist eine enorme ambidextre Herausforderung: in einer Welt zu leben, in der unterschiedliche und widersprüchliche Logiken existieren.

Ich denke, dass durch offene und dezentrale Innovation diese Herausforderung seit 2015 noch verstärkt worden ist. Führungskräfte sehen sich seitdem insbesondere mit verschiedenen Umbrüchen und Herausforderungen zeitgleich konfrontiert. Zum Beispiel besteht in der Automobilindustrie in Deutschland für Führungskräfte die Problemstellung, sich gleichzeitig mit dem klassischen, fahrergesteuerten Wagen mit Verbrennungsmotor und dem autonom gesteuerten Auto ohne Motor zu befassen. Damit muss sich jede Führungskraft in einer Automobilfirma gerade auseinandersetzen. Ich denke also, die kurze Antwort auf Ihre Frage ist: Ambidextrie gibt es seit dem Jahrhundertwechsel und sie wird jetzt immer wichtiger für Führungskräfte.

ZOE: Und spielt der Prozess der Digitalisierung dabei eine Rolle?

Tushman: Ja. Diese ganze Sache mit digital, online, Offenheit, das gehört alles zu dem in Phasen fortschreitenden technologischen Wandel und ist Teil der Wechselwirkung zwischen technologischen und unternehmerischen Umbrüchen. Das sind Beispiele der nächsten Welle von diskontinuierlichem Wandel im unterschwelligen technologischen Regime, mit dem Unternehmen konfrontiert sind.

Strukturell gesehen ist der Gedanke der Ambidextrie einfach: Man muss Exploration von Exploitation trennen. Unsere Idee der gezielten Integration ist letztlich simpel: Das Unternehmen schafft Verknüpfungsmechanismen zwischen Ressourcen in den beiden Bereichen, die wechselseitig zum Vorteil genutzt werden können. Im Jahr 2020 sehe ich die große Aufgabe für leitende Führungskräfte darin, ein Team aufzubauen, das mit Widersprüchen und Paradoxien umgehen kann. Führungsteams müssen in der Lage sein, mit den Widersprüchlichkeiten zwischen Vergangenheit und Zukunft des Unternehmens zurechtzukommen. Unsere Forschung und unsere Praxiserfahrung zeigen, dass das eine seltene Kompetenz ist.

ZOE: Für den Umgang mit Ambidextrie empfehlen Sie die strukturelle Trennung. Worin sehen Sie deren Vorteile gegenüber anderen Herangehensweisen wie z. B. einem kontextuellen Ansatz?

Tushman: In unserer Grundannahme ist die Beharrung auf alten Mustern in Unternehmen so stark ausgeprägt, dass der einzige Weg, um der Trägheit der Firmenhistorie zu entrinnen, darin besteht, die Vergangenheit von der Zukunft zu trennen.

Meiner Meinung nach wäre kontextuelle Ambidextrie in jedem Automobilunternehmen ein Fehler. Macht und Einfluss der Geschäftsbereiche, die sich um den Verbrennungsmotor drehen, und ihre historisch verwurzelten Ressourcen sind so stark, dass die alte Welt die neue Welt dominieren würde. Das ist der wesentliche Grund, warum wir Führungskräfte dazu anhalten, zunächst Exploitation von Exploration zu trennen. Wir haben festgestellt, dass diese strukturelle Trennung später wieder aufgeweicht werden kann, wenn der Explorationsbereich erst einmal ein Geschäftsmodell entwickelt hat, das im Markt funktioniert, d. h. wenn anspruchsvolle Kunden das entstandene Produkt oder den Service zu schätzen wissen und der Bereich sich eine interne Legitimation geschaffen hat, so dass er nicht einfach kaltgestellt werden kann.

Der andere Aspekt hängt mit einer Debatte zusammen, die ich mit meinem kürzlich verstorbenen Kollegen Clay Christensen geführt habe. Meiner Meinung nach, sollte man den Explorationsbereich nur dann aus dem Exploitationsbereich ausgründen, wenn es keine Hebelwirkung innerhalb des Unternehmens gibt – also wenn es keine Möglichkeit gibt, beispielsweise die Marken-, Finanz- oder HR-Ressourcen effektiv einzusetzen. Kann man jedoch firmeninterne Ressourcen nutzen, sollte man den Explorationsbereich nicht aus dem Unternehmen ausgliedern. Denn wenn Explorations- und Exploitationsaktivitäten unter ein und demselben Unternehmensdach stattfinden, setzt dies die Führungsebene unter Druck, sich mit Widersprüchlichkeit, Paradoxen und den damit zusammenhängenden internen Spannungen auseinanderzusetzen.

ZOE: Seit Jahren betrachten Sie verschiedene Branchen und verschiedene Unternehmen hinsichtlich ihrer Fähigkeit, solche paradoxen Situationen zu managen. Was sind in Ihren Augen besondere Beispiele beim Umgang mit Ambidextrie?

Tushman: Ein großer Teil meiner Arbeit dreht sich genau darum. Welche Charaktereigenschaften weisen Firmen und ihre Führungskräfte auf, die das können? Lassen Sie mich ein paar Beispiele nennen. Eines der ersten erfolgreichen ambidextren Unternehmen war USA Today, damals im Jahr 2000. Tom Curley – er stand zu dieser Zeit an der Spitze – arbeitete zu dieser Zeit am Ausbau des Zeitungsgeschäfts, während er parallel eine tragfähige Organisation für USA Today.com als Online-Newsportal aufbaute. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, das zu entwickeln, was wir heute ein ambidextres Unternehmen nennen, lernte Curley, wie er sein Führungsteam zu besetzen hatte und wie er dieses dazu bringen konnte, sowohl die Printversion der Zeitung, als auch die Onlineplattform wertzuschätzen. Das hat uns verdeutlicht, dass die Trennung der Bereiche wichtig ist, ebenso wie die gezielte Integration über ein Team, das beides kann.

Ein anderes Beispiel ist die Abteilung für Pflanzenschutzmittel des Chemieunternehmens Ciba. Dessen traditionelles, chemiebasiertes Geschäft war früher in Basel angesiedelt, während der Geschäftsbereich Molekularbiologie in den Vereinigten Staaten saß. «We are here to keep plants healthy» – das war die übergreifende Identität, die das Unternehmen dazu anhielt, auf seinem herkömmlichen Feld, also dem Feld der Chemie, und jenem dem der Mikrobiologie gleichzeitig vertreten zu sein. Ciba hatte eine Führungsspitze, die mit diesen vielfältigen Potenzialen und den Widersprüchlichkeiten, die mit völlig unterschiedlichen, zeitgleich greifenden Strategien einhergehen, umgehen konnte.

Ein aktuelleres Beispiel ist die Harvard Business School HBS. Dort baut unser Dekan weiter an einer Business School, die in der Vergangenheit verwurzelt ist und zu der unsere Studierenden und Dozenten wie jeher an den Campus kommen, um im direkten persönlichen Kontakt zu lernen und zu lehren. Zugleich entwickelt er eine digitale Komponente, bei der unsere zukünftigen Studierenden womöglich nie an den Campus kommen und wir unsere Lehrinhalte digital aufbereiten werden. Das ist ein schönes Beispiel für das, was Charles und ich «strukturelle Ambidextrie» nennen. HBX, so heißt das Projekt an der HBS, steht für hohe Spezialisierung, gezielte Integration, bei der die Forschung der Fakultät effektiv für beide Bereiche genutzt wird, und eine starke Einbindung der Führungsebene. Dem Bestreben «to educate leaders who make a difference in the world» verpflichtet, hat sich die Führungsspitze der Fakultät dem Ziel verschrieben, unseren traditionellen Lehrstil weiter zu optimieren, während wir zugleich mit grundlegend neuen Lehrformen experimentieren.

ZOE: Gibt es denn auch hilfreiche Beispiele zum gescheiterten Umgang mit Ambidextrie?

Tushman: Es gibt viele, sehr viele Beispiele des Scheiterns. Lassen Sie mich ein relativ aktuelles ausführen. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie schwierig es ist, ambidextre Entwürfe umzusetzen. Wir hatten vor kurzem einen Fall aus der Multi-Media-Branche, und zwar den Havas-Konzern mit Sitz in Paris. Dort verfolgte man eine ambidextre Strategie. Man wollte weiterhin das tun, wofür das Unternehmen bekannt war, nämlich die Umsetzung unglaublich kreativer Werbung, auf die traditionelle Art und Weise. Dieses klassische Werbegeschäft wurde von der Kreativ- und Markenabteilung innerhalb der Agentur geleitet. Havas’ CEO hatte den Plan, die Werbeindustrie sowie das Unternehmen zu transformieren, indem er sowohl traditionelle Werbeanzeigen schalten, als auch das Publikum beim Aufbau von Kampagnen mit einbinden wollte. Er wollte Werbung sowohl intern gestalten, als auch extern mit dem Publikum, der Crowd, kreieren. Das verstehe ich unter einer proaktiven ambidextren Strategie – denn er initiierte diesen Schritt zu einer Zeit, als Havas finanziell sehr gut dastand.

So wie Charles und ich es empfehlen würden, trennte der CEO den neuen Unternehmensbereich strukturell vom traditionellen Unternehmen und stieß verschiedene Formen der gezielten Integration an. Diese Strategie und die Struktur waren super, aber die Einflussnehmer im traditionellen Unternehmenszweig blockierten die Vorhaben des CEO politisch. Tatsächlich haben wir festgestellt, dass dem Scheitern eines ambidextren Entwurfs oft die Unfähigkeit des Führungsteams zugrunde liegt, mit den Spannungen zwischen der Vergangenheit und der Zukunft umzugehen. Wir haben herausgefunden, dass es in 90 Prozent der Fälle eine neue Geschäftsleitung braucht, um ambidextre Konzepte umzusetzen. Die meisten alteingesessenen Führungskräfte sind nicht in der Lage, die Spannungen im Team zu managen. Diese Fälle von Versagen sind spiegeln sich auch in diesem Szenario: Der Chef macht die Ansage, dass Exploration und Exploitation zugleich verfolgt werden sollen, ist jedoch nicht imstande, ein Team aufzustellen, das beides unterstützt.

ZOE: In Ihrem Buch sprechen Sie viel über große Unternehmen. Wie sieht für kleine oder mittelgroße Unternehmen diese strukturelle Trennung für den Umgang mit der Ambidextrie aus?

Tushman: Es gibt da keinen wesentlichen Unterschied, lediglich hinsichtlich der Größenordnung. Beispielsweise arbeiten wir gemeinsam mit unseren Kollegen bei Change Logic an Ansätzen für das Unternehmen Analog Devices (ADI). Verglichen mit IBM oder Volkswagen ist das eine kleine Firma. ADI wurde gegründet als Unternehmen für analoge Komponenten. Mittlerweile stellt es integrierte Analogschaltungen, Mixed-Signal-Schaltungen und solche für digitale Signalverarbeitung her. Es hat sich von einem Komponentenhersteller zum Anbieter von Systemlösungen entwickelt. Bei ADI wurde die Herausforderung Ambidextrie sowohl auf Unternehmensebene umgesetzt – dort vom CEO vorangetrieben – als auch auf der Ebene der einzelnen Geschäftseinheiten, gefördert durch die Geschäftsführer.

Ich denke, dass die Herausforderung für eine mittelgroße Firma sich nicht von jener unterscheidet, mit der große Unternehmen konfrontiert sind, wenn sie sich an Ambidextrie versuchen. Aufstrebende Jungunternehmen jedoch stehen vor einer Aufgabe, die genau gegensätzlich zu der für etablierte Unternehmen läuft: Wachsende Firmen müssen mit der Herausforderung der Exploitation, also mit der Vergrößerung des Marktanteils, im Rahmen ihrer explorativen Möglichkeiten zurechtkommen. Die Sportartikel-Firma Lululemon beispielsweise war anfangs sehr gut, was die Exploration anging, sie hat neue Wege gefunden für das Einzelkundengeschäft im Athleisure-Bereich. Als das Unternehmen jedoch wachsen wollte, stand es vor der Aufgabe, seine erfolgreiche Handelsstrategie in einem größeren Maßstab auszuschöpfen.

Die Revolution bei Lululemon oder jeder anderen beliebigen Jungfirma im profitorientierten ebenso wie im nicht-profitorientierten Bereich besteht darin, von der bloßen Exploration überzugehen zu Exploration und Exploitation. Dieser Übergang wurde bei Lululemon vom Vorstand initiiert und von Christine Day umgesetzt, einer neuen, von extern angeworbenen CEO.

In breit aufgestellten Firmen wie Novartis entspringt das Thema Ambidextrie weniger der CEO-Ebene, sondern eher der Produktabteilung beziehungsweise der Markenebene. Bei Volkswagen findet sich die Herausforderung Ambidextrie sowohl auf Konzern- als auch auf Markenebene. Ambidextrie wird dann dezentral von Geschäftsführern mit Gewinn- und Verlustverantwortung gemanagt.

ZOE: In Ihren Büchern und Artikeln bin ich fasziniert von dem Narrativ einer Ambidextrie mit ihren beiden Seiten. Doch ich erkenne zugleich einen Prozess: Ideate – Incubate – Scale. Wie passt das beides zusammen?

Tushman: Eine sehr gute Frage. Unsere jüngere Arbeit zum Dreiklang Ideate, Incubate und Scale macht unsere Arbeit zu Ambidextrie hinsichtlich dieser drei Phasen granularer. In der ersten Phase, der Ideate-Phase, ist es wichtig, ein Ziel beziehungsweise eine Ambition für das Unternehmen festzulegen. Das liegt allein in der Verantwortung des Unternehmensleiters. In der Incubate-Phase geht es dann im Wesentlichen um Exploration – ob durch Bündnisse, Joint Ventures, durch Herumprobieren, gemäß der Lean Prinzipien oder welche explorative Methode auch immer die Firma bevorzugt. Unserer Erfahrung nach, fällt die Incubate-Phase den Unternehmen leicht. Die Herausforderung – und hierauf konzentriert sich unsere Arbeit zu Ambidextrie vor allem – ist der Übergang von der Incubate- zur Scale-Phase. Dabei kommt es darauf an, ein paar gute Ansätze und Businessmodelle auszuwählen, mit denen das Unternehmen experimentiert hat und zu denen es Marktdaten gibt, und diese dann im größeren Maßstab umzusetzen. In unserer Arbeit geht es dann darum, Systeme zu bilden und Führungskräfte zu entwickeln, die sich in der alten wie der neuen Welt gleichermaßen zurechtfinden.

Denn irgendwann investieren die Führungskräfte statt in das Experimentieren in die tatsächliche Umsetzung, in die Weiterentwicklung vom Status der Exploration hin zur Koexistenz von Exploration und Exploitation. Anhand der drei Phasen – Ideate, Incubate, Scale – betrachten wir Führung, Innovation und Ambidextrie in etablierten Firmen detaillierter.

ZOE: Sie sprechen immer davon, wie wichtig die Unternehmensleitung bei diesem Thema ist. Was ist in der Black Box? Bitte erzählen Sie uns etwas zu den Praktiken, die dabei helfen, mit den grundlegenden Paradoxien an der Spitze umzugehen?

Tushman: Wir haben festgestellt: Wenn von einer Unternehmensleitung verlangt wird, dass sie mit Widersprüchlichkeiten und Paradoxien zurechtzukommen hat, ist es sehr wichtig, dass die leitende Führungskraft und ihr Team in der Lage sind, die Identität des Unternehmens auszudrücken und sich ihr entsprechend zu verhalten. Was ist die Zielsetzung der Firma? Warum gibt es sie? Diese Auffassung von Unternehmensidentität macht Leidenschaft und Emotion zu entscheidenden Führungseigenschaften. In unseren Augen ist die Identität der Firma noch wesentlicher als ihre Strategie.

Nehmen wir zum Beispiel das Boston Children’s Hospital (BCH), das sowohl innovativ als auch effizient bei der medizinischen Versorgung von Kindern ist. Wie Sandy Fenwick, CEO von BCH, formuliert, markiert der Satz «until every child is well» die Identität dieser Organisation. Dieses Bestreben ist nicht die Strategie des BCH, sondern beschreibt so etwas wie den Nordstern, den emotionalen Anker. Wenn also ein Kind in das Krankenhaus kommt, erfährt es eine umfassende Behandlung. Die Fachleute behandeln den jungen Patienten ganzheitlich, nicht allein aus der Perspektive ihrer jeweiligen Disziplin heraus. Diese Hingabe haben Fenwick und ihr Team im ganzen Krankenhaus etabliert.

Ich erlebe oft abwehrende Reaktionen, wenn ich Unternehmensleitern Fragen stelle, die auf die Identität abzielen. Was ist Ihr Unternehmen? Wer sind Sie und was tun Sie? Was ist die Identität Ihrer Firma? Die Leidenschaft beziehungsweise Identität ist ein sehr wichtiger Kontext. Er hilft Führungsetagen und Unternehmen zu begreifen, warum sie sich mit Widersprüchen beschäftigen müssen. Über Identität und Leidenschaft hinaus müssen Führungsspitzen in ihrem Team Prozesse anlegen für den Umgang mit Widersprüchen. Wir haben festgestellt, dass es dafür zwei Wege gibt: Bei dem einen bildet die Führungskraft selbst die Mitte und sie oder er erledigt die gesamte Integration, bearbeitet die Widersprüchlichkeit also individuell. Das war anfangs bei Analog Devices der Fall, mit Ray Stata als Ambidextrie-Manager.

Die andere Herangehensweise, die in meinen Augen viel wirksamer und stabiler ist, besteht darin, dem Führungsteam beizubringen, wie man mit Konflikten und Spannungen umgeht und aus den augenscheinlich unvereinbaren strategischen Anforderungen Vorteile zieht. Wir arbeiten mit Führungsteams an ihren teaminternen Prozessen, so dass sie in die Lage versetzt werden, effektiv mit Widersprüchlichkeit umzugehen.

Und falls Mitglieder des Führungsteams nicht kooperieren, sich also nicht so verhalten, dass es eine Win-win-Situation für die ambidextre Strategie ist – dann muss man sie auffordern, entweder ihr Verhalten anzupassen oder zu gehen. Das aktive Managen des Führungsteams, das einheitlich am selben Strang zieht, ist entscheidend, wenn es darum geht, die Identität des Unternehmens und seine ambidextre Strategie mit Leben zu füllen.

In jüngerer Zeit haben Ryan Raffaeli, Mary Ann Glynn und ich aufgezeigt, dass Teams, die es nicht schaffen, Ambidextrie zu managen, häufig ihren kognitiven Horizont einschränken und sich nur um ihre traditionellen Konkurrenzumfelder kümmern. Im Gegensatz dazu haben wir gezeigt, dass erfolgreichere ambidextre Führungsteams ihre Gedankenwelt erweitern und sich mit potenziell andersartigen Konkurrenzumfeldern befassen. Die Pflanzenschutzabteilung von Ciba beispielsweise schaffte es, ihr Konkurrenzumfeld auszuweiten und grundverschiedene Potenziale im Dienst der Mission «keeping plants healthy» unter einem Dach zusammenzubringen. Man war in der Lage, sich für Chemie und Biologie zu begeistern und zu begreifen, dass die Wettbewerber im Umfeld des molekularbiologischen Pflanzenschutzes völlig anders sind als jene im Umfeld der Chemie. Die Identität des Unternehmens wurde von der Chemie entkoppelt. Ein weiterer Punkt ist also, dem Führungsteam dabei zu helfen, seine strategischen Rahmen zu erweitern, damit es klügere strategische und unternehmerische Maßnahmen treffen kann.

ZOE: Es soll also den Rahmen erweitern und zugleich die verschiedenen Aspekte zusammenführen, um zu einer Entscheidung zu gelangen?

Tushman: Ja, genau. Es geht darum, den Rahmen zu erweitern, der durch eine umfassende Identität zusammengehalten wird.

ZOE: Ambidextrie kann auch riskant sein, weil man eine Menge Ressourcen in die Exploration stecken muss. Wie begegnen Sie CEO, die erst davon überzeugt werden müssen, in Exploration zu investieren oder ambidexter zu werden, statt nur kurzfristig zu denken?

Tushman: Das ist eine weitere sehr gute Frage. Dies kommt vor allem in kleinen und mittelgroßen Firmen vor, denen keine überschüssigen Ressourcen für Exploration zur Verfügung stehen. Worauf ich hinaus will: Ich kann nur sagen, dass die Zukunft nicht in der Exploitation liegt. Lediglich das Kerngeschäft aufzubauen, wird nicht genug sein in einer Welt der künstlichen Intelligenz, des Digitalen, der Offenheit, der Ökosysteme. Man sollte tunlichst herausfinden, wie man weiterhin das Kerngeschäft verfolgen und gleichzeitig Exploration forcieren kann. Eine kleine oder mittelgroße Firma kann Exploration auch mithilfe von Bündnissen, Joint Ventures oder Partnerschaften betreiben.

„Lediglich das Kerngeschäft aufzubauen, wird nicht genug sein in einer Welt der künstlichen Intelligenz, des Digitalen, der Offenheit, der Ökosysteme. Man sollte tunlichst herausfinden, wie man weiterhin das Kerngeschäft verfolgen und gleichzeitig Exploration forcieren kann.”

Sehen wir uns beispielsweise Moleskin an. Sie haben seit jeher Papier-Notizbücher gemacht. Wenn sie nun ein digitales Notizbuch machen wollen, kostet das eine Menge Geld, so viel steht fest. Das funktioniert auf gar keinen Fall auf sich allein gestellt. Also hat sich das Unternehmen mit Livescribe beziehungsweise Evernote zusammengetan, um sein klassisches Notizbuch in die digitale Online-Welt zu überführen. Das Managen von Ambidextrie kann organisch stattfinden, aber wenn man es sich alleine nicht leisten kann, sollte man überlegen, wie man Exploration durch Bündnisse, Joint Ventures oder Partnerschaften umsetzt.

ZOE: In unserem Gespräch geht es immer wieder um Unternehmenskultur und wie diese Innovation und Wandel blockiert oder auch antreibt. Wie denken Sie nach all Ihren Studien über die Kultur in Teams und Unternehmen?

Tushman: Die Hauptverursacherin von Unbeweglichkeit in etablierten Unternehmen ist die Kultur. Die Unternehmenskultur ist die wesentlichste Ursache, die erfolgreicher Ambidextrie im Weg steht. Bei Lululemon beispielsweise herrschte anfangs eine Kultur, die Systeme und definierte Abläufe ablehnte. Um jedoch einen breiteren Markt zu erobern, musste das Unternehmen seine Kultur grundlegend dahingehend ändern, dass sowohl Flexibilität als auch Effizienz gewürdigt werden. Oder nehmen wir die Harvard Business School: Da hatten wir eine Kultur, die auf der Fallstudienmethode basierte. Würden der Dekan und erfahrene Fakultätsangehörige das nicht aktiv managen, würde diese wunderbare Fallkultur die zügige Implementierung von Online-Unterricht behindern. Nun herrscht an der HBS eine Kultur, die das Experimentieren mit digitalen Werkzeugen akzeptiert, während wir zugleich unsere auf Vor-Ort-Kontakt basierenden Lehrmethoden weiter optimieren. Die größte Beharrungskraft in einem erfolgreichen Unternehmen ist die Kultur, die es stolz mit der Vergangenheit verbindet.

In meinen Augen besteht die größte Herausforderung für Führungsteams darin, Unternehmen aufzubauen, die zugleich komplett unterschiedliche und innerlich widersprüchliche Kulturen in sich bergen können. Aus diesem Grund plädieren Charles und ich für strukturelle Trennung. Man kann neue Triebe nur hochpäppeln, wenn man sie vom ausgewachsenen Baum trennt. Das Führungsteam muss sich um diese widersprüchlichen Kulturen kümmern. Aber wenn man erfolgreich expandieren möchte, braucht man einen kulturellen Wandel im Unternehmen.

Das grundlegende Anliegen an Führungskräfte ist erstens: Können sie Unternehmen aufbauen mit innerlich widersprüchlichen Kulturen? Und zweitens: Schaffen sie es, dass diese Kulturen als Teile ein und derselben Identität bestehen können, so wie bei Cibas Pflanzenschutz – «We’re here to keep plants healthy». Deshalb ist diese Sache mit der Identität – wer wir sind, was wir tun? – so elementar, denn sie erlaubt ein Narrativ, dass diese vielfachen widersprüchlichen Kulturen Teil einer übergreifenden Sinnhaftigkeit sind.

Über diese innerlich widersprüchlichen Kulturen hinaus gibt es eine Reihe zentraler Werte, die in beiden Kulturen dieselben sind, etwa Integrität, Kundennähe, Qualität oder was auch immer es gerade sein mag. Es gibt ein paar Dinge, die über diese widersprüchlichen Kulturen hinweg gleich sind.

ZOE: Wie entwickeln diese Werte die Stärke und integrative Kraft, die Sie für ein erfolgreiches ambidextres Unternehmen als notwendig beschreiben, um die unterschiedlichen Logiken und Kulturen tatsächlich verbinden zu können – und nicht nur um auf einer PowerPoint-Folie zu enden?

Tushman: Letzten Endes werden ambidextre Entwürfe nicht über Präsentationen und PowerPoint-Folien realisiert. Führungskräfte und Führungsteams setzen sie um, wenn sie sich über die Unternehmensidentität im Klaren sind und die Ressourcen aufbauen, um sowohl heute als auch morgen zu gewinnen. Wie besprochen, sind ambidextre Strukturen einfach zu platzieren, Verknüpfungsmechanismen ebenso. Der eine entscheidende Faktor, der zwischen Erfolg und Scheitern entscheidet, ist die Fähigkeit der Führungskraft und ihres Teams, sich auf Widersprüche und Paradoxien einzulassen. Diese Kompetenz, mit Widersprüchlichkeit d’accord und konsequent inkonsistent zu sein, macht die erfolgreichsten ambidextren Unternehmen aus.

Führungsfähigkeiten definieren also den Unterschied zwischen PowerPoint-Folien und Umsetzung. Aber anders als bei typischen, Beständigkeit verlangenden Führungsansätzen fordern wir Führungskräfte dazu auf, Widersprüchlichkeit und Paradoxe zu bejahen und dem Unternehmen eine Identität zu geben, die diese Widersprüchlichkeit in sich tragen kann.

ZOE: Vielen Dank für diese interessante Unterhaltung.

Dieses Interview wurde geführt, bevor die Coronavirus-Pandemie unsere Welt verändert hat. Durch die unternehmerische und gesellschaftliche Krise in Zusammenhang mit dieser Pandemie kommt Führungskräften und der aktiven Führung durch Krisenzeiten aktuell eine noch bedeutendere Rolle zu. Zudem wird die Notwendigkeit persönlicher Neuausrichtung dringlicher — die Notwendigkeit, in Krisenzeiten grundlegend anders zu führen, als unter krisenfreien Bedingungen. Wir erleben gerade einen exogenen Schock. Die Führungsprinzipien, die in stabileren Kontexten funktionieren, werden in diesem Kontext nicht wirken. Die im vorliegenden Interview diskutierte Bedeutung von Führung und Organisationsgefügen wächst.

Prof. Michael L. Tushman
ist ein US-amerikanischer Organisationstheoretiker, Managementberater und Professor für Business Administration an der Harvard Business School. Er ist bekannt für seine frühe Arbeit mit David A. Nadler zu Organisationsgestaltung sowie seine spätere Arbeit zu disruptiver Innovation, «Organizational Environments» und «Organizational Evolution». Michael L. Tushman ist Mitgründer und Geschäftsführer der Beraterfirma Change Logic mit Sitz in Boston, USA. Sein jüngstes Buch «Lead and Disrupt: Solving the Innovator’s Dilemma», hat Tushman gemeinsam mit Charles O’Reilly veröffentlicht. Darin beschreiben die Autoren, wie Firmen innerhalb bestehender Unternehmen neue aufbauen und so die Schwerfälligkeit überwinden können, die das vorzeitige Scheitern vieler Firmen bedingt.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Beitrag in der Ausgabe 4/2020 der ZOE, den wir Ihnen hier exklusiv kostenlos zur Verfügung stellen.


Sie wollen Jubel

Ein Gespräch

Michael Sommer war viele Jahre Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Ein Gespräch über Führungskultur, Straßenbahnen und den Mut, die eigene Fakesness zu erkennen.

ZOE: Herr Sommer, sicher haben Sie in Ihrer Rolle als Vertreter der Arbeitnehmerschaft in den Jahrzehnten Ihrer Tätigkeit häufiger erlebt, dass Wandel zwar vollmundig versprochen, aber nicht eingelöst wurde.

Sommer: Ja, das habe ich oft erlebt. Es beginnt mit dem Phänomen, dass der öffentliche Auftritt vom Management nach außen und die Unternehmenskultur nach innen völlig auseinanderfallen. Das hat auch mit Führung zu tun.

ZOE: Wie verändert man denn Führungskultur?

Sommer: Die Frage, ob sich Führungskultur verändert oder nicht, hat nichts damit zu tun, dass sie jetzt den Schlips weglassen oder Turnschuhe tragen. Das hat mit der inneren Haltung zu tun. Und ich sehe in vielen Teilen des deutschen Managements nicht, dass sich die innere Haltung verändert hat. Im Gegenteil. Es geht oft immer noch nach Befehl und Gehorsam und nach dem Motto, wir bezahlen und du hast zu tun, was wir sagen. Was wir dagegen dringend brauchen, ist ein kooperativer Führungsstil und die Bereitschaft, tatsächlich in Kommunikation zu treten. Und auch mal einzugestehen: Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe mich geirrt. Dieser Anschein von Fehlerlosigkeit ist wirklich ein Problem. Im richtigen Moment zuzugeben, dass Sie einen Fehler gemacht haben, ist das Beste, was Sie machen können. Denn normalerweise tun ja alle so, als würden sie immer alles richtig machen. Als ob man es schon immer gewusst hat und schon immer auf der Straße der Sieger war. Diese Kultur des Vorspiegelns von etwas, das nicht ist, dieses Nichtakzeptieren von Mannschaftsspiel, aber auch diese mangelnde Klarstellung von Spielregeln ist vielerorts gang und gäbe. Was man häufig erlebt ist dieses Gerede über Diskussionen und Debatten, obwohl viele Topmanager nur Bestätigung und Zustimmung wollen. Viele wollen Jubel und Bewunderung. Sie wollen als große Unternehmensführer gefeiert werden und sind dabei doch ziemlich empfindlich – wenigstens da also zutiefst menschlich.

ZOE: Wenn oben einer steht, der nur gelobt werden will: Ist es da überhaupt opportun, Wahrhaftigkeit in den Wandel zu bringen? Wenn dort erzählt wird, was wirklich ist, wird man doch schnell einen Kopf kürzer gemacht?

Sommer: Ja klar. In dem Moment, wo man in einem ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis ist, ja. Das geht in meiner Erfahrung so weit, dass sogar Aufsichtsräte bevormundet werden. In der täglichen Arbeit gibt’s für Ehrlichkeit, auch von Aufsichtsräten oft: Patsch, Patsch, Patsch.

“Was wir dringend brauchen, ist ein kooperativer Führungsstil und die Bereitschaft, tatsächlich in Kommunikation zu treten. Und auch mal einzugestehen: Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe mich geirrt.”

ZOE: Und da spüren Sie dann, dass alles nur Fassade war?

Sommer: Ja, oft werden schon die Fragen zensiert. Ein Höhepunkt von Fake war für mich eine 360 Grad-Beurteilung. Ich bekam einen Fragebogen von einem Unternehmensberater, mit dem eine wichtige Führungskraft beurteilt werden sollte. Ich dachte, wer den ehrlich ausfüllt, der bekommt sowieso Ärger. Entweder ist er ihm untergeben, dann bekommt er direkt Ärger mit ihm, oder er ist über ihm, dann schreibt er natürlich nichts Schlechtes, weil er die Pfeife ja eingestellt hat. Und dann noch die weiteren Perspektiven der 360 Grad-Beobachtung: Kunden, Verkäufer und so weiter. Da finde ich ja das System von Amazon noch besser, da braucht man nur noch anklicken… zufrieden oder nicht. (lacht)

ZOE: Dort, wo Ehrlichkeit geschaffen werden soll, passiert genau das Gegenteil?

Sommer: Genau. Auch, weil es ein Multiple Choice-Verfahren ist. Es fehlt das Vertrauen, dass solche Bögen dem Ziel dienen, jemandem ehrliche Hinweise für Verhaltensänderungen zu geben. Ich habe immer den Eindruck, das wird abgehakt. So wie viele dieser jährlichen Beurteilungsgespräche. Da habe ich immer gern gesagt: «So, jetzt füllen wir erstmal den Bogen aus und dann unterhalten wir uns richtig.»

ZOE: Aber gehört die Show nicht zum Geschäft?

Sommer: Es gibt neuerdings die Idee, dass man nicht mehr einfach sagt, was man macht, sondern man muss es erzählen. Man muss Narrative aufbauen, es muss eine Story her. Da ist, glaube ich, sehr viel Einfluss von einer angelsächsischen Kultur dahinter, die eher auf einer Show-Ebene stattfindet als auf einer Wahrheitsebene.

ZOE: Ist denn diese Show glaubwürdig? Wer braucht Märchenstunden?

Sommer: Nein, das ist oft nicht glaubwürdig, aber die Beteiligten wollen die Show. Das beginnt bei der Neigung, alles besser darzustellen, als es ist und endet bei den Menschen, die Titel tragen, die signalisieren, dass sie mehr sind als sie eigentlich sind. Als ich das erste Mal in den achtziger Jahren in den USA war, habe ich nur gestaunt, wie vielen Vice-Präsidenten ich begegnet bin, bis ich mitbekommen habe…

ZOE: … dass das kein besonderer Titel ist.

Sommer: Ja. Und dann wurde hier in Deutschland ja auch aus der Kraftfahrzeugtechnik das Fuhrpark-Management, aus dem Hausmeister der Facility Manager. Das entspricht natürlich ein Stück weit der menschlichen Neigung, sich besser und höher darzustellen als man ist und sich so einen Wert zu geben. Das hat auch sehr viel damit zu tun, dass der eigentliche, wahre Wert von Arbeit nicht wirklich anerkannt wird. Als ich 2002 DGB-Vorsitzender wurde, hatte ich ein Interview mit der der Zeit. Die Journalistin sagte zu mir: Wenn Sie jetzt darüber nachdenken, wo kann man denn noch zusätzlich Arbeit schaffen? Das war ja damals in einer Zeit hoher Massenarbeitslosigkeit. Da habe ich gesagt: Wir haben mit Sicherheit einen unglaublichen Bedarf an Arbeit an und mit Menschen. Da sieht sie mich an und sagt: Ach so, Sie meinen also einfache Arbeit. Ich sage: Wissen Sie was, Altenpflege ist keine einfache Arbeit. Daran sieht man natürlich, dass diese Art von Arbeit wenig Ansehen hat. Es gilt heute etwas, wenn Sie ein Messingschild vor sich hinstellen, auf dem «Associated Deputy Director» steht, auch wenn Sie nur am Emfang sitzen.


Michael Sommer – Biografie

Michael Sommer war von 2002 bis 2014 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes und von 2010 bis 2014 Vorsitzender des Internationalen Gewerkschaftsbundes. Seit Beendigung seiner DGB-Karriere, ist er Stellvertretender Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie Vorsitzender des Investitionsausschusses des Verwaltungsrates des Zweiten Deutschen Fernsehens und Mitglied des internationalen Nachhaltigkeitsbeirats der Volkswagen AG.


ZOE: Viele Jahrzehnte war es Ihre Aufgabe, trennscharf zwischen Wahrheit und Show zu unterscheiden. Wie funktioniert das bei Ihnen? Haben Sie einen Bullshit-Detektor?

Sommer: Ich merke es schon am übertriebenen Auftreten. Mir sind Menschen lieber, die argumentieren, die in Austausch gehen, wo man genau weiß, sie setzen sich auseinander. Aber auch die darf man nie unterschätzen, denn man sollte Lautstärke und Durchsetzungskraft nie miteinander verwechseln. Ein weiterer Hinweis ist, wenn unglaublich viel Wortgeklingel um Sachen gemacht wird. Oft wird man hellhörig, wenn es nur noch um die höchsten Sphären von irgendwelchen Strategien geht. Man geht im Übrigen nie strategisch Pleite, sondern nur operativ. Je mehr Wolken, desto vorsichtiger muss man sein. Wenn rumschwadroniert wird um den Kern. Wenn sie im wahrsten Sinne des Wortes argumentieren wie ein Spiralnebel, nur damit man nicht merkt, dass in der Milchstraße nichts ist außer einem schwarzen Loch. Brecht hat mal gesagt, «die Wahrheit ist immer konkret, der Imperialismus hat Namen und Hausnummer». Da ist was dran: Wahrhaftiges kann man immer auch direkt sagen. Für mich sind die großen Charts in Aufsichtsräten oder Vorstandssitzungen der Unternehmen immer ein Höhepunkt. Man muss oft sehr genau hinschauen, was wirklich draufsteht, weil: Die eigentliche Botschaft steht meist in der untersten Zeile oder in der drittletzten Zeile unten rechts.

ZOE: Das grenzt doch an Manipulation, oder?

Sommer: Früher hat man Unternehmensstrategien in Fließtexten formuliert. Da wurde auch viel versteckt in der Anlage 35. Aber das wurde dann abgelöst durch diese angelsächsische Tradition der Charts.

ZOE: Powerpoint.

Sommer: Der Kern ist immer derselbe. Es wird eine Logik vorgegaukelt, die nicht da ist; die Wahrheit wird nur verschlüsselt transportiert und vieles wird schlicht und ergreifend verschleiert. Ab 20 Charts sollte man wirklich aufpassen. Ab 25 kann man damit rechnen, übers Ohr gehauen zu werden. Ab 60 wird man übers Ohr gehauen. Ab 100 wird man für dumm verkauft. Ich habe es häufig erlebt, dass dieses Mittel benutzt wird, um Manipulation zu transportieren, nicht Information.

ZOE: Merken die Menschen im Unternehmen denn, dass sie manipuliert werden?

Sommer: Nicht immer – weil das Ganze gut gemacht und als alternativlos dargestellt wird. Oder schauen Sie auf das Phänomen der Entpersonalisierung, das schon bei Dolf Sternberger gezeigt wird. Es beschreibt, wie man mit Sprache passiviert und entpersonalisiert. Wenn Sie immer passiv und generalisiert, also mit «man» formulieren, dann ist es schwer, Verantwortung festzumachen. Im Verwaltungshandeln spielt das eine große Rolle. Und das findet auf höherer Ebene dann mit Folien statt: «Man hat entschieden, dass Menschen entlassen werden». Das sind klassische Mechanismen, die von Führungskräften genutzt werden.

ZOE: Wie deprimierend. Sind die Menschen denn nicht aufgeklärter und wahrhaftiger geworden in den Unternehmen?

Sommer: Es gibt zwei Führungsstile, den kommunikativen und den befehlenden. Der befehlende bedient sich gerne des Manipulativen. Der kommunikative auch. Natürlich bewegen wir uns langsam weg von diesem altmodischen Befehl-und- Gehorsam-Stil. Aber Vorsicht: Bloß weil sich der Chef kollegial zeigt, bedeutet das nicht, dass er sich vom Modell Alleinherrscher verabschiedet hat.

ZOE: Trotz der Turnschuhe wird also vieles im Hinterzimmer gedealt. Was ist denn mit der überall proklamierten Hinwendung zum kommunikativeren Führen?

Sommer: Meistens leider nicht viel. Wenn, dann gibt es eine Hinwendung zu einer kommunikativeren Verpackung. Kommunikatives Führen setzt ja voraus, dass ich bereit bin, andere Meinungen ernst zu nehmen, meine eigene Entscheidung in Frage zu stellen, zu überdenken, zu überprüfen, möglicherweise auch zu verändern. Darum geht es aber oftmals in der Realität gar nicht. Sondern es geht darum, die bereits gefundene, eigene Entscheidung kommunikativ durchzusetzen.

ZOE: Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in diesem Zusammenhang?

Sommer: Zunächst einmal: Gewerkschaftler sind nicht per se die besseren Menschen. Über unsere eigenen Schwächen könn- te ich Ihnen auch ein ganzes Interview geben. Dennoch: Die Gewerkschaft ist die Organisation der Arbeit. In Wahrheit sind wir vor allem die Organisation zur Durchsetzung von Mitgliederinteressen. Die erste Aufgabe von Gewerkschaften ist es, dafür zu sorgen, dass ihre Mitglieder nicht unter die Räder kommen. Hinzu kommt der gesellschaftspolitische Anspruch, denn wir arbeiten sowohl gesellschafts- als auch betriebspolitisch. Beispielweise kämpfen wir um Standorte in Deutschland auch deshalb, weil wir wissen: Wenn die Unternehmensentscheidungen nicht mehr in Deutschland, sondern in den USA fallen, fallen sie unter anderen Kriterien als in Deutschland. Gleichzeitig haben wir eine ziemlich interne Sicht auf die Menschen in den Unternehmen, die zu uns kommen und Dinge erzählen, die sie bei ihren Chefs nicht loswerden.

ZOE: Ist das die wahrhaftigere Perspektive auf das Unternehmen?

Sommer: Ich bin immer wieder überrascht, wie genau Gewerkschaftler wissen, was in den Unternehmen los ist.

ZOE: Was bedeutet das für organisationalen Wandel?

Sommer: Gewerkschaftler beobachten Wandel genauer als das meist angenommen wird. Ein Beispiel: Mein ehemaliger Chef bezeichnete die Reaktion des Managements auf Veränderungsansagen immer als «Straßenbahnsyndrom». Als es noch Schaffner in den Straßenbahnen gab, kam der Schaffner und bat die Fahrgäste darum, nach hinten durchzutreten. Was die Leute aber getan haben, ist, so zu tun, als ob sie sich nach hinten bewegten, obwohl sie nur auf der Stelle traten. Ein klassisches Syndrom; das gibt es immer wieder. Auch bei Umstrukturierungen wird oft so getan als ob, ohne dass die wirklich durchgreifenden Veränderungen tatsächlich stattfinden. Dann kommen die Widerstände. Das hat viel mit eigener Angst vor Veränderung zu tun. Das Verrückte ist, dass Beharrungskräfte dort stark sind, wo eigentlich die meiste Veränderungsenergie sein müsste, im Mittleren Management. Diese mittlere Lehmschicht, die sozusagen die Osmose nur nach unten betreibt, sie aber nie nach oben weitergibt, sorgt dafür, dass sich nichts verändert. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum viele Unternehmen jede Umstrukturierung überstehen, sich aber nicht wirklich verändern.

ZOE: Ist das nicht auch funktional? Das mittlere Management hat doch auch die Aufgabe, die Produktion vor dem Unsinn zu schützen, der von oben kommt?

Sommer: Ja, zum Teil stimmt das. Zu einem anderen Teil aber ist sie auch sich selbst schützend. Das sind oft Systeme, die sich mit sich selbst befassen und trotzdem denken, sie hätten unglaublich viel Arbeit. Das ist alles ziemlich selbstreferenziell.

ZOE: Echokammern, in denen Systeme nur sich selbst hören …

Sommer: Auch eines der großen Probleme unserer Art von Kommunikation heute. Systeme, die mit sich selbst arbeiten. Die nicht mehr mit ihren Kunden sprechen, sondern nur mit sich selbst. Die sich selbst als Maßstab haben.

ZOE: Wie kann man sich dagegen schützen?

Sommer: Entscheidend sind Counterparts, die einem ab und zu die Wahrheit sagen. Wichtig ist, immer wieder an die Wurzeln, an seine Basis zu gehen. Dass Sie sich auch wirklich ernsthaft einer Diskussion stellen mit Kunden, Mitgliedern, Beschäftigten. Indem Sie offene Kommunikation zulassen und nicht nur so tun als ob Sie kommunizieren. Und indem Sie wirklich lernen, es zu machen, statt darüber zu sprechen. Mir hat mal ein sehr guter Kollege gesagt: Am Anfang von jeder Veränderung steht die Bitternis der Analyse. Eine ehrliche, deutliche Analyse. Die nicht sagt, wie ich mich sehen möchte, sondern die sagt, wie ich bin. Die Frage ist: Wie bekomme ich eine gute Erdung in meine Arbeit, in mein Leben? Über zwei Mechanismen. Erstens über die Fähigkeit zur inneren Selbstkritik ohne Selbstlügen. Eine Selbstkritik, die die Bereitschaft mit sich bringt, Konsequenzen zu ziehen. Und zweitens: Indem ich tatsächlich immer wieder versuche, mich der Bitternis der Analyse der äußeren Wirklichkeit zu stellen. Ich würde jeder Führungskraft den Rat geben, in sich selbst reinzuhorchen, sich nicht selbst zu belügen. Eine der schlimmsten Sachen ist es, wenn Sie anfangen, sich selbst zu belügen. Und wenn Sie dann noch Mechanismen aufbauen, wie Sie am besten von anderen belogen werden.

ZOE: Damit sind wir bei der inneren Wahrhaftigkeit angekommen. Wie funktioniert der Fake auf der Personenebene?

Sommer: Mit Selbstbestechung. Wenn Sie sehen, dass Sie Erfolg haben, dann vernachlässigen Sie die Kehrseite Ihres Erfolges. Sie brauchen einen relativ festen Maßstab dafür, für sich selbst sagen zu können: Das ist gut oder das ist schlecht, das bin ich oder das bin ich nicht. Bin ich wirklich weitergekommen, ja oder nein? Ich glaube, dass der Fake tatsächlich im Inneren anfängt. Und sich dann nach außen überträgt. Nicht umgekehrt.

“Wenn Sie sehen, dass Sie Erfolg haben, dann vernachlässigen Sie die Kehrseite Ihres Erfolges. Sie brauchen einen relativ festen Maßstab dafür, für sich selbst sagen zu können: Das ist gut oder das ist schlecht, das bin ich oder das bin ich nicht.”

ZOE: Jetzt sind wir beim Thema Lebenslügen, oder?

Sommer: Ein bisschen. Das Thema Burnout, ist, glaube ich, ein klassisches Beispiel dafür. Burnout ist eine echte Krankheit, die nicht bagatellisiert werden darf. Menschen flüchten in sich hinein, weil sie subjektiv gesehen versagt haben. Oder aber tatsächlich verbrannt sind, weil sie die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit nicht erkannt haben. Es gibt ja beide Varianten. Beide haben aber eines gemeinsam: Sie sagen sich selbst nicht die – schmerzhafte – Wahrheit.

ZOE: Ein Satz wie: Ich kann das hier nicht mehr, ich bin hier überfordert.

Sommer: Ja. Oder: Ich kann das nicht, ich muss da nochmal lernen, oder ich brauche nochmal einen Tag zum Nachdenken.

ZOE: Solche Sätze lernt man aber nicht in der Business School.

Sommer: Da war ich ja nie, aber ich vermute nicht. Gefährlich wird es, wenn der eigene Fake nach außen erfolgreich ist.

ZOE: Dann wird das eigene Narrativ zur subjektiven Wirklichkeit.

Sommer: Genau. Ich glaube, dass diejenigen am stärksten sind, die sich am wenigsten selbst täuschen. Alles beginnt mit dem Glauben an sich selbst und der Fähigkeit, sich nicht selbst zu belügen. Und damit, zu diesem Glauben zu stehen, zur eigenen Persönlichkeit zu stehen. Und mit dem Versuch, die eigenen Stärken und Schwächen zu kennen und mit beiden gut zu leben.

ZOE: Herr Sommer, wir danken Ihnen für dieses inspirierende Gespräch. 


 

Das Gespräch führte: Prof. Dr. Heiko Roehl,
ZOE-Redakteur sowie Geschäftsführender Gesellschafter Kessel & Kessel GmbH


Technologiebedingten Wandel meistern

Change-Ansätze zur Reduzierung von Technostress

In modernen Arbeitswelten werden zunehmend arbeitsplatzbezogene digitale Technologien eingesetzt. Wenngleich dies zahlreiche Chancen bietet, kann es auch negative Folgen für die Gesundheit von Mitarbeitenden haben. Diese Herausforderungen werden durch die aktuelle Corona-Krise für viele Unternehmen noch verschärft. Stress, der direkt oder indirekt durch den Einsatz von Technologien entsteht, wird als «Technostress» bezeichnet. Wichtige Hebel zu dessen Vermeidung umfassen die Gestaltung von Technologien sowie die Berücksichtigung verschiedener individueller und situativer Faktoren im Rahmen technologischer Veränderungsprozesse.

Die digitale Transformation verändert auf vielfältige Art die Kommunikations- und Informationsflüsse in modernen Arbeitswelten. IT-basierte Innovationen, wie beispielsweise digitale Kollaborationslösungen, erlauben die räumlichen und zeitlichen Grenzen in der Zusammenarbeit zu überbrücken. Die Möglichkeit jederzeit online – und damit verfügbar – zu sein, führt zu einer starken Beschleunigung der Lebens- und Arbeitsrhythmen. Besonders durch die Corona-Krise sind viele Unternehmen aktuell auf digitale Technologien für die Zusammenarbeit angewiesen.

Die zunehmende Durchdringung von Privat- und Berufsleben mit digitalen Technologien kann allerdings ein ungesundes Stresserleben mit sich bringen (z. B. Riedl et al. 2012). Unter Technostress werden die direkten und indirekten negativen Auswirkungen von Technologien auf die physische und mentale Gesundheit zusammengefasst.

Technostress wird in durch die Digitalisierung ausgelösten Veränderungsprozessen zunehmend relevant (bspw. Jager, Rauch, Thiemann & Kaiser 2019). So geben 37 Prozent der in der Studie befragten Mitarbeitenden und Führungskräfte an, dass der Arbeitsdruck durch den Einsatz digitaler Technologien gestiegen ist. 66 Prozent aller Befragten erleben eine deutliche Zunahme der zu verarbeitenden Informationsmenge und für 60 Prozent der Führungskräfte verschwimmt die Grenze zwischen Beruf und Privatleben immer stärker. Derartige Entwicklungen stellen das Change Management vor neue Herausforderungen.

Das Phänomen Technostress

Der Begriff Technostress wurde in den 80-er Jahren eingeführt (Brod 1984) und seitdem konzeptionell weiterentwickelt. Auf Basis einiger Forschungsarbeiten können verschiedene Aspekte von Technostress sowie deren Folgen identifiziert werden (z. B. Ayyagari et al. 2011; Gimpel et al. 2018; Tarafdar et al. 2019).

Die grundlegende Idee des Modells ist, dass es spezifische technologiebedingte Stressfaktoren gibt, die im Rahmen von technologischen Veränderungen im Unternehmen zu Technostress führen können. Ob es jedoch zu Technostress und dessen Folgen kommt, hängt vom Wechselspiel verschiedener Faktoren auf situativer und individueller Ebene sowie den Charakteristika der eingesetzten Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) ab.

Auf Basis der Forschungsarbeiten lassen sich fünf Faktoren identifizieren, die durch den Einsatz von Technologien Technostress erzeugen können:

1. Techno-Overload: Neue Technologien können dazu führen, dass sich Arbeitszeit und -tempo erhöhen. Dies drückt sich beispielsweise darin aus, dass Arbeitnehmer durch digitale Kanäle mit Informationen «überflutet» werden oder sich die Arbeit verdichtet.
2. Techno-Invasion: Die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben können durch den Einsatz neuer Technologien zunehmend verschwimmen. Ein wichtiger Aspekt ist hierbei die potenzielle ständige Erreichbarkeit über digitale Kanäle auch außerhalb der Arbeitszeiten.
3. Techno-Complexity: Technologien können einen hohen Komplexitätsgrad mit sich bringen. Dadurch kann beim Mitarbeitenden das Gefühl entstehen, nicht ausreichend qualifiziert zu sein, um technologiebedingte Herausforderungen zu meistern. Dies erhöht wiederum den Druck, sich ständig verbessern zu müssen.
4. Techno-Insecurity: Mitarbeitende können dadurch Stress erleben, dass sie ihren Arbeitsplatz bedroht sehen. Dies kann z. B. aufgrund von Automatisierungsprozessen der Fall sein oder durch das Gefühl, dass es Menschen gibt, die ein besseres Verständnis für neue Technologien aufweisen und einen ersetzen.
5. Techno-Unreliability: Technologien können aufgrund von Systemstörungen oder Anwendungsproblemen als unzuverlässig erlebt werden und damit potenziell Stress auslösen.

Verschiedene Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass Technostress zum einen arbeitsplatzbezogene Folgen haben kann, wie beispielsweise eine mangelnde Arbeitszufriedenheit, mangelndes organisatorisches Engagement und sinkende Produktivität (vgl. Tarafdar et al. 2019). Zum anderen kann die Nutzerzufriedenheit und Akzeptanz von Technologien am Arbeitsplatz sinken. Neben physischen Beschwerden wie trockene Augen und Rückenprobleme sind insbesondere die psychologischen Folgen von Technostress ein wachsendes Problem (vgl. z. B. Gimpel et al. 2018). Diese äußern sich in Erschöpfung und Belastung bis hin zum Burnout, was letztendlich lange Ausfallzeiten von Mitarbeitenden nach sich zieht (z. B. Siegrist 2018). Folglich ist Technostress sowohl wegen der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers als auch aus ökonomischen Gesichtspunkten relevant für Unternehmen.

Um die genannten gesundheitlichen Auswirkungen auf die Mitarbeitenden zu vermeiden, sollte Technostress in Veränderungsprozessen reduziert werden. Ob technologiebedingte Stressfaktoren auftreten und in welchem Ausmaß sie überhaupt zu Technostress führen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Im Wesentlichen gibt es gemäß dem skizzierten Modell drei Bereiche, in denen sich Interventionen in einem Veränderungsprozess empfehlen:

  • Charakteristika von IKT (Zuverlässigkeit, Benutzerfreundlichkeit, Mobilität, u. a.)
  • Situative Faktoren (Aufgaben, Prozesse, Umgebung im Unternehmen)
  • Individuelle Faktoren (Motivation, Fähigkeiten, u. a.)

Dabei sollten im Rahmen eines umfassenden Change Managements die Wechselwirkungen der Interventionen in den drei Bereichen berücksichtigt werden. Gemäß dem FITT-Modell (Ammenwerth et al. 2006) kann eine hohe Technologieakzeptanz nur erreicht werden, wenn alle drei Bereiche gut ineinandergreifen. So kann beispielsweise eine Technologie, obwohl sie zuverlässig und benutzerfreundlich ist (Charakteristika IKT), bei Mitarbeitenden zu Stress führen, wenn deren Fähigkeiten (individueller Faktor) diese zu bedienen fehlen oder die Technologie nicht gut zu den Arbeitsinhalten und -prozessen passt (situativer Faktor).

Vermeidung von Technostress in Veränderungsprozessen

Gestaltung technologischer Charakteristika
Das Change Management muss bei der Einführung neuer Technologien bereits frühzeitig einsetzen, um eine geeignete Gestaltung der einzuführenden Technologien zu gewährleisten, damit möglichst wenige technologiebedingte Stressoren entstehen.

Das Technology-Acceptance-Model (TAM) beschreibt mit dem wahrgenommenen Nutzen («perceived usefulness») und der wahrgenommenen Einfachheit der Bedienung («perceived ease of use») zwei Variablen für die Benutzerakzeptanz und die daraus folgende Systemnutzung von Technologie (Davis 1993). Damit sie akzeptiert werden, müssen Technologien sowohl Mehrwert für die Arbeitsleistung der Mitarbeitenden stiften als auch ein angemessenes Verhältnis von Aufwand, der durch das Erlernen des neuen Systems entsteht, und Nutzen aufweisen.

Im Change-Prozess ist es deshalb zum einen sinnvoll, Ziel und Nutzen der Technologien ausreichend zu kommunizieren. Zum anderen ist es wichtig, eine Umgebung zu schaffen, die wechselseitiges Lernen (vgl. Huchler 2016) und schnelle Fortschritte im Umgang mit der Technologie ermöglicht. Technologien sollten so gestaltet werden, dass sie die Mitarbeiterautonomie fördern (Köffer & Urbach 2016). Auch hier ist wichtig, eine lernförderliche Umgebung zu schaffen. Ähnliche Aspekte werden im neueren Konzept «Usability» aufgegriffen, welches bei der Stressvermeidung eine große Rolle spielt. Die eingesetzten Technologien sollten nützlich, nicht schwer zu bedienen und verständlich sein sowie zuverlässig funktionieren, damit Stress vermieden werden kann (Ayyagari et al. 2011). Das Task-Technology-Fit-Modell (TTF) erweitert die Ansicht des TAM-Modells um den Aspekt, dass Technologien nur dann einen positiven Einfluss auf Mitarbeitende ausüben, wenn die Funktionalität der Technologien mit den Aufgabenanforderungen übereinstimmt (Goodhue & Thompson 1995). Im Change-Prozess sollte die Gestaltung der Technologie daher bereits frühzeitig beachtet werden, damit eine mangelnde Integration in die Arbeitsabläufe nicht zum Stressfaktor wird.

Individuelle Faktoren
Die Einführung neuer Technologien wirkt sich in der Regel auf die Arbeitssituation und die damit verbundenen Anforderungen an die Mitarbeitenden aus. Damit diese Vorhaben gelingen, ist es daher wichtig, neben der Gestaltung technologischer Charakteristika auch individuelle und situative Faktoren zu berücksichtigen und eine Passung zwischen den drei Komponenten anzustreben.

Eine individuelle Ressource der Mitarbeitenden zur Vermeidung von Technostress ist eine ausreichende Technologiekompetenz. Neue Technologien erfordern meist neue Kompetenzen, die zuerst einmal aufgebaut werden müssen. Dazu gehört nicht nur, die Technologien und Software bedienen zu können. Mitarbeitende müssen auch mit den einhergehenden Themen umgehen lernen. Hierzu zählt beispielsweise die Fähigkeit, Informationen zu selektieren (Informationsvielfalt) oder sich bei ständiger Erreichbarkeit abzugrenzen. Entsprechende Weiterbildungen sind im Rahmen des Change Managements deshalb unerlässlich. Als weiteren Puffer gegen Technostress lässt sich die technologische Selbstwirksamkeit ausbauen, indem die Mitarbeitenden selber bestimmen können, wie sie die Technologien zielführend für ihre Arbeit einsetzen. Dafür empfiehlt es sich, die späteren Nutzer frühzeitig in das Veränderungsprojekt einzubeziehen und mitgestalten zu lassen. Ein weiterer möglicher Ansatzpunkt auf individueller Ebene ist die Stärkung problembezogener Copingfähigkeiten der Mitarbeitenden. Dadurch können sie auftretenden Technostress aktiv adressieren und Probleme beheben.

Situative Faktoren
Zur Vermeidung von Technostress ist die Gestaltung des betrieblichen Kontexts der Beschäftigten ein weiterer Ansatzpunkt. So ist es beispielsweise für die Mitarbeitenden wichtig, bei technologiebedingten Problemen auf kompetente und schnell verfügbare Ansprechpartner zurückgreifen zu können. Dies gilt insbesondere zu Beginn einer Implementierung von Technologien, da hier vermehrt Probleme und Unklarheiten auftreten. Eine Arbeitsplatzgestaltung, die eine ergonomische Nutzung der Technologien gewährleistet, ist ebenfalls förderlich. Diese kann sich iterativ im Rahmen der Veränderungen an die Bedürfnisse der Mitarbeitenden annähern. Darüber hinaus können klare betriebliche Regeln eine sinnvolle Basis sein, um technologiebedingen Stress zu vermeiden. Bei Kommunikationstechnologien kann beispielsweise der Stress durch ständige Erreichbarkeit reduziert werden, indem klare – für alle verbindliche – Regeln über die Verfügbarkeit außerhalb der Arbeitszeit aufgestellt werden (vgl. Thiemann, Müller & Kozica 2019).

Fazit

Ein besseres Verständnis der relevanten Einflussfaktoren und Ausprägungen des Phänomens kann Unternehmen helfen, Technostress in Veränderungsprozessen zu reduzieren und für Krisenzeiten, wie die derzeitige Corona-Pandemie, besser gewappnet zu sein. Die nutzerfreundliche Gestaltung von in die Arbeitsabläufe gut integrierten Technologien sowie die Stärkung individueller und situationaler protektiver Faktoren, sind wesentliche Hebel für Unternehmen, um negative Folgen bei der Implementierung neuer Technologien zu vermeiden. Dabei ist es wichtig, die skizzierten Gestaltungsmöglichkeiten für das Change Management im Rahmen einer guten Passung zu reflektieren und entsprechend wechselseitig aufeinander abzustimmen.

Dr. Daniel Thiemann
Akademischer Mitarbeiter und Dozent, ESB Business School, Hochschule Reutlingen

Prof. Dr. Arjan Kozica
Professor für Organisation und Leadership, ESB Business School, Hochschule Reutlingen

Prof. Dr. Petra Kneip
Professorin für Personalmanagement und Organizational Behavior, ESB Business School, Hochschule Reutlingen

Bei diesem Text handelt es sich um einen Beitrag in der Ausgabe 3/2020 der ZOE, den wir Ihnen hier exklusiv kostenlos zur Verfügung stellen.