Eindrücke statt Emissionen managen

Paradoxien im VW-Dieselskandal

Die Art und Weise, wie Organisationen oder deren Management mit Paradoxien, d. h. mit anhaltenden Widersprüchen zwischen voneinander abhängigen Anforderungen umgehen, wird oft glorifiziert. Wie der VW-Dieselskandal zeigt, haben paradoxe Versprechungen, wie z. B. die Lieferung eines schnellen, billigen und umweltfreundlichen Autos, ihre Schattenseiten und können zu fragwürdigem oder gar kriminellem Verhalten führen. Dabei spielen widersprüchliche und voneinander abhängige Ziele, die gleichzeitig schwer zu erreichen sind, eine zentrale Rolle. Dieser Artikel versteht sich als Warnung, dass Organisationen und ihre Mitglieder manchmal ihre eigene Fähigkeit überschätzen, Paradoxien erfolgreich zu managen.

Gesellschaft und Organisationen verändern sich unter dem Druck neuer Technologien, Krisen und komplexer Umweltbedingungen, was paradoxe Herausforderungen mit sich bringt: kurzfristige und langfristige Ziele, soziale und wirtschaftliche Ziele, Wandel und Stabilität. Solche Paradoxien werden zunehmend zu einem integralen Merkmal von Organisationen und stellen eine Herausforderung für Management- und Organisationswissenschaftler*innen sowie -praktiker*innen dar. Organisationen, die sich nicht für ein Entweder-oder entscheiden, sondern einen Sowohl-als-auch-Ansatz im Umgang mit Paradoxien verfolgen, sind in der Regel innovativer, nachhaltiger und origineller. Allerdings können Paradoxien auch zu Dysfunktion und Dramen führen, insbesondere wenn sie zu weit gehen.

Die Aufnahme von Paradoxien als «Stretch Goals» oder ambitionierte Ziele kann zu höheren Leistungen anregen und die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf sich ziehen (Cunha et al. 2017). Stretch Goals sind praktisch unerreichbare oder scheinbar unmögliche Ziele, die wenn sie nicht erreicht werden, zu einem Gesichtsverlust für die Protagonisten führen. Wenn solche Stretch-Ziele nicht erreicht werden, geben Protagonisten bisweilen ihr Scheitern nicht zu, sondern betreiben lieber Impression Management. Die widersprüchlichen Ziele werden als erreicht dargestellt, während die eigentlichen Ursachen der Spannungen, die dem Paradox zugrunde liegen, in der Praxis nicht angegangen werden. So wird das Paradoxon durch Illusionen und Rhetorik «aufgelöst» und nur zum Schein bearbeitet: Es entsteht eine Differenz zwischen dem paradoxen Versprechen und der tatsächlichen Praxis.

Dies entspricht dem von Goffman (1959) beschriebenen Prozess des Impression Managements, bei dem Menschen versuchen, die Wahrnehmung einer Person, eines Objekts oder eines Ereignisses durch andere zu beeinflussen. Ähnlich lässt sich der Versuch einer Organisation beschreiben, eine gewünschte Identität zu gewährleisten. So vermittelte beispielsweise die Werbung von Volkswagen für schnelle, billige und umweltfreundliche Fahrzeuge nach außen hin einen Eindruck, der nicht der Realität entsprach. Die gleichzeitige Erfüllung der Anforderungen an Leistung, Effizienz und Emissionen ist paradox, da die Anforderungen widersprüchlich sind und sich gegenseitig bedingen. Ein höherer Wirkungsgrad des Dieselmotors geht mit höheren Emissionen einher. Ebenso bedeutet eine höhere Leistung ab einer bestimmten Geschwindigkeit eine geringere Kraftstoffeffizienz.

Das Paradoxon war für viele Elite-Autohersteller nicht leicht zu lösen und auch VW schaffte es nur verbal. Die Herstellung eines schnellen, billigen und umweltfreundlichen Dieselmotors wurde durch den Einbau einer Abschalteinrichtung erreicht, die das Abgasreinigungssystem dann einschaltete, wenn die Fahrzeuge einer Abgasuntersuchung unterzogen wurden. Das paradoxe Stretch Goal, das sich als unerreichbar erwies, zeigt die dunkle Seite des Paradoxie-Managements. Diess versuchte, die tatsächliche Überforderung durch Impression Management zu kaschieren und wurde durch den von Angst und Einschüchterung geprägten Entscheidungskontext ermöglicht und aufrechterhalten.

Wenn Paradoxien, die zu weit gehen, auf der obersten Hierarchieebene festgelegt werden und ein Scheitern kostspielig ist, besteht eine Möglichkeit des Umgangs auf der unteren Ebene darin, die Illusion zu erwecken, das Paradox erfolgreich zu lösen, statt sich tatsächlich mit diesem zu befassen. Ein typischer Fall ist das sogenannte Greenwashing, bei dem eine schlechte Umweltleistung mit einer positiven Kommunikation über grüne Werte verbunden wird – auch wenn dabei der erweckte Eindruck und die Realität erheblich auseinanderklaffen. Diese Praxis wird von Goffman als Gesichtsarbeit (face-work) beschrieben, etwa wenn Organisationen behaupten, Ziele erreicht zu haben, die bemerkenswert erscheinen, während die Realität nicht mit dem Image übereinstimmt. Organisationen geben dann z. B. vor, Vorschriften einzuhalten zu denen sie verpflichtet sind, indem sie oberflächliche Aktivitäten durchführen, um Legitimität zu erlangen, während sie ihr Business as usual fortführen.

Im VW-Dieselskandal wurde durch die Werbung und Kommunikation des Unternehmens der Eindruck eines erfolgreichen Paradoxien-Managements erweckt. Die damit verbundenen Täuschungen wirkten auf verschiedenen Ebenen, führten zu unbeabsichtigten Dynamiken, zu sich verselbstständigenden Verbindungen zwischen Versprechen und Handlungen und endeten in einem Teufelskreis. Der VW-Skandal stellt ein Extrembeispiel dar, an dem sich das Verständnis für die Gefahren von Paradoxien weiterentwickeln und Implikationen für das Management von Paradoxien ableiten lassen. Dieser Beitrag stützt sich auf Daten aus einer Vielzahl von veröffentlichten Quellen, wichtigen Medien, Unternehmens-Pressemitteilungen sowie Kongressanhörungen.

Die Chronologie des Skandals

Der Skandal wurde im September 2015 bekannt, als die amerikanische Umweltschutzbehörde (EPA) enthüllte, dass viele von VW in Amerika verkaufte Dieselfahrzeuge in ihren Motoren ein Gerät haben, das Labortests erkennen und Leistungsmessungen entsprechend verändern konnte. Nur mit dieser Vorrichtung war es möglich, die vorgeschriebenen Abgasnormen zu erfüllen. VW hat mittlerweile zugegeben, bei Abgastests in den USA betrogen zu haben.

Kaum ein anderes Unternehmen in Deutschland steht wie VW als Symbol für die technische Leistungsfähigkeit des Landes. Anfang der 2000er Jahre setzte sich das Unternehmen das Ziel, der weltweit führende Automobilhersteller zu werden. Dazu gehörte schon früh, die zufriedensten Kunden und die zufriedensten Mitarbeitenden zu haben und gute Unternehmensergebnisse zu erzielen, um über Investitionen in die Zukunft die besten Autos zu bauen. Das Ziel, bis 2018 der weltweit führende Automobilhersteller zu sein (Strategie 2018), geht bereits auf Ferdinand Piëch, den Pionier des Dieselmotors im Pkw, und auf die 1990er Jahre zurück, als VW auf Wachstum um jeden Preis setzte.

«Das paradoxe Stretch Goal zeigt die dunkle Seite des Paradoxie-Managements.»

Bei seinen Bemühungen, den für VW so wichtigen US-Markt zu erobern, um der weltweit führende Automobilhersteller zu werden, setzte VW vor allem auf Dieselfahrzeuge. Während diese in Europa beliebt waren, waren Dieselfahrzeuge in den USA unüblich. Dabei sind Dieselmotoren sparsamer und effizienter als Ottomotoren, stoßen aber aus technischen Gründen größere Mengen an Stickoxiden (NOx) und Ruß aus. Hinzu kam im Jahr 1990 die Überarbeitung des Clean Air Act durch den US-Kongress. Dies bewirkte, dass alle in den USA verkauften Autos wesentlich strengere US-Bundesabgasnormen erfüllen mussten.

Die Herausforderung für VW bestand darin, die intern gesetzten Wachstumsziele und die gestiegenen externen Anforderungen in Einklang zu bringen. Die Lösung sahen die Ingenieure darin, einen Dieselmotor zu entwickeln, der effizient, leistungsstark und sauber war. In Europa war VW bereits führend bei der Einführung des Dieselmotors für Pkw und produzierte Motoren mit geringerem Geräusch- und Geruchspegel bei gleichzeitig hervorragender Beschleunigung und niedrigem Kraftstoffverbrauch. Das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Effizienz und Leistung auf Kosten höherer Emissionen blieb jedoch bestehen, auch wenn der Dieselmotor und die Abgastechnologie als Piëchs persönliches Innovationsideal verstanden wurden.

Bei seinem Versuch, den US-Markt zu erobern, baute VW auf die Idee des sauberen Diesels und warb in den USA 2015 mit Fernsehspots, in denen VW-Dieselfahrzeuge als «saubere Diesel» beworben wurden, welche die US-Abgasnormen erfüllen. Die bessere Leistung und die geringeren Emissionen bedeuteten, dass sich die Besitzer*innen sowohl für Subventionen als auch für Steuerbefreiungen qualifizierten. VW-Mitarbeitende hatten sich schon früh darüber beschwert, dass die Emissionsanforderungen der kalifornischen EPA unrealistisch und für VW fast unmöglich zu erfüllen seien. Dies galt insbesondere in Verbindung mit den formulierten Leistungs- und Effizienzzielen. Für diejenigen, die das paradoxe Versprechen eines «schnellen, billigen und umweltfreundlichen» Dieselfahrzeugs einlösen mussten, erwies es sich als ein unlösbares technisches Rätsel.

Die Wettbewerber des Unternehmens gingen mit diesem Paradoxon unterschiedlich um. Sowohl BMW als auch Mercedes-Benz stellten fest, dass dies ein nahezu unmögliches Ziel war. BMW erfüllte die Emissionsanforderungen durch eine Verringerung der Kraftstoffeffizienz. Dies erhöhte letztlich den Preis des Fahrzeugs, da zusätzliche technische Maßnahmen erforderlich waren – für Piëchs ideale Lösung war dies nicht akzeptabel. Um Leistungsdefizite auszugleichen, spritzte Mercedes-Benz zusätzlich Harnstoff ein, um NOx in weniger schädliche Stoffe umzuwandeln. Der Ansatz führte zu mehr Leistung und geringerem Kraftstoffverbrauch, erforderte aber einen separaten Tank für den Harnstoff. Dieser musste regelmäßig nachgefüllt werden, was zusätzliche Kosten und Unannehmlichkeiten für die Autobesitzer*innen bedeutete, was wiederum für das VW-Ideal, den Dreifacherfolg zu erzielen, nicht akzeptabel war. Ungeachtet dieser Herausforderung drängte VW weiterhin auf einen Dieselmotor, der die Kundenwünsche nach Leistung und Effizienz erfüllt und zugleich die US-Emissionsziele erreicht.

Kontext des Skandals

Ehrgeizige Ziele waren bei VW unter dem früheren Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piëch und CEO Martin Winterkorn die Regel, getreu dem Motto «Geht nicht, gibt’s nicht». Piëch war dafür bekannt, Ingenieure mit schwierigen Aufgaben zu betrauen Bei Nichtbestehen drohte ihnen die Entlassung. Wenn Ingenieure berichteten, dass sie den Abgastest angesichts der Technologie nicht bestehen könnten, sagte Piëch: «Ihr werdet bestehen, ich verlange es! Oder ich werde jemanden finden, der es schafft». Zwischen 2008 und 2015 verkündete VW dann öffentlich, das Paradox gemeistert und Leistung, Effizienz und Emissionen in Einklang gebracht zu haben. In der Praxis gelang es den VW-Ingenieuren jedoch nicht, dieses Ziel zu erreichen.

Als VW mit der Entwicklung des umweltfreundlichen Motors begann, wurde bald klar, dass dieser nicht gleichzeitig die Erwartungen der Kunden als auch die neuen, strengeren US-Abgasnormen erfüllen konnte. Anstatt das Versagen einzugestehen, entwickelten die VW-Ingenieure also eine Software, die erkannte, wann das Auto einem Test unterzogen wurde, und die Emissionskontrollen ein schaltete. Nach Bekanntwerden des Skandals bekannte sich einer der beteiligten Ingenieure schuldig und gab die Entwicklung zu, die die Abgasreinigung unter Laborbedingungen automatisch aktivierte. Die Abschalteinrichtung
sorgte dafür, dass der saubere Diesel von VW den Anschein erweckte, Leistung, Effizienz und Emissionen in Einklang zu bringen: das TDI-Wunder. Anfangs waren Technologen und Umweltschützer gleichermaßen von der neuen VW-Technologie fasziniert. Skeptische Experten fragten sich schon damals, wie diese Autos so gut sein konnten. Als einige Datenunregelmäßigkeiten auftauchten, wuchs der Argwohn. Eine unabhängige Analyse ergab, dass die Software den Fahrzeugen ermöglichte, einen niedrigeren Kraftstoffverbrauch auf Kosten höherer Stickoxidemissionen zu erreichen, wobei die NOx-Emissionen auf der Straße bis zum 40-fachen der Norm lagen. Der Abgasskandal flog am 18. September 2015 auf. VW gab später zu, dass die Software in elf Millionen Autos installiert wurde, von denen acht Millionen Fahrzeuge in Europa und fast eine halbe Million in den Vereinigten Staaten verkauft worden waren. Obwohl die Abschalteinrichtung – letztlich nur ein paar Zeilen Computercode – in der Entwicklung nur einige Tausend Euro kostete, führte sie zu einem gigantischen wirtschaftlichen Schaden.

Der weitere Verlauf des Skandals wurde von mehreren Dementis und verschiedenen Anschuldigungen begleitet. So beschuldigte der US-VW-Vorstandsvorsitzende Michael Horn vor einem Kongressausschuss die Software-Ingenieure und behauptete, der Betrug sei nicht von der Unternehmensspitze ausgegangen. Weitere Untersuchungen ergaben allerdings, dass der Betrug systematisch betrieben, die Vertuschung auf höchster Unternehmensebene inszeniert und gebilligt wurde, dieser mehr als ein Jahrzehnt dauerte und dabei Dutzende von Ingenieuren beteiligt waren.

Verschärfend zu dem, was in der Branche als normal galt, war die VW-Führungskultur von Angst und Einschüchterung geprägt. Zudem bestand im Unternehmen eine Führungsstruktur, die durch Familienkontrolle, Staatseigentum und Mitarbeitereinfluss gekennzeichnet war und die VW von externen Stimmen und Einflüssen abschirmte. Diese Mischung in Verbindung mit einem Führungsstil, der durch «Führen durch Angst» beschrieben wird, könnte erklären, warum diejenigen, die das paradoxe Versprechen einlösen mussten, eher zur Täuschung griffen, als ein Scheitern zuzugeben. Als Reaktion auf die gravierenden Regelverstöße betonte der Nachfolger Winterkorns, wie wichtig es sei, das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit nach dem Skandal wiederherzustellen. Er versprach verbesserte Betriebsabläufe sowie Berichts- und Kontrollsysteme, um die Verantwortlichkeiten zu klären und ein robusteres System für Hinweisgeber zu gewährleisten. Vier Jahre nach dem Skandal endet der Werbespot von VW mit «in the darkness, we found the light», unterlegt mit «Hello darkness, my old friend». Damit unterstreicht das Unternehmen sein Engagement für die Elektromobilität, einhergehend mit der Zustimmung, zwei Milliarden Dollar für die Infrastruktur von Elektrofahrzeugen auszugeben und den Skandal so hinter sich zu lassen.

«Geldstrafen, Entschädigungen, Rückrufkosten, Auswirkungen auf die Autopreise, höhere Kreditkosten.»

Die Auswirkungen

Der VW-Dieselskandal hatte drastische Folgen für Investoren, Händler sowie Kunden und wirkte sich auf die gesamte Automobilbranche aus – u. a. verloren Dieselmotoren massiv an Popularität. Neben Auswirkungen rechtlicher Natur führte der Skandal zu Umsatzeinbußen sowie zu einem Image- und Reputationsverlust der Marke. Die Werbung für «saubere Dieselfahrzeuge» führte zu einer systematischen Täuschung der Kunden. Betroffene Käufer sahen sich einem geringeren Wiederverkaufswert gegenüber, da der Name der Marke durch den Skandal in Verruf geraten war.

Die finanziellen Auswirkungen für das Unternehmen waren vielfältig: Geldstrafen und Entschädigungen, Rückrufkosten, Auswirkungen auf die Autopreise und höhere Kreditkosten. Nach dem Skandal wurden Sammelklagen und mehrere Klagen gegen VW eingereicht. Diese kamen von Aufsichtsbehörden, Verbraucher*innen, Investor*innen und dem Vertragshandel. Für das Managementteam war der Skandal mit zahlreichen Klagen, strafrechtlichen Verurteilungen, Rücktritten, Suspendierungen und Untersuchungen verbunden.

Der Betrugsprozess in Deutschland gegen vier ehemalige VW-Manager kommt nur langsam voran, weil die meisten Zeugen von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen. Viele Verhandlungstermine wurden wegen der Corona-Pandemie abgesagt, der Vorstandsvorsitzende Winterkorn ist wegen eines ärztlichen Gutachtens noch nicht vor Gericht erschienen. Seit 2018 läuft zudem ein Gerichtsverfahren, in dem vor allem institutionelle Anleger Ansprüche in Milliardenhöhe geltend machen. VW soll lange Zeit Informationen über den Abgasskandal geheim gehalten haben, wodurch Anleger einen finanziellen Schaden erlitten haben.

VW gibt zu, dass sich die Kosten für Rückkäufe, Reparaturen und Rechtsstreitigkeiten bisher auf mehr als 32 Milliarden belaufen – vor allem in Form von Bußgeldern und Schadensersatzzahlungen in Nordamerika. Ein zentrales Thema für Aufsichtsbehörden und Umweltbehörden war der Status der Vergünstigungen, die VW für seine angeblichen Umweltinitiativen gewährt wurden. VW beging Betrug, indem das Unternehmen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Steuererleichterungen in Anspruch nahm, um den Verkauf vermeintlich schadstoffarmer Autos zu fördern. Ironischerweise wurde VW in den Jahren 2009 und 2010 die Auszeichnung «Umweltfreundlichstes Auto des Jahres» verliehen. Auch wenn die Auszeichnung später zurückgezogen wurde, bot sie für lange Zeit kostenlose Werbung.

Die Auswirkungen auf den Aktienmarkt waren für VW immens: In den ersten beiden Handelstagen nach Bekanntwerden des Skandals verlor die Aktie rund ein Drittel ihres Wertes und verharrte lange Zeit auf diesem Niveau. Die Anleger beklagten, dass VW den Finanzmärkten Informationen über den Dieselbetrug vorenthalten habe, wofür sie angesichts des durch den Betrug verursachten Wertverlusts eine Entschädigung fordern. Der Skandal betraf aber auch die Automobilindustrie als Ganzes. Andere Automobilhersteller gerieten ebenfalls ins Visier der Aufsichtsbehörden. Händler mussten mit einem Bestand an schwer verkäuflichen Autos umgehen und stoppten den Verkauf, Zulieferer von Komponenten für die Dieseltechnologie und andere von VW abhängige Lieferanten waren massiv betroffen. Die gesamte Branche wurde in Mitleidenschaft gezogen. Schließlich litten auch die Beschäftigten unter den folgenden Kostensenkungs-und Rationalisierungsprogrammen.

Die Folgen für Umwelt und Gesundheit sind schwer zu beziffern. Die verursachte Luftverschmutzung begünstigte Smog und wurde mit einer Zunahme von Asthma- und Atemwegserkrankungen sowie vorzeitigen Todesfällen in Verbindung gebracht. VW versuchte, den Schaden durch Vergleiche, Entschädigungen, Rückrufe und eine Behebung der Mängel durch technische Änderungen an den betreffenden Modellen zu beheben. In den meisten Fällen konnten die Fahrzeuge in Europa mit einem einfachen Software-Update und einer kurzen Fahrt zur Werkstatt repariert werden. In schwierigeren Fällen war eine kleinere Hardware-Reparatur erforderlich.

In den USA, insbesondere bei Fahrzeugen der ersten Generation, war die Angelegenheit komplizierter. VW schlug den Geschädigten vor, einen neuen Katalysator in diese Fahrzeuge einzubauen. Der Versuch, die Motoren zu reparieren, um die Abgasnorm zu erfüllen, beeinträchtigte allerdings die Leistung und Effizienz, diese stand allerdings im Mittelpunkt des Versprechens von VW. Die Kunden beschwerten sich daraufhin, dass ihre Fahrzeuge einen höheren Kraftstoffverbrauch und eine geringere Leistung aufwiesen. Bei der Anhörung vor dem US-Kongress räumte der für das US-Geschäft zuständige CEO ein, dass die Leistung der Fahrzeuge leiden könnte, wenn die Abgasnormen eingehalten würden. Auf die Frage einer Kongressabgeordneten, warum VW kein Auto baue, das diese Ziele erfülle, erklärte er «ich denke, weil Schummeln billiger ist.»

Die dunkle Seite des paradoxen Managements

Der Verlauf des VW-Skandals zeigt, wie das Unternehmen Impression Management einsetzte, um mit Paradoxien umzugehen, die durch internen (hochgesteckte Ziele und Ambitionen) und externen Druck (gesetzliche Anforderungen, starker Wettbewerb, Kundenerwartungen) ausgelöst wurden. Der von Angst und Einschüchterung geprägte Führungskontext spielte dabei eine entscheidende Rolle.

Die vermeintliche Behebung eines technischen Problems mit einer Lösung, die sich letztlich als Illusion herausstellte, führte dazu, dass VW sich noch tiefer in das ursprüngliche Paradoxon verstrickte. Ohne eine technische Lösung für die Herausforderung erwies sich die Bewältigung des Paradoxons als unmöglich. Der dramatische Fall zeigt deutlich die Schattenseiten des falschen Umgangs mit Paradoxien und organisatorischem Fehlverhalten.

Die Kombination aus paradoxen Versprechen, Stretch Goals, technischer Unmöglichkeit und externem wie internem Druck kann Unternehmen dazu verleiten, Fassaden zu entwickeln, die mit der Realität wenig zu tun haben. Der VW-Abgasskandal zeigt eindrucksvoll die Risiken und dysfunktionalen Folgen eines Impression Managements, welches die Kluft zwischen paradoxen Versprechen und der Praxis überbrückt.

In Anbetracht des paradoxen, von der Unternehmensleitung gesetzten ambitionierten Ziels kann man davon ausgehen, dass die Manager*innen der unteren Ebenen keine andere Wahl hatten, als die Unmöglichkeit zuzugeben – oder die Illusion zu schaffen, das Unmögliche erreicht zu haben. Sie waren machtlos angesichts einer Lose-Lose-Situation – verdammt, etwas zusagen, verdammt, dies nicht zu tun.

In gewisser Weise delegierte die Unternehmensleitung ein unmögliches Paradoxon an die Ingenieure, was letztlich zu einer Diskrepanz zwischen den Unternehmenszielen und den Handlungen der Akteure sowie zur Aufrechterhaltung einer Illusion führte. Während das Topmanagement in Unternehmen solche Paradoxien als lösbare Herausforderung ansieht, erleben untere Ebenen sie als unlösbar und managen angesichts der Unmöglichkeit wie im Fall von VW eher Eindrücke als Emissionen.

Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen und organisatorischen Komplexität, des Wandels und diverser Knappheiten wird die Fähigkeit, mit Paradoxien umzugehen, immer wichtiger. Es ist unbestritten, dass Führungsstrukturen, die Organisationsmitglieder davon abhalten, schlechte Nachrichten zu übermitteln, genau wie eine Kultur, in der «der Zweck die Mittel heiligt» und Angst und Einschüchterung vorherrschen, sowie Anreizsysteme, die zu unethischen Verhaltensweisen einschließlich Betrug und Fälschung führen, ein zweifelhaftes Management von Paradoxien wie im Fall von VW fördern. In einem solchen Kontext begünstigt der permanente Druck auf das mittlere Management nach Ergebnissen und Zielen die Entwicklung eines Umfelds, in dem die unausgesprochene Akzeptanz von Illegalität und das Wegschauen bei Abweichungen zum akzeptieren Ausweg werden.

Noch bedrohlicher ist, dass das falsche Management von Paradoxien dazu führt, dass die oberste Führungsebene ihre eigenen Problemlösungskapazitäten und die Ressourcen des Unternehmens überschätzt und möglicherweise Eindrucksmanagement und Selbstbetrug weitertreiben. Aus Angst, das Gesicht zu verlieren und kritisiert zu werden, bemühen sich die unteren Ebenen, das von der Spitze geschaffene Narrativ zu schützen, statt das Topmanagement mit den praktischen Schwierigkeiten eines «Sowohl-als-auch»-Ansatzes zu konfrontieren.

Umgang mit Paradoxien

Der VW-Dieselskandal ist ein Beispiel für eine paradoxe Herausforderung, bei der das Unmögliche möglich erscheint. Ein Fall, in dem der falsche Umgang mit Paradoxien zu dysfunktionalen Verhaltensweisen führt und in einem kolossalen Misserfolg mündet, und in dem Erzählung und Praxis auseinanderdriften. Paradoxien, die technisch nicht zu bewältigen sind, sollten Anlass für Organisationen, ihre Mitglieder und Berater*innen sein, achtsamer und bescheidener mit ihnen umzugehen und übereilten «Lösungen» für komplexe Probleme kritischer gegenüberzustehen.

Manager*innen sollten sich bewusst sein, dass vertraute und einfache Lösungen mit der Zeit zur Selbstverständlichkeit und im Laufe der Zeit zu einem Problem werden können. Lösungen können gerade dann problematisch werden, wenn sie automatisch greifen und unhinterfragt bleiben, nur weil sie in der Vergangenheit funktioniert haben. Es ist daher wichtig, eine kritische Haltung gegenüber routinemäßigen Lösungen und Organisationsrezepten zu entwickeln. Immer dann, wenn eine Lösung schleichend zur Gewohnheit wird, birgt sie das Risiko, zum Problem zu werden.

Der vorliegende Fall zeigt, wie der Umgang mit Paradoxien zu unangenehmen Überraschungen und Teufelskreisen führen kann, die sich nur schwer einfangen lassen. Die Arbeit am System statt im System, das Überschreiten bestehender Grenzen und das Erforschen und Sichtbarmachen gegensätzlicher Ansichten sind wichtige Voraussetzungen für ein wirksames Paradoxie Management. Auch und gerade die nähere Beschäftigung mit den Schattenseiten paradoxer Konstellationen eröffnet Organisationen die Möglichkeit, komplexe Situationen positiv und nachhaltig zu gestalten. Eine Organisationskultur, die Führungskräften und Mitarbeitern*innen ausreichend Gelegenheit gibt, aus Verlusten zu lernen und die die psychologische Sicherheit bietet, Misserfolge zuzugeben, ist eher in der Lage, mit komplexen und widersprüchlichen Zielen umzugehen.

Berater*innen können für Organisationen, die mit Paradoxien konfrontiert sind, unterstützend hilfreich sein, um organisatorische Herausforderungen und deren Kompromisse verständlich zu machen, zum Umdenken aufzufordern und einen Entwicklungsraum zu schaffen, in dem widersprüchliche Ziele diskutiert und bewältigt werden können. Ihre Rolle kann z. B. darin bestehen, latente Spannungen sichtbar zu machen oder eine andere Rahmung der Spannungen anzubieten, um so die Paradoxien besser handhabbar zu machen. Oder sie dienen als «dritte Person», um widersprüchlichen Ideen genügend Raum zu geben und eine Außenseiterperspektive einzubringen.

Organisationen oder Führungskräfte neigen mitunter dazu, Widersprüche durch Entweder-oder-Lösungen aufzulösen (siehe Interview mit Barry Johnson auf Seite 33), um sehr managementorientiert zu erscheinen. Ein solcher Umgang mit Paradoxien mag kurzfristig ein gutes Image vermitteln und Ängste abbauen, es birgt aber die Gefahr, langfristig ineffektiv zu sein. Auch hier können Berater*innen hilfreich sein, indem sie gemeinsam Annahmen entlarven, den Status quo in Frage stellen, Spannungen und Widersprüche sichtbar machen und die Fähigkeit zu paradoxem Denken und Handeln fördern. Beratende können einen Raum schaffen und Manager*innen dazu ermutigen, Widersprüchlichkeit zuzulassen und gegensätzliche Forderungen zu vertreten, ohne dass das eine auf Kosten des anderen gehen muss. Genauer gesagt, können sie Manager*innen dabei helfen, die Neugierde auf Widersprüche und versteckte Gegensätze, die Akzeptanz von Konflikten, die Fähigkeit und Freiheit, Fragen zu stellen, die Bereitschaft, Komplexität zu steigern, statt diese zu reduzieren, und die Wertschätzung widersprüchlicher Erkenntnisse zu fördern. Ein erfolgsversprechender Bearbeitungsprozess setzt voraus, dass die Gegensätze nicht (mehr) als unabhängig betrachtet werden. Ein solcher Ansatz schafft die Voraussetzung für das Erkennen der Verbindung zwischen den in Spannung stehenden Kräften, integriert Perspektiven und ermöglicht ein Verständnis, dass die Welt auch Spannungen und Widersprüchen besteht.

Schließlich sollten Führungskräfte in die Tiefe und in die Breite gehen. Sie müssen in die Tiefe gehen, um ihre Organisation zu verstehen. Und sie müssen in die Breite gehen, um die Welt und ihre komplexen Zusammenhänge zu verstehen. Unabdingbar dafür sind Zeit oder Raum für Reflexion, um nicht den einfachen Weg zu wählen, sondern Gelegenheiten wahrzunehmen, sich mit Paradoxien auseinanderzusetzen, die Chancen des Lernens durch Erkundung zu nutzen und Rückblick, Einsicht und Vorausschau zu verbinden.

Prof. Miguel Pina e Cunha
Nova School of Business and Economics, Carcavelos, Portugal

Prof. Medhanie Gaim
Associate Professor und Dozent, Umeå School of Business and Economics, Schweden

Prof. Dr. Stewart Clegg
Emeritus Professor, UTS Business School und Professor, University of Sydney Faculty of Engineering, School of Project Management

Prof. Dr. Thomas Schumacher
ZOE-Redakteur, Prof. für Organisation und Führung, Kath. Hochschule Freiburg, Lehrbeauftragter Univ. St. Gallen, Partner osb-international, Wien

Literatur

• Berti, M. & Simpson, A. V. (2021). Die dunkle Seite der organisatorischen Paradoxien: The dynamics of disempowerment. Academy of Management Review.
• Borgeest, K. (2021). Manipulation von Abgaswerten. Springer Fachmedien.
• Cunha, M. P., Giustiniano, L., Rego, A. & Clegg, S. (2017). Mission impossible? The paradoxes of stretch goal setting. Management Learning.
• Cunha, M. P., Clegg, S. R., Rego, A. & Berti, M. (2021). Paradoxien von Macht und Führung. Routledge.
• Ewing, J. (2017). Schneller, höher, weiter: The inside story of the Volkswagen scandal. Random House.
• Gaim, M., Clegg, S. & Cunha, M. P. (2021). Managing Impressions Rather Than Emissions: Volkswagen und die falsche Beherrschung des Paradoxen. Organization Studies.
• Gaim, M., Clegg, S., Cunha, M.P. & Berti, M. (2022). Organisatorisches Paradoxon. Cambridge University Press.
• Goffman, E. (1959). Die Darstellung des Selbst im täglichen Leben. Anchor.
• Lutz, B. (2015). Ein Mann etablierte die Kultur, die zu VWs Abgasskandal führte: A diesel dictatorship. Road and Track.
https://zoe-online.org/vw-diesel-fiasco
• Pradies, C., Tunarosa, A., Lewis, M. W. & Courtois, J. (2021). Von bösartigen zu tugendhaften paradoxen Dynamiken: Die sozialsymbolische Arbeit von Unterstützungsakteuren. Organization Studies.
• Smith, W. & Lewis, M. (2022). Beides und Denken. Harvard Business Review Press.

 


Digital transformieren

Wie digitale Innovationen neue Chancen und Risiken für das Change Management bringen

Zunehmend experimentieren Organisationen mit Digitalen Innovationen für Organisationalen Wandel (DIOW), um das Change Management nachhaltiger und wirksamer zu machen. Allerdings gibt es bislang nur unzureichende Erkenntnisse zu deren Einsatz. In diesem Artikel adressieren wir die Chancen und Risiken von DIOW, um Veränderungsprozesse inklusiver, individualisierter und anpassungsfähiger zu gestalten. Damit möchten wir die Diskussion über ein wichtiges Thema vertiefen, das die Zukunft des Change Managements voraussichtlich prägen wird.

Veränderungen sind für Organisationen lebenswichtig, dennoch sind Veränderungsprozesse mit Herausforderungen behaftet. Insbesondere die digitale Transformation schreitet voran und stellt bestehende Geschäftsmodelle auf den Kopf. Während der Fokus oft auf der digitalen Transformation liegt, also der Frage «Wie meistern wir den digitalen Wandel?», ist über das Thema «digital transformieren» d. h. also «Wie können digitale Innovationen die Transformation unterstützen?», bislang weniger bekannt.

Status quo: Digitale Innovationen und Change

Digitale Innovationen, d. h. Produkte oder Prozesse, die als neu und signifikant anders wahrgenommen und durch digitale Technologien ermöglicht werden, verändern die Arbeitswelt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Organisationen begonnen haben, mit Digitalen Innovationen für Organisationalen Wandel (DIOW) zu experimentieren (siehe auch Zeitschrift OrganisationsEntwicklung 2/2020 zu «Smarter Wandel»). Diese DIOW kommen in unterschiedlichsten Formen und reichen vom Einsatz sozialer Medien über Gamification bis zu datengetriebenem Monitoring. Das Interesse an DIOW ist an der wachsenden Zahl an Beratungsfirmen und Startups in diesem Bereich abzulesen. Ziel ist es, Wandel digitalgestützt zu begleiten, um wichtige Stellhebel wie Beteiligung, Befähigung und Kommunikation wirksamer zu gestalten.

Der aktuelle Stand der Forschung zeigt, dass über den Einsatz von DIOW unzureichende Erkenntnisse vorliegen. So ist u. a. unklar, welche Merkmale der Gestaltung und des Einsatzes von DIOW besonders erfolgsversprechend sind, welche Voraussetzungen die Akzeptanz der Stakeholder beeinflussen oder wie der Beitrag von DIOW für den Veränderungserfolg aussehen und gemessen werden kann. Für Organisationen stellen sich auch Fragen, die über die reine Wirksamkeit hinausgehen: Sie müssen in regulierten Umwelten mit widersprüchlichen Interessen umgehen. Fragen zu Datenschutz und Mitbestimmung sind in digitalen Arbeitswelten ebenso zu berücksichtigen wie Diversität und Gleichstellung. Das heißt, dass neben den – v. a. von den Anbietern – angepriesenen Chancen, auch die Risiken adressiert werden müssen (Kanitz & Gonzalez, 2021).

Typen digitaler Innovationen für organisationalen Wandel

Doch wie sehen diese DIOW konkret aus? Zum einen lassen sich DIOW aus einer Technologieperspektive betrachten. Hier geht es darum, welche Funktionen DIOW aufweisen. In diesem Beitrag unterscheiden wir drei Kategorien. Erstens sehen wir zunehmend den Einsatz von digitalgestützten Beteiligungs- und Dialogformaten, um die Initiierung inklusiver zu gestalten. Zweitens betrachten wir digital personalisierte Nudges und Boosts, um die Mobilisierung mittels maßgeschneiderter Interventionen voranzutreiben. Drittens beobachten wir den Einsatz von datengetriebenem Echtzeit-Monitoring, um durch automatisierte Analysen eine flexible Anpassung der Maßnahmen während der Umsetzung zu ermöglichen. Abbildung 1 fasst die Kategorien, Beschreibungen und Beispiele zusammen.

Aus einer Aufgabenperspektive – d. h. in welcher Phase DIOW zu welchem Zweck eingesetzt werden – rückt zum anderen die Gestaltung des Prozesses in dem Mittelpunkt. Die Forschung hat verschiedene Faktoren identifiziert, die im Zusammenspiel die Veränderung ermöglichen und stellt dabei den «Faktor Mensch» als entscheidend heraus. Genau hier setzen DIOW an und bieten Chancen auf drei Ebenen:
1. Inklusion: breite und tiefe Involvierung vieler Stakeholder um die Qualität und den Buy-in der Betroffenen zu stärken
2. Individualisierung: individuell maßgeschneiderte, aber skalierbare Kommunikation und Befähigung der Betroffenen
3. Anpassungsfähigkeit: zielgenaues Nachsteuern eines datengetriebenen Veränderungsprozesses auf Basis zeitnaher Rückkopplung zwischen Führungskräften und Beschäftigten

Im Folgenden bringen wir die Aufgaben- und Technologieperspektive zusammen und erläutern Chancen und Risiken beim Einsatz von DIOW. Abbildung 2 fasst die wesentlichen Punkte zusammen.

Digitale Innovationen in der Initiierung: Inklusiv durch breite und tiefe Involvierung

Vor allem digitalgestützte Beteiligungs- und Dialogformate bieten Möglichkeiten, um Veränderungsprozesse inklusiver zu machen. Durch soziale Netzwerke, Blogs oder Wikis können Stakeholder am Diskurs über Veränderung teilnehmen («Demokratischer Wandel»).

Chancen. Die aktive Involvierung ist ein etablierter Stellhebel im Change Management, um die inhaltliche Qualität von Initiativen zu steigern und die Akzeptanz der Betroffenen zu stärken. Allerdings ist die Involvierung von Stakeholdern mit gegensätzlichen Interessen über längere Zeiträume kompliziert und aufwendig. DIOW bieten hier neue Chancen und finden zunehmend Anwendung in Unternehmen aber auch im öffentlichen Raum (z. B. Bürgerbeteiligung in Veränderungsprozessen in Städten, siehe Trénel, 2020). Zunächst erlauben DIOW die Möglichkeit, die Breite der Involvierung zu erhöhen und eine größere Anzahl von Stakeholdern einzubinden. So hat IBM bereits in den 2000ern virtuelle «Jams» durchgeführt. Hierbei wurden Mitarbeiter*innen aufgefordert, ihre Meinungen und Vorschläge zu einer Initiative in einer virtuellen Community zu teilen. Nach vielen tausenden Kommentaren, wurden diese mit automatisierten Textanalysen ausgewertet, um das Stimmungsbild und die wesentlichen Themen zu identifizieren. Die Kernergebnisse flossen in die Überarbeitung der Initiative ein. Andere Beispiele zeigen, wie interne soziale Netzwerke den direkten und ungefilterten Austausch über Hierarchiegrenzen oder Organisationsbereiche hinweg  ermöglichen. Ziel ist es, eine große Anzahl von Stakeholdern einzubeziehen und diverse Stimmen einzufangen.

Darüber hinaus fördern DIOW die Tiefe der Involvierung. Involvierungsmaßnahmen unterscheiden sich in der Qualität des Austauschs und können eher fokussiert, einseitig-informativ (z. B. anonyme Befragungen) oder offen, dialogorientiert sein (z. B. Open Space Workshop). Beispielsweise experimentieren Organisationen mit DIOW, die digitalgestützt Dialogprozesse in Kulturveränderungen anstoßen, strukturieren und auswerten. Dabei machen Teilnehmer*innen über mehrere Phasen Angaben über eine App (z. B. zu Unternehmenswerten) und diskutieren im Anschluss die aggregierten Ergebnisse im eigenen Team, um einvernehmlich neue Eingaben in der Gruppe vorzunehmen. Dieser iterative Prozess wird durch digitale Impulse wie Kurzvorträge oder Übungen begleitet. Dadurch können viele Betroffene über einen längeren Zeitraum tiefgreifend eingebunden und gleichzeitig ein kollektiver Reflexionsprozess angestoßen werden. Zusätzlich entstehen wertvolle Daten, die für die Diagnose von Kulturfacetten in der Organisation, aber auch für die Ableitung von Maßnahmen genutzt werden können.

Risiken. Die Nutzung sozialer Medien kann einen gewissen Grad an Kontrollverlust über die entstehenden Inhalte bedeuten. Es ist möglich, dass die generierten Ideen im sozialen Netzwerk nicht konform mit der Ausrichtung sind, die die Initiator*innen im Kopf hatten. Darüber hinaus können in sozialen Netzwerken negative Dynamiken entstehen. Durch die transparenten Interaktionen kann die rasche Verbreitung negative Ressentiments oder Widerstände bezüglich der Veränderung stärken. Führungskräfte haben nur eingeschränkte Möglichkeiten, Einfluss auf die Netzwerkdynamiken zu nehmen. Entsprechend ist eine professionelle Moderation der digitalen Beteiligungsformate essenziell (Groß & Hardwig, 2020). Darüber hinaus können DIOW überhöhte und teils unrealistische Erwartungen hinsichtlich der Berücksichtigung des Inputs hervorrufen. Beispielsweise können diese die Erwartung schüren, dass der Input sich direkt und sichtbar in den Inhalten oder Entscheidungen niederschlägt.
Ist das wie oft in der Praxis – aus guten Gründen – nicht der Fall, kann dies zu Frustration und Gleichgültigkeit führen und die Bereitschaft untergraben, sich erneut einzubringen. Gerade bei digitalgestützten Beteiligungsformaten, die für die Initiator*innen ressourcenschonender anzuwenden sind als analoge Formate, kann schnell der Eindruck von Pseudo-Beteiligung entstehen. Damit ist gemeint, dass Beteiligung nur simuliert wird, ohne wirklich Mitsprache an Inhalten und Entscheidungen zu gewähren.

Digitale Innovationen in der Mobilisierung: Individualisiert und zielgenau befähigen

Personalisierte Nudges und Boosts, die die unterschiedlichen Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigen, eröffnen neue Perspektiven. Während Nudges, d. h. personalisierte Handlungsimpulse, eine Verhaltensänderung initiieren sollen (z. B. individuelle Push Nachrichten sich im nächsten Meeting stärker einzubringen), fokussieren Boosts die Förderung der persönlichen Entscheidungs- und Handlungskompetenz (z. B. Erklärvideo zum Hintergrund der Reorganisation) der Beteiligten (Hertwig & Grüne-Yanoff, 2017).

Chancen. Standardisierte Change Management Ansätze, die die unterschiedlichen Bedürfnisse der Mitarbeiter*innen nicht ausreichend berücksichtigen, gelten als wenig erfolgsversprechend. Daten ermöglichen die Individualisierung von Interventionen, um damit der Diversität der Stakeholder besser gerecht zu werden. Hierbei werden Daten zu individuellen Charakteristika genutzt, um zielgruppenspezifische Interventionen zu generieren. Durch Clusteranalysen können unterschiedliche Typen identifiziert (z. B. Skeptiker vs. Early Adopter) und im Anschluss mit orchestrierten Interventionsbündeln adressiert werden. So erhält jede*r Beteiligte auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittene Handlungsimpulse. Aus der Perspektive von Führungskräften können damit Interventionen auf bestimmte Zielgruppen in Bezug auf Inhalt und Timing angepasst werden (z. B. Vorwissen, Abteilungszugehörigkeit). Ein weiterer Vorteil ist die leichtere Skalierbarkeit der DIOW. Diese lassen sich auf viele Tausende von Betroffenen über Landesgrenzen und Hierarchieebenen hinweg anwenden und erlauben damit eine skalierbare Individualisierung. Zum Beispiel nutzen einige Organisationen spezielle Change-Applikationen, die auf den Smartphones der Betroffenen installiert werden und damit jederzeit verfügbar sind (DiLeonardo et al., 2020). Über diese Apps werden kurze Befragungen bereitgestellt (z. B. zur Veränderungseinstellung), um relevante Daten zu sammeln. Eine Person, die von der Veränderung bereits überzeugt ist, kann dann andere Kommunikationsmaßnahmen über die Applikation empfohlen bekommen (z. B. Video zur Change Roadmap), als eine Person, die z. B. die Hintergründe der Initiative noch gar nicht kennt. Es geht also darum, die Passung zwischen Interventionen und Bedürfnissen der Empfänger*innen zu erhöhen und damit die Wirksamkeit zu steigern.

«Personalisierte Nudges und Boosts eröffnen neue Perspektiven.»

Risiken. Bei solchen digital personalisierten Interventionen ist zum einen unklar, wer genau und warum die Zielgrößen (z. B. Effizienz, Wohlbefinden, Verständnis) solcher Interventionen festlegt und das Optimum für die Empfehlungen bestimmt. Die Wirkung solcher Interventionen ist zudem kontextsensitiv und kann je nach Art der Veränderung variieren. Ob personalisierte Nudges im Change die erwünschte Wirkung erzielen können, ist bisher wenig erforscht. Deshalb muss die Entwicklung solcher Interventionen gut vorbereitet und getestet werden. Zum anderen bleibt der Datenschutz eine Herausforderung. Da personalisierte Interventionen auf Basis von Daten generiert werden, brauchen wir evidenzbasierte Typologien, auf welche die Interventionen zugeschnitten werden können. Was sind sinnvolle Indikatoren, die in die Typologien-Bildung einfließen können und dürfen? Die besten Daten, um Interventionen zu individualisieren, sind häufig personenbezogene Daten. Entsprechend muss deren Verarbeitung die Datenschutzverordnungen erfüllen und die Zustimmung zur Verarbeitung eingeholt werden. Das wiederum kann zu Ablehnung der App (Laumer et al., 2016) führen. Eine erfolgreiche Mobilisierung ist folglich erschwert.
Die Frage ist demnach, unter welchen Umständen Mitarbeiter*innen bereit sind, solche Daten zu teilen. Ansätze zur Pseudonymisierung können sinnvoll sein, um die Datenqualität hochzuhalten und Datenschutz zu gewährleisten. Zudem können die Konsequenzen der Differenzierung ein Risiko sein, da einige Personengruppen durch die automatisierten Prozesse bestimmte Interventionen nicht erhalten, auf die andere Gruppen Zugriff haben. So kann die Bereitstellung von individualisierten Trainings unter den Mitarbeitet*innen zu einer wahrgenommenen Ungerechtigkeit führen. Diese möglicherweise als Sonderbehandlung empfundenen Interventionen können zu Unsicherheit und Misstrauen führen, was letztlich den Erfolg der Veränderung gefährdet. Darüber hinaus stellt sich die Frage, was mit Konsens und Commitment in einer Gruppe passiert, wenn viele Individuen eine unterschiedliche Reise durch die Veränderung erleben. Die Interventionen können zwar individuell wirken, aber kollektiv die Abweichung in Wahrnehmungen und Meinungen in einer Gruppe stärken.

Digitale Innovationen in der Umsetzung: Maßnahmen evidenzbasiert und dynamisch anpassen

Datengetriebenes Echtzeit-Monitoring von Veränderungsprozessen umfasst den Einsatz von Anwendungen, die Kurzbefragungen – sogenannte change readiness checks – für Betroffene bereitstellen, die erhobenen Daten dann automatisch und gemeinsam mit zusätzlich eingespeisten Daten (z. B. Personaldaten) auswerten und schließlich in Dashboards aufbereiten.

Chancen. Starre Veränderungspläne, die wenig Raum für Anpassung und flexibles Agieren lassen, gelten als überholt. Hier versprechen DIOW mehr Beweglichkeit: Erstens ermöglicht ein Monitoring den Verantwortlichen ein evidenzbasiertes, zielgenaues und flexibles Nachsteuern der Veränderung. Veraltete Monitoring-Ansätze liefern die Auswertungen meist zeitverzögert oder aufgrund händischer Analyseprozesse auch teils fehlerbehaftet. Mit neuen Lösungen können Ergebnisse aus validierten Kurzbefragungen von repräsentativen Stichproben automatisch und in Echtzeit in übersichtlichen Dashboards dargestellt werden. Diese visualisieren Ergebnisse zu wichtigen Treibern von Veränderungserfolg (z. B. Informationsqualität und Commitment) über unterschiedliche Gruppen (z. B. Abteilungen oder Hierarchieebenen) hinweg. So können Ausreißer identifiziert und sinnvolle Maßnahmen abgeleitet werden. Diese Auswertungen können durch automatisierte Textanalysen von offenen Antwortfeldern und unstrukturierten Daten aus den internen sozialen Medien angereichert werden. Folglich kann schnell tiefgreifender erörtert werden, welche Themen bestimmte Gruppen besonders bewegen. Zweitens ermöglichen solche Monitoring DIOW schnelle  Reaktionen und Adaptionen durch zeitnahe Rückkopplung zwischen Verantwortlichen und Betroffenen. Verantwortliche können sich mit den Dashboards schnell einen guten Überblick über die Veränderungsbereitschaft in der Organisation verschaffen und zeitnah Maßnahmen ableiten. Ein Quick-Win ist häufig, dass bestimmte Ergebnisse mit den Betroffenen automatisch direkt geteilt werden können (z. B. Zugriff auf Teile der Dashboards) und damit effizient Transparenz hergestellt wird. Darüber hinaus können über die Ergebnisse evidenzbasiert Prioritäten bestimmt und direkt angegangen werden.

Risiken. Die oben angesprochenen Herausforderungen zum Datenschutz kommen auch hier deutlich zum Tragen. Effekte sozialer Erwünschtheit und strategischen Antwortverhaltens beeinflussen die Datenqualität und kommen erschwerend hinzu. Außerdem ist aus Sicht der Mitarbeiter*innen jede Befragung nicht nur eine neutrale Messung des Status Quo, sondern in sich selbst eine Intervention, die eine Signalwirkung mit unerwarteten Konsequenzen haben kann. Die geringen Nutzungskosten von digitaler Befragungssoftware können dazu führen, dass Führungskräfte in immer kürzeren Zyklen Daten sammeln – der Versuch, jede Entscheidung abzusichern – sodass Mitarbeiter*innen befragungsmüde werden. Darüber hinaus kann sich auf Seiten der Betroffenen schnell das Gefühl von Überwachung einstellen und zu neuen Widerständen führen. Der Eindruck, per Knopfdruck kontrollierbar zu sein, kann eine ablehnende Haltung auslösen, wodurch schlussendlich die erfolgreiche Veränderungsumsetzung gefährdet wird.
Aber auch aus Perspektive der Verantwortlichen kann der Einsatz von Monitoring-DIOW zu Überforderung führen. Zunächst wird die notwendige Daten- und Analysekompetenz häufig unterschätzt.
Es ist wichtig, die fachgemäßen analytischen Fragen zu stellen, die Daten im Kontext richtig zu interpretieren und daraus die geeigneten Schlussfolgerungen abzuleiten. Ein grundlegendes Verständnis von deskriptiven, aber auch komplexeren Zusammenhangs- (z. B. Regressionsverfahren) oder Clusteranalysen (z. B. latente Klassenanalysen) ist hierfür essenziell.
Das bedeutet, dass diese Datenkompetenzen innerhalb des Change Teams vorhanden sein sollten. Auch die Formulierung und Operationalisierung sinnvoller statt unbewusst lenkender Fragen, stellt eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar. Eine gute Validierung von Befragungsinstrumenten ist wesentlich für die Aussagekraft der gesammelten Daten. Außerdem führen solche Anwendungen dazu, dass das Feedback von Betroffenen kontinuierlich von den Verantwortlichen aufgenommen und adressiert werden muss. Gegeben den Reaktionen, die bestimmte Veränderungsvorhaben hervorrufen können, erfordert der Umgang mit emotional-negativem Feedback über digitale Kanäle auch starke emotional-soziale Kompetenz, um mit diesen Emotionen zu arbeiten und angemessen zu reagieren.

Weitere übergreifende Herausforderungen

Egal um welche Konstellation der oben skizzierten Aufgaben- und Technologieansätze es bei DIOW geht, kommen weitere Herausforderungen hinzu. So besteht bei einem technokratisch missverstandenen DIOW-Einsatz immer die Gefahr, die Komplexität und widersprüchliche Dynamik realer Change Prozesse hinter einer letztlich immer vereinfachenden Reduktion auf wenige Indikatoren (z. B. durch die Auswahl der KPI im Monitoring) aus dem Auge zu verlieren. Das gilt insbesondere für grundsätzlich schwer zu objektivierende Aspekte wie informelle Beziehungen oder Erfahrungswissen, deren Relevanz u. a. für Veränderungsprozesse (Pfeiffer, 2020) belegt ist. Dies gilt umso mehr für die gerade bei KI-Managementanwendungen (z. B. predictive maintenance) häufig unterschätzten, komplexen Wechselbeziehungen zwischen IT-Systemen und organisationaler Ebene in Veränderungsprozessen.

Zusammenfassung

Veränderungen in Organisationen sind eine Herausforderung. Wie wirksam DIOW dabei unterstützen können, ist eine offene Frage. Viele etablierte Methoden im Change Management bleiben voraussichtlich bestehen. Ebenso bleibt der Fokus auf dem Menschen essenziell für erfolgreichen Wandel. Allerdings bieten DIOW neue Chancen, indem sie Veränderungsprozessen neue Impulse geben sowie die Möglichkeiten von Inklusion, Individualisierung und Anpassungsfähigkeit im Change selbst verändern. Das heißt aber, dass neben Chancen, auch die Risiken ausreichend adressiert werden müssen, um den Effekt von DIOW ganzheitlich abschätzen zu können. Potenzielle Risiken fokussieren z. B. die Möglichkeit der Kontrolle, ethische und datenschutzrechtliche Bedenken sowie die potenzielle Überforderung der Anwender durch Datenflut und technisches Knowhow. Die Diskrepanz zwischen meist positiven Schilderungen der Praxis und fundierten Erkenntnissen motiviert den Diskussionsbedarf. In einem interdisziplinären Projekt gefördert durch das Bayerische Forschungsinstitut für Digitale Transformation (bidt, 2022) gehen wir diesen Fragestellungen nach. Damit möchten wir den Diskurs über einen wichtigen Themenbereich anstoßen, der voraussichtlich die Zukunft des Change Managements prägen wird.

 

Prof. Dr. Rouven Kanitz
Assistant Professor of Organizational Change Rotterdam School of Management, Erasmus University

Saskia Hasreiter
Wiss. Mitarbeiterin und Doktorandin, Institut für Leadership und Organisation, Ludwig-Maximilians-Universität München

Dieser Beitrag entstand in enger Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Martin Högl, LMU München; Prof. Dr. Sven Laumer, Prof. Dr. Sabine Pfeiffer, Bastian Brechtelsbauer und Dr. Katja Schönian, alle FAU Erlangen-Nürnberg.

Literatur:

• bidt – Bayerisches Forschungsinstitut für Digitale Transformation (2022). Transforming digitally: Digitale Innovationen zur erfolgreichen Gestaltung des organisationalen Wandels.
https://www.bidt.digital/forschungsprojekt-diow/
• DiLeonardo, A., Mendelsohn, D., Selvam, N. & Wood, A. (2020). Personalizing change management in the smartphone era. McKinsey Quarterly, May.
https://zoe-online.org/change-smartphone-era
• Groß, S. & Hardwig, T. (2020). Über den Wolken: Moderation im virtuellen Raum. Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, Heft 2/2020.
• Hertwig, R. & Grüne-Yanoff, T. (2017). Nudging and boosting: Steering or empowering good decisions. Perspectives on Psychological Science.
• Kanitz, R. & Gonzalez, K. (2021). Are we stuck in the predigital age? Embracing technology-mediated change management in organizational change research. The Journal of Applied Behavioral Science.
• Laumer, S., Maier, C., Eckhardt, A. & Weitzel, T. (2016). User personality and resistance to man-datory information systems: A theoretical model and empirical test of dispositional resistance to change. Journal of Information Technology.
• Pfeiffer, S. (2020). Kontext und KI: Zum Potenzial der Beschäftigten für Künstliche Intelligenz und Machine-Learning. HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik.
• Trénel, M. (2020). Mitsprache digital: Lebendige Bürgerbeteiligung in Veränderungsprozessen am Beispiel der Stadt Zürich. Zeitschrift OrganisationsEntwicklung, Heft 2/2020.

 


Gehirngerecht Arbeiten

Hin zu einer Kultur der Konzentration

Eine umfassende Studie zu Fragmentierung im Büroalltag belegt eindrucksvoll, wie viel Zeit Beschäftigte tatsächlich durch Unterbrechungen und Multitasking verlieren. Maßnahmen des The-Focused-Company-Modells (TFC) können eine Antwort darauf liefern und sollten als kollektive Prinzipien in Organisationen verankert werden, um wirksam zu werden.

In vielen Unternehmen ist der Alltag geprägt von Lärm in Großraumbüros, Fragmentierung, Multitasking, Informationsüberflutung, ineffizienten Meetings und einer Kultur der ständigen Erreichbarkeit. Drei Tage pro Monat kosten uns Arbeitsunterbrechungen, ermittelte nun die erste große Tagebuchstudie zu Fragmentierung im Büroalltag, die in 25 Unternehmen aus zwölf Branchen durchgeführt wurde (Starker et al, 2022). «Tagebuchstudie» bedeutet hier, dass die Befragten mittels einer App an drei Arbeitstagen gebeten wurden, mehrfach pro Tag mit kurzen Fragebögen bzw. Strichlisten alle Unterbrechungen zu registrieren.

Zusätzlich erleben wir einen Boom der Online-Meetings, wobei die Studienteilnehmenden unabhängig davon, ob die Meetings in Präsenz oder virtuell stattfinden, angaben, dass mindestens 35 Prozent aller Meetings irrelevant für sie waren. So verlieren wir zwei weitere Tage und kommen auf insgesamt fünf Tage Zeitverlust pro Monat. Gleichzeitig mehren sich die Rufe nach einer 42-Stunden-Woche, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Dabei wurden laut Statista in Deutschland 2021 bereits über 1,7 Mrd. Überstunden geleistet. Eine Verlängerung der Arbeitszeit wäre lediglich mehr desselben, und das Potenzial gehirngerechteren Arbeitens, das die Studie ermittelt hat, bliebe unbeachtet.

Die gute alte E-Mail führt die Liste der Arbeitsunterbrecher an, auch wenn alle an der Studie beteiligten Unternehmen einen hohen Digitalisierungsgrad aufweisen. Die im Schnitt gemessenen 15 Unterbrechungen pro Stunde führen zu einem Zeitverlust von drei vollen Tagen pro Monat, weil unser Gehirn nach jeder Unterbrechung eine Re-Fokussierungszeit braucht. Diese liegt bei einfachen Aufgaben bei 15 Prozent, um die sich die Bearbeitung einer Aufgabe verlängert, und bei komplexen Aufgaben bei bis zu 28 Prozent. Von den 15 gemessenen Unterbrechungen erfolgen neun durch äußere Störungen und sechs sind darauf zurückzuführen, dass wir uns selbst unterbrechen, z. B. indem wir ohne äußeren Anlass den E-Mail-Posteingang prüfen. Offenbar sind wir die Unterbrechungsimpulse derart gewöhnt, dass wir sie aktiv suchen, wenn sie von außen nicht erfolgen. Diese per Tagebuch gemessenen Arbeitsunterbrechungen lösen eine Belastung von 58 Mrd. Euro p. a. für deutsche Unternehmen aus.

Wir verbringen zu viel Zeit in Meetings, die wir nicht brauchen oder die unproduktiv sind. Die in der Tagebuchstudie als irrelevant eingeschätzten 35 Prozent der Meetings bedeuten zwei volle Tage verlorene Zeit pro Monat pro Beschäftigtem und kosten die deutschen Unternehmen weitere 56 Mrd. Euro p. a. Hybrides Arbeiten verschärft die Situation: Laut der Microsoft Trend Studie 2021 ist ein rasanter Anstieg der Online-Meetings um 148 Prozent zu verzeichnen. Da 62 Prozent davon nicht geplant werden, wird der Arbeitstag noch stärker fragmentiert.

Je mehr Technik, desto erschöpfter sind wir

In der Tagebuchstudie konnte ermittelt werden, dass bei höherem Digitalisierungsgrad die Multitasking- und Unterbrechungshäufigkeit höher ist und damit einhergehend das Stresserleben. Mit anderen Worten: Je mehr digitale Tools Beschäftigte verwenden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie durch diese Tools unterbrochen werden oder sich dazu verleiten lassen, mehrere Aufgaben parallel zu bearbeiten. Um die Informationsdichte und die Anforderungen zu bewältigen, schalten die meisten Beschäftigten in den Multitasking-Modus, um möglichst viel erledigt zu bekommen. Allerdings ist das menschliche Gehirn nicht dazu in der Lage, zwei oder mehr konzentrationsbedürftige Inhalte parallel zu bearbeiten. Auf der Strecke bleiben wichtige kognitive Kompetenzen wie Fehlererkennung oder Entscheidungsfindung sowie emotionale Ausgeglichenheit und Impulskontrolle. Die Folge: mehr Fehler und noch mehr Stress. Nach Schätzungen der BAuA entfallen jährlich 36,1 Mrd. Euro – das entsprach 2019 über ein Prozent des Bruttonationaleinkommens – auf stressbedingte Ausfallkosten. Mehr digitale Tools machen also nicht automatisch produktiver, sondern bergen die Gefahr, uns unproduktiver zu machen. In der Studie wurde deutlich, dass eine hohe Identifikation mit der Führungskraft eine stresssenkende Wirkung hat, allerdings stellten wir auch fest, dass der aus Fragmentierung und Multitasking resultierende Stress ein spezifischer Stress ist, der nicht über Identifikation und gute Führung kompensiert werden kann. Es braucht die Fragmentierung reduzierende Maßnahmen, um ihn zu minimieren. Dabei hat die Führungskraft natürlich eine Vorbildfunktion. Die Studie zeigt allerdings, dass Meeting-Intensität und Fragmentierung des Arbeitsalltags in der Hierarchie nach oben hin ansteigen.

Gehirngerechtes Arbeiten als Antwort

42,3 Prozent der Wertschöpfung in Deutschland sind laut Statista den wissensintensiven Dienstleistungen zuzuordnen. Die Fragmentierung der (Wissens-)Arbeit stellt daher ein ernstzunehmendes Problem dar, insbesondere wenn wir über Innovation und Kreativität sprechen. Im Gegensatz zu den individuell ausgerichteten Selbst- und Zeitmanagementansätzen der vergangenen zehn Jahre, die auf das Individuum zielten, sind nun systemisch-integrierte Ansätze nötig, da es in der vernetzten Arbeitswelt mit ihrer wechselseitigen Abhängigkeit (z. B. in der Projektarbeit), nicht mehr ausreicht, wenn Einzelne gut organisiert sind. Denn schon ein einziges Teammitglied kann durch unproduktives Zeit- und Arbeitsverhalten, wie das Senden von zu vielen E-Mails an zu große Verteiler, ständig verspätetes Eintreffen bei Meetings, Kalenderüberbuchung etc. viele andere Menschen in ihrer Produktivität stören. Daher braucht es kollektive Prinzipien, die systemisch wirken. Nachfolgend werden ausgewählte Maßnahmen des The-Focused-Company-Modells (TFC) vorgestellt, das Unternehmen ermöglicht, systematisch konzentriertes und fokussiertes Arbeiten einzuführen. Das Modell wird als Framework eingesetzt und adressiert die relevanten Handlungsfelder innerhalb eines Unternehmens, um spezifische Lösungen zu finden, Arbeit gehirngerechter und fokussierter zu gestalten. Das Vorgehen gemäß TFC-Modell umfasst zunächst eine Standortanalyse, der drei Remote Sprints zur Diskussion und Vereinbarung von Maßnahmen folgen. Der Weg zu einer Focused Company wird begleitet durch ein Prozesshandbuch sowie die Ausbildung von Führungskräften und internen Coaches zu «hybrid gehirngerechter Führung». Nach ca. 18 Monaten wird die Wirksamkeit gemessen und ggf. nachgesteuert.

Fokuszeit im gesamten Unternehmen

Kernmaßnahme von TFC ist die Einführung einer zweistündigen kollektiven Fokuszeit, in der die gesamte Belegschaft aller Hierarchieebenen des Unternehmens bis auf die notwendigsten Kommunikationskontakte ungestört und konzentriert arbeiten kann (Starker & Schneider, 2020). Die zu bearbeitenden Inhalte der Fokuszeit werden selbstbestimmt festgelegt, sodass automatisch das Selbstwirksamkeitserleben erhöht wird. Dieses geht oft verloren, wenn Beschäftigte den Arbeitstag komplett fremdbestimmt verbringen müssen. Die Fokuszeit sollte idealerweise auf den Vormittag gelegt werden, weil dann der Cortisolspiegel in der Regel am höchsten ist. Studien bestätigen, dass Beschäftigte versuchen, in Meetings ihre Aufgaben abzuarbeiten, wenn längere Treffen am Vormittag keinen Raum für Konzentration lassen (Cao et. al, 2021). Diese Meetings sind daher deutlich unproduktiver. Wenn Beschäftigten und Führungskräften hingegen die Möglichkeit eingeräumt wird, ihre konzentrationsbedürftigen Aufgaben am Vormittag ungestört zu erledigen, bekommt der Tag eine stressfreiere Dynamik (Busch, 2021).

Fokussierter Einsatz digitaler Tools

Es ist nicht die Menge an Tools, die uns produktiv macht – im Gegenteil. Im Rahmen des TFC-Modells wird ein zielgerichteter und intelligenter Einsatz von Technik angestrebt. Gleichzeitig wird festgelegt, über welche Kanäle synchrone bzw. asynchrone Kommunikation geführt wird. Da dies unternehmensspezifisch ist, gibt es keine Blaupause. Jedes Unternehmen findet über die Anwendung des TFC-Modells als Framework eigene Lösungen.

Radikale Meeting-Inventur

Meeting- und E-Mail-Overflow haben viele Firmen längst als Problem erkannt und reflexhaft mit Regeln darauf reagiert: E-Mail-Regeln, Slack-Regeln, Meeting-Regeln etc. Hinterfragt man deren Wirksamkeit, erntet man allerdings Kopfschütteln. Unnötige Meetings frustrieren und demotivieren; umgekehrt zeigen Studien (Kauffeld & Lehmann-Willenbrock, 2012), dass eine hohe Effizienz von Meetings mit Unternehmenserfolgen korreliert. Um Meetings, insbesondere im hybriden Arbeiten, effizienter zu gestalten, braucht es eine kollektive Meeting-Inventur im gesamten Unternehmen. Das lässt sich nicht über Meeting-Regeln lösen, sondern nur über den unternehmerischen Entschluss, Wertschöpfung insgesamt fokussierter zu gestalten, denn die Meeting-Problematik liegt auf der Symptom- und nicht auf der Ursachenebene. Ob Meetings effizient durchgeführt werden, darf künftig nicht mehr dem Zufall oder den Kompetenzen Einzelner überlassen werden; ein unternehmensweites funktionsorientiertes Verständnis von Meetings ist unerlässlich und zentrale Führungsaufgabe.

Fokussierung der Initiativen

Viele Unternehmen starten mehrere Veränderungsprozesse parallel, wie z. B. Leitbildprozesse, agile Führung, New Work, digitale Transformation, Werteprozesse, betriebliches Gesundheitsmanagement, um nur einige zu nennen. Gleichzeitig gibt es operative Initiativen, die isoliert davon ablaufen, u. a. in Vertrieb und Marketing. Das alles spaltet den Fokus und nimmt Energie, zumal diese Prozesse oft nicht in ein strategisches Gesamtkonzept integriert sind. Eine deutliche Reduzierung und Fokussierung der strategischen Initiativen, die in die Unternehmensstrategie übernommen werden müssen, lässt einen roten Faden entstehen und erhöht die Umsetzungswahrscheinlichkeit.

Neue Wertschätzungsanker

Überstunden machen, keine Pausen nehmen, ständig erreichbar sein und eine hohe (Meeting)-Präsenz – das wird von vielen Führungskräften als Engagement wahrgenommen und entsprechend wertgeschätzt. Aus neurowissenschaftlicher Sicht ist das Gegenteil förderlich. Um eine hohe Produktivität, Kreativität und Innovationskraft zu fördern, sollten Führungskräfte die Grundmechanismen von gehirngerechter Führung kennen, die ebenfalls im TFC-Prozess vermittelt werden. Wertzuschätzen, wenn jemand regelmäßig seine Pausen nimmt, so effizient und effektiv arbeitet, dass selten Überstunden notwendig sind, und im Urlaub abschaltet, lässt eine Kultur entstehen, in der konzentriertes, produktives Arbeiten wichtiger ist als ständige Erreichbarkeit – und in der eine hohe Leistungsfähigkeit entsteht (Sonnentag, Venz & Casper, 2017).

Fazit

Arbeiten im digitalen Zeitalter muss gehirngerecht gestaltet werden. Hier setzt das TFC-Modell an, indem es in einem zeitlich sehr komprimierten Remote-Prozess eingeführt und maßgeblich autonom durch das Unternehmen gesteuert wird. Ausgangspunkt ist eine digitale Standortbestimmung, um die Veränderungserfolge gezielt messen zu können. Durch die sofortige Einführung der Fokuszeit wird die Veränderung unmittelbar für jeden positiv erlebbar, was erfahrungsgemäß dazu führt, dass der zu beobachtende Kulturwandel nicht mehrere Jahre dauert, sondern schon nach dem Durchlaufen des Prozesses erreicht wird.

 

 

Vera Starker
MBA, Wirtschaftspsychologin, Autorin und Co-Founderin des Berliner Think Tanks Next Work Innovation

Dr. Eva Bracht
Beraterin, Netzwert Partner GmbH

Dr. Katharina Roos
Expertin für Unternehmensbefragungen, Geschäftsführerin Netztwert Partner GmbH

Prof. Dr. Rolf van Dick
Professor für Sozialpsychologie, Wissenschaftlicher Direktor des «Center for Leadership and Behavior in Organizations» (CLBO) und Vizepräsident an der Goethe Universität Frankfurt

 

Literatur

• Busch, V. (2021). Kopf frei. Wie Sie Klarheit, Konzentration und Kreativität gewinnen, 153-154.
• Cao et. al (2021). Large Scale Analysis of Multitasking Behavior During Remote Meetings, Proceedings of the 2021 CHI Conference on Human Factors in Computing Systems.
• Kauffeld, S. & Lehmann-Willenbrock, N. (2012). Meetings Matter: Effects of Team Meetings on Team and Organizational Success, Small Group Research, 43(2), 130-158.
• Sonnentag, S., Venz, L. & Casper, A. (2017). Advances in recovery research: What have we learned? What should be done next? Journal of Occupational Health Psychology, 22(3), 365-380.
• Starker et. al (2022). Kosten von Arbeitsunterbrechungen für deutsche Unternehmen. Auswirkungen von Fragmentierung auf Produktivität und Stressentwicklung. Wissenschaftlicher Beirat der Studie: Prof. Dr. Volker Busch und Prof. Dr. Rolf van Dick.
• Starker, V. & Schneider, M. (2020). Endlich wieder konzentriert arbeiten! Wertschöpfung im digitalen Zeitalter wirklich, wirklich neu denken. The Focused Company. New Work-Book für Unternehmen, Rossberg.


Jugend macht Zukunft

Die Veränderungskraft der jüngeren Generationen

Vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung als Jugendforscher hat unsere Redakteurin Dr. Brigitte Winkler mit Professor Dr. Dr. h.c. Hurrelmann darüber gesprochen, welche Veränderungen durch die besonderen Charakteristika der nachfolgenden Generationen Y und Z für Organisationen und Gesellschaft erwartbar sind.

ZOE: Herr Prof. Hurrelmann, seit vielen Jahren erforschen Sie die Werte und Einstellungen nachkommender Generationen. In Ihrem letzten Buch «Generation Greta» betonen Sie: «Jugendforschung ist Zukunftsforschung. Lange bevor Entwicklungen die gesamte Gesellschaft erfassen, sind sie schon aus Jugendstudien herauszulesen». In diesem Gespräch möchten wir mit Ihnen extrapolierend in die Zukunft schauen, um besser zu verstehen, welche Veränderungen von nachfolgenden Generationen zu erwarten sind. Wenn Sie kurz die Unterschiede zwischen den Millennials (Generation Y) und den Post-Millennials (den nach der Jahrtausendwende Geborenen) beschreiben müssten? Was sind die Besonderheiten beider Generationen? Worin unterscheiden sie sich?

Hurrelmann: Es ist interessant zu sehen, dass sich innerhalb so kurzer Zeit die Lebensbedingungen, und damit ja auch die prägenden sozialen, politischen, wirtschaftlichen und technischen Ausgangsbedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung stark geändert haben. Zusammengefasst kann man sagen, dass wir eine deutliche Wende in der Mentalität einer jungen Generation vorfinden. Die Jahre um die Jahrtausendwende herum stellen eine generationale Wasserscheide dar. Wer davor geboren wurde, lebte in unsicheren Zeiten, die  Generation Y noch deutlicher als die Generation X, die der Baby Boomer-Generation folgte, die zwar wirtschaftliche Unsicherheit erfuhr, aber noch einigermaßen ökonomisch abgesichert war. Die Generation Y (d. h. die ca. zwischen den Jahren 1980 und 2000 Geborenen)  erlebte zahlreiche Krisen: die Anschläge in New York, den GAU im Atomkraftwerk von Fukushima und – sehr wichtig für junge Leute – die Wirtschaftskrise. Für jede Generation ist es ganz entscheidend für ihre Zukunftssicht, wie die beruflichen Perspektiven sind. Für die Generation Y war diese Perspektive sehr unsicher und vernebelt.

ZOE: Was hat sich denn in so kurzer Zeit für die unter 25-Jährigen verändert?

Hurrelmann: Sie mussten zwar die Corona-Krise in ihrer Ausbildungsphase beim Übergang in den Beruf ertragen und jetzt auch noch den Krieg in der Ukraine, jedoch – und das ist ganz entscheidend – sie haben keine wirtschaftlichen Sorgen. Ihre beruflichen Chancen sind sehr gut. Das liegt zum einen an der konjunkturellen Lage, zum anderen daran, dass sie vom Austritt aus dem Berufsleben der Baby-Boomer-Jahrgänge profitieren. Das waren Jahrgänge von 1,4 Millionen Kopfstärke. Heute haben wir Jahrgänge von maximal 750.000 pro Kopf in Deutschland. Davon profitieren die Jüngsten. Waren die vor dem Jahr 2000 Geborenen noch Krisenkinder mit beruflicher Unsicherheit und dementsprechend zu opportunistischen, karrieretaktischen Verhaltensweisen angehalten, hat sich nach der  Jahrtausendwende viel  geändert. Die heutige Generation Z erlebt zwar eine dichte Folge von existenziellen Krisen, was an die Psyche geht, jedoch sind die beruflichen Chancen groß. Auch der Angriffskrieg von Russland gegen die Ukraine hat daran bisher nichts geändert und es sieht nicht so aus, als könnte das noch passieren. Aus unseren früheren Generationsstudien können wir entnehmen, dass eine Generation, wenn sie wirtschaftlich den Rücken frei hat, sich ihrer Position in der Gesellschaft bewusst wird. Daher agiert die Generation Z so politisch, wie wir es schon lange nicht mehr gehabt haben.

ZOE: Welche Veränderungen in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, ökologischer, politischer Hinsicht werden von beiden Generationen (Z und Y) Ihrer Meinung nach ausgehen, je mehr diese in der Arbeitswelt und in politischen und gesellschaftlichen Funktionen Fuß fassen? Was ist schon jetzt absehbar?

Hurrelmann: Sie haben völlig Recht, für viele Aspekte gelten die folgenden Ausführungen nicht nur für die Generation Z, sondern auch für die vor dem Jahr 2000 Geborenen der Generation Y, weil sich die wirtschaftliche Situation im Laufe der Berufsjahre für sie selbstverständlich auch deutlich gebessert hat und sie mittlerweile das Gefühl haben, am Arbeitsmarkt gebraucht zu werden. Grundsätzlich wünschen sich alle unter 30-Jährigen einen guten gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie reagieren empfindlich auf einen Bruch von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, z. B. während der Corona-Pandemie, wenn sich Gruppen nicht an Regeln halten. Sie sind in ihrem persönlichen Leben durchaus familienfreundlich; sie wollen eine Familie gründen, obwohl sie merken, wie schwierig das ist. Die Motivation für eine Familiengründung ist jedoch bei jungen Frauen deutlich höher als bei den jungen Männern. In jeder jungen Generation ist dieser Wunsch bei 75 Prozent da. Bei den unter 35-Jährigen ist er jedoch noch stärker damit verbunden, dass sie hohe Erwartungen an ihre Lebens- und Arbeitsqualität setzen. Sie wollen einen Arbeitsplatz, der sinnvoll ist, der Spaß macht, Sicherheit und ein gutes Gehalt bietet und der auf ihre ganz persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten ist. Unter den Krisenbedingungen wurden materielle Faktoren nochmals bedeutsamer. Die Vereinbarkeit von privatem und beruflichem Leben ist ein ganz starkes Motiv, das von diesen jungen Leuten ausgeht.

Die Jüngeren setzen in allen Bereichen gesellschaftlich, wirtschaftlich, ökologisch und politisch neue Akzente.

Da die jüngeren Generationen digital groß geworden sind, prägt das ihre gesamte Mentalität im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Denken. Sie gehen davon aus, dass im Grunde alles über digitale Plattformen machbar ist und schauen irritiert auf die ältere Generation, die sich das so gar nicht vorstellen kann. Zugleich haben sie eine eingebaute Burn-out-Sperre und möchten nicht, dass der Beruf durch die digitale Erreichbarkeit in ihr Privatleben zu stark eingreift und das Privatleben vom Berufsleben «drangsaliert» und eingeschränkt wird.

Ökologisch ist die Generation Z sehr aktiv. Fast 40 Prozent der jungen Leute unter 25 halten beispielsweise die Fridays for Future-Bewegung für sehr bedeutsam. In ihrem Alltagsleben und auch bei der Berufs- und Arbeitswahl spielen ökologische Kriterien des Klimaschutzes eine enorme Rolle. Sie fordern kollektive Unterstützung durch politische Entscheidungen, um ihr eigenes Leben in den Bereichen Mobilität, Ernährung und Nutzung von wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen Ressourcen ökologisch sinnvoll steuern zu können. Damit sind sie politisch gesehen eine sehr, sehr anspruchsvolle junge Generation, die den Eindruck hat, dass die politischen Machthabenden sie übersehen, auf ihre Interessen nicht sorgfältig genug eingehen, sie teilweise sogar ignorieren. Demzufolge besteht eine Distanz zu den großen, etablierten Parteien, die für sie bürokratische Machtapparate sind. Sie präferieren flexible, überschaubare Strukturen. Deswegen treten sie lieber einer Bewegung als einer Partei bei. Damit setzen die Jüngeren in allen Bereichen gesellschaftlich, wirtschaftlich, ökologisch und politisch neue Akzente. Sie unterscheiden sich stark von den «Macher-Jahrgängen» der Baby Boomer, die jetzt aus dem Berufsleben ausscheiden und die alles – wie beispielsweise die demokratischen Prozesse und Unternehmen – aufgebaut und strukturiert haben, wie sie heute sind. Noch immer stellen sie in vielen Organisationen etwa 50 Prozent der Belegschaft dar und wissen, wie man Macht ausübt. Sie haben Erfahrung und Einfluss, aber kommen definitiv aus einer anderen Welt und denken anders. Und diese Unterschiedlichkeit erzeugt auch in Unternehmen Spannungen zwischen den Generationen.

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Klaus Hurrelmann – Biografie

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann wurde 1944 geboren und studierte in Berkeley, Münster und Freiburg. Er ist Sozialwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Jugend-, Bildungs- und Gesundheitsforschung. Er wurde 1975 zum Professor an der Universität Essen ernannt und wechselte 1979 an die Universität Bielefeld. Seit dem Jahr 2009 arbeitet er als Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School in Berlin. Er ist Senior Expert am Berliner Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS). Hurrelmann leitete mehrere Familien-, Kinder- und Jugendstudien, zuletzt zur Berufsorientierung und zum Finanzverhalten von jungen Erwachsenen. Er gehört seit dem Jahr 2002 dem Leitungsteam der Shell Jugendstudien an und begründete die World Vision Kinderstudien. Er hat zahlreiche Lehr- und Handbücher in deutscher und englischer Sprache veröffentlicht. Mit dem Journalisten Erik Albrecht hat er 2020 das Buch «Generation Greta» geschrieben, das 2021 in englischer Adaption unter dem Titel «Gen Z Between Climate Crisis and Coronavirus Pandemic» erschienen ist.

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ZOE: Viele Führungskräfte bemängeln, dass die jüngeren Generationen einerseits anspruchsvoll sind, was ihre Arbeitsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten betrifft, jedoch gleichzeitig nicht bereit sind, metaphorisch gesprochen auch mal die «Extra-Meile» zu gehen. Ist das aus Ihrer Sicht nur ein Vorurteil oder spiegelt sich das auch in Ihren Erhebungen?

Hurrelmann: Die Generation der Baby Boomer, deren Denk- und Arbeitsweise in Unternehmen und Politik noch stark dominieren, steht irritiert und fassungslos davor, wie diese jüngeren Generationen sich ein Arbeitsleben vorstellen. Sie beobachten kein Durchhaltevermögen, keine Bereitschaft, das Privatleben zurückzustellen, wenn mal im Berufsbereich etwas Dringliches ansteht, wenig Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen oder gar Überstunden zu machen, um den Anforderungen des Arbeitsalltags gerecht zu werden. Das ist natürlich für die disziplinorientierten, arbeitsbewussten, fleißigen und ehrgeizigen Baby Boomer ein Unding. Sie können mit dieser Haltung überhaupt nichts anfangen und glauben, dass dadurch die weitere wirtschaftliche Entwicklung ihres Unternehmens gefährdet ist. Es lässt sich nicht leugnen, dass diese Einstellung bei den jungen Leuten da ist. Gleichzeitig muss man sich immer klarmachen, dass die Arbeitsweise in den Unternehmen durch die nach wie vor dominierende Baby Boomer-Generation geprägt wird. Und die jungen Leute wollen sich hiervon absetzen. Sie wollen nicht den gleichen Lebensrhythmus und Lebensstil haben, sondern eine größere Lebensqualität. Da sie zwar in Krisenkonstellationen groß geworden sind, jedoch trotzdem nie in eine wirtschaftliche Existenzkrise geraten sind und jetzt auch deutlich ihre Chancen spüren, sind sie in dieser für uns Älteren erscheinenden verwöhnten Position und können sich das auch leisten. Das bedeutet für Unternehmen, dass sie darauf eingehen und die jungen Leute da abholen müssen, wo sie stehen. Das heißt, ihre Verhaltensweisen erst einmal so zu akzeptieren, um sie an das Unternehmen heranzuführen und zu vermitteln, wie das Unternehmen im Kern tickt. Ihre Bereitschaft, sich durch den Sinn der Arbeit faszinieren zu lassen, ist da. Sie interessiert, wofür das Unternehmen steht und was zur Herstellung des Produkts oder der Dienstleistung nötig ist. Wenn es gelingt, dass der Funke überspringt und jüngere Mitarbeitende die Chance erhalten, einen Teil mitzugestalten oder noch besser neu zu gestalten, dann sind die Stärken der jüngeren Generationen, wie z. B. ihre digitale Affinität, Multitaskingfähigkeiten und dass sie bestimmte neue Kommunikationsformen flexibel bedienen können, gut nutzbar. Dann verändern sie ihre verwöhnte Komforthaltung und lassen sich auf das Unternehmen ein.

ZOE: In gewisser Weise reflektiert die Lebens- und Arbeitseinstellung der jüngeren Generationen das, was sich der Großteil der Menschen ebenfalls wünscht. Sinnvolle Arbeit, die Spaß macht, die auf die persönlichen Bedürfnisse zugeschnitten ist und sich gut mit dem Privatleben vereinbaren lässt. Jedoch, die Realität stellt sich anders dar. Erträge müssen erwirtschaftet werden. Die (digitale) Infrastruktur der Organisation, die jüngere Generationen mit Berufseintritt mitnutzen können, muss erst einmal aufgebaut werden. Ohne die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, entstehen auch keine verbindlichen Strukturen usw. Wie stellt sich die jüngere Generation den Aufbau, Erhalt und die zukunftsfähige Weiterentwicklung von Organisationen vor. Was ist deren Gegenmodell?

Hurrelmann: Es gibt kein ausgearbeitetes Gegenmodell, sondern Wunschvorstellungen von der eigenen Arbeits- und Lebensgestaltung: Etwas zu machen, was den persönlichen Neigungen entspricht, was Sinn macht, was Erfüllung bringt und gleichzeitig eine passable wirtschaftliche Existenz sichert. Zugegebenermaßen kann das weit von dem entfernt sein, wie zurzeit die Arbeitsstrukturen sind. Daher ist es so wichtig, jüngere Mitarbeitende dahin zu führen, worum es im Unternehmen im Kern geht. Dann kann sich an dieser Einstellung auch etwas verändern. Dadurch kann die durchaus vorhandene Bereitschaft der jüngeren Generationen abgerufen werden, etwas zu tun, was ihnen persönlich auf den Leib geschneidert ist. Sie haben sich ja meist sehr bewusst für einen Beruf entschieden, der ihren ganz persönlichen Interessen und Neigungen entspricht. Gleichzeitig wittern sie überall Fremdbestimmung. Sie haben den Eindruck, dass nicht ihre Maßstäbe zählen, sondern die Maßstäbe von den Älteren, die als Sachzwänge dargestellt werden. An Sachzwänge glauben sie zunächst nicht, sondern sie gehen von der kühnen Vorstellung aus, dass man auch alles anders machen könnte.

ZOE: Basierend auf Ihren Forschungen: Hält mit den jüngeren Generationen Y und Z auch eine andere Arbeitskultur und Einstellung zu Leistung und Verantwortung in die Arbeitswelt Einzug? Welche mentalen Modelle zur Gestaltung von Führung und Zusammenarbeit prägen Ihren Erkenntnissen nach diese jüngeren Generationen?

Hurrelmann: Für die jüngeren Generationen ist alles Digitale völlig selbstverständlich. Und das Potenzial dieser Haltung darf man nicht unterschätzen. In der digitalen Welt bewegen sich die jungen Leute mit Unbefangenheit, Intuition und Spaß, teilweise auch schon mit soliden digitalen Kompetenzen, die sie sich einfach durch die rege Nutzung der digitalen Anwendungen schon angeeignet haben. Wenn dann durch Weiterbildung noch mehr digitale Kompetenztiefe erlangt werden kann, ist das eine wichtige Investition, um die Digitalisierung in Organisationen voranzutreiben. Auch bringen sie einen viel kollegialeren Umgang miteinander mit. Sie wünschen sich ein gutes Betriebsklima ohne Hierarchien, mit entspannten Umgangsformen, so wie sie es durch ihre digitalen Interaktionen gewöhnt sind. Sie würden sich, wenn sie das selbst entscheiden können, für die Ansprache per Du entscheiden, die aber symbolisch bedeutet, wir sind gleich, wir arbeiten auf einer Ebene. Die Kehrseite davon ist, dass die Bereitschaft, in den traditionellen Mustern Karriere zu machen, gering ist. Hier ist zu überlegen, wie sich Führungskräfte in dieser jüngeren Generation entwickeln können, wenn ein starkes Kollegialitätsprinzip, basisdemokratische Vorlieben und eine deutlich zu erkennende Hierarchiephobie die Einstellung prägen. Man möchte im Team arbeiten, darin seine eigene Rolle haben und wichtig genommen werden – sozusagen vom ersten Tag an, ohne sich eingearbeitet zu haben. Das ist das Anmaßende da dran.

ZOE: Was würden Sie nun Führungskräften für den Umgang mit den jüngeren Generationen empfehlen? Wie kann der Einarbeitungsprozess gestaltet werden, denn es ist ja unzweifelhaft, dass auch diese Generation beim Eintritt ins Berufsleben noch nicht alles kann.

Hurrelmann: Es ist wichtig, die jüngeren Kolleg*innen an ihre Rolle heranzuführen. Jedoch darf das nicht den Charakter haben von etwas «beibringen», so nach dem Motto – «ich erkläre dir, wie das hier läuft, denn du hast keine Ahnung». Das wird von den jungen Leuten nicht akzeptiert. Da fühlen sie sich fremdbestimmt, denn sie sind digital groß geworden und konnten sich vieles selbst erarbeiten. Sie sind es eben nicht gewohnt, dass ihnen jemand sagt, was zu tun ist oder wie man etwas macht, sondern sie haben die Fähigkeit, sich das selbst zu erschließen. Daher sollte man sie mitnehmen und dazu einladen, dass sie sich etwas erarbeiten. «Wir stehen hier vor folgenden Herausforderungen. Wir haben das bisher so gelöst, wir wissen nicht, ob es vielleicht auch anders zu lösen ist, du bist eingeladen, daran mitzudenken, ich erkläre dir wie wir es bisher gemacht haben. Wir sind jedoch für alles offen, wenn wir merken, dass wir umgestalten müssen, und du bist eingeladen, mit nachzudenken.» Das zu beschreiben, was zu erarbeiten ist, das wäre die Aufgabe einer Führungskraft.

ZOE: Spricht man mit älteren Führungskräften, so schildern diese ihre Beobachtung, dass die junge Generation zwar Feedback möchte, dabei jedoch unheimlich Feedback-sensibel ist. Man müsse sehr aufpassen mit Kritik und kann auch nicht alles sagen, was verbesserungswürdig wäre. Deckt sich das mit Ihren Beobachtungen?

Hurrelmann: Auch hier hilft zum besseren Verständnis dieser Verhaltensweisen, sich typische Generationsmuster bewusst zu machen. Viele der jüngeren Generationen, und hier vor allem Jungen, haben intensiv Zeit mit Videospielen verbracht, die einen bestimmten Aufbau haben. Man durchläuft bestimmte Aufgabenläufe, bekommt Rückmeldung und einen Anreiz, wie man in die nächste Runde kommt, um die nächste Herausforderung zu bewältigen. Das alles läuft spielerisch ab und gleichzeitig im Wettbewerbsszenario, was das Durchhalten erleichtert. Jedoch im Kern ist das völlig anders als bei den über 45-Jährigen, die gelernt haben, solange an einer Sache dran zu bleiben, bis der Erfolg eintritt. Je mehr man daher von diesen Gamificationprinzipien in den Unternehmensablauf einbeziehen kann, desto eher erreicht man die jüngere Generation. Natürlich geht das nicht an jedem Arbeitsplatz, aber was spricht dagegen, mit entsprechenden Anreizen und Feedback-Methoden das Interesse und Durchhaltevermögen zu steigern?

ZOE: Also lieber Challenges kreieren als über Beurteilungssysteme zu gehen?

Hurrelmann: Ja, absolut. Rückmeldungen zu dem zu erhalten, was man kann und was noch nicht, sind durchaus beliebt. Aber nicht durch Vorgesetzte, die einem das sagen, sondern erneut durch die Möglichkeit, sich das in Eigenaktivität selbst zu erarbeiten. Beispielweise durch das Angebot von unabhängigen Potenzialanalysen, die dieses Feedback ermöglichen und zugleich bei Bedarf ein Beratungsangebot bereithalten, wie Stärken weiterentwickelt und Schwächen ausgeglichen werden können. So muss das angelegt sein. Demgegenüber findet die Rückmeldung des Vorgesetzten auf der Hierarchieebene statt, gilt daher nicht selbst erschlossen und wird schnell abgelehnt.

ZOE: Wie können Unternehmen die jüngeren Generationen beim Einstieg in den Beruf unterstützen bzw. was macht Unternehmen für die jüngere Generation besonders attraktiv?

Hurrelmann: Grundsätzlich kann man aus allen Studien ablesen, dass die jüngeren Jahrgänge den eigenen Eltern gegenüber sehr zugewandt sind. Das überträgt sich auch auf die mittlere Generation. Zu den Eltern bleibt ein sehr enges Verhältnis bestehen, selbst wenn man nicht mehr zusammenlebt. Die Eltern werden zu den wichtigsten Berater*innen. Es wird keine Berufsentscheidung, keine Karriereentscheidung, keine Weichenstellung im Leben ohne die Eltern getroffen. Bei der derzeitigen Vielfalt von Optionen, jedoch auch vor dem Hintergrund der starken psychischen Belastungen und Unsicherheiten, möchte man als junger Mensch sich mit jemandem beraten, der nicht parteiisch ist. Und genauso werden die Eltern gesehen: Sie denken aktiv für einen mit, «schwätzen einem nichts auf» und spielen daher eine ungeheuer wichtige Rolle. Unternehmen sind gut beraten, das mit im Auge zu haben. Eventuell lohnt es sich sogar, mit den jungen Leuten offen darüber zu reden, ob die Eltern in wichtige Zusammenhänge einbezogen werden sollen. Dies weitergedacht könnten Unternehmen ihre Attraktivität erhöhen, wenn sie unparteiische und freiwillige Beratungsangebote für das Management von schwierigen Situationen offerieren. Diese müssen jedoch ohne moralischen Unterton und nicht von oben herab gestaltet sein. Schließlich müssen die jungen Menschen, die in einer komplexen gesellschaftlichen Situation groß geworden sind, existenzielle Krisen wegstecken. Das tun sie auf ihre Weise auch tapfer, aber das hinterlässt natürlich Spuren. Hier gibt es schon Modelle, wo Unternehmen für eine Pauschalgebühr Beratungsleistungen von einem neutralen dritten Anbieter einkaufen. Das wird sehr wertgeschätzt, weil eben der Beratungs- und Unterstützungsbedarf hoch ist, man jedoch als junger Mann oder junge Frau im Unternehmen das nicht so ohne weiteres findet oder manchmal auch gar nicht erst sucht. Es kommt eine sehr sehr innovative, offene, aber durch ihre Eltern sehr verwöhnte junge Generation in die Unternehmen, die jedoch Unterstützung benötigt. Wenn das ein Unternehmen glaubwürdig und ohne direkte Verbindung mit dem Arbeitserlebnis anbieten kann, dann wird das unter Garantie von den jüngeren Mitarbeitenden sehr gewürdigt und das Unternehmen kann hier punkten. Das gilt übrigens ebenso für Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Gerade junge Frauen, die inzwischen ja als Leistungsträgerinnen angesehen werden und teilweise von ihren Ausbildungsabschlüssen her erheblich besser sind als die jungen Männer, schätzen diese Komponente außerordentlich. Und da jedes Unternehmen möglichst viele von diesen kreativen jungen Frauen attrahieren möchte, hebt das Angebot der Vereinbarkeit von Familie und Beruf natürlich die Arbeitgeberattraktivität für diese Zielgruppe.

ZOE: Sie hatten vorhin bereits mögliche Spannungen zwischen Generationen angesprochen. Auf Basis Ihres Verständnisses der jüngeren Generationen, an welchen Stellen denken Sie denn, dass sich Konflikte entwickeln könnten?

Hurrelmann: Wir sehen in allen Studien, dass die junge Generation zwar gegenüber Älteren sehr aufgeschlossen ist, jedoch teilweise kein Verständnis für deren typische Grundhaltungen hat. Baby Boomer und junge Menschen unter 35 sind in sehr unterschiedlichen Welten groß geworden. Und entsprechend ist die gegenseitige Toleranz bei manchen Haltungen nicht mehr gegeben. Hier liegen die größten Spannungen, die auch in Unternehmen beachtet werden müssen. Die beiden Generationen eint zwar, dass sie jeweils gute Berufschancen hatten, jedoch unter völlig anderen Bedingungen, ohne die digitale Flexibilität und die damit verbundene Eigenständigkeit, die von den jüngeren Generationen immer wieder eingefordert wird. Man will sich Dinge selbst erarbeiten und andere sollen gefälligst nicht sagen, wie man das macht, sondern allenfalls Hinweise geben und coachen, aber nicht vorschreiben, wie es zu machen ist. Und da sind die Baby Boomer, die – weil sie eben alles aufgebaut haben, weil sie wissen, wie man es macht – keine guten Ratgeber*innen. Zumal die Baby Boomer auch vieles nicht nachvollziehen können, wie z. B. die mangelnde Konzentrationsfähigkeit und Ausdauer, die Nicht-Bereitschaft, Privatleben zurückzustecken zugunsten des Unternehmens und so weiter. Das beinhaltet alles Potenzial für Spannungen. Das ist eine Herausforderung, der sich ein Unternehmen stellen muss. Wenn die Baby Boomer jetzt schrittweise aus dem Beruf aussteigen, schwindet ihre Macht und dadurch die Definition dessen, was im Unternehmen zählt. Mit dem unvermeidlichen Effekt, dass dann die jüngere und mittlere Generation zunehmend in die Verantwortung kommt und am Ende natürlich auch an ihrer erfolgreichen Führung von Organisationen und an den Ergebnissen gemessen werden wird. Diese unterschiedliche generationale Lagerung taucht in jedem Unternehmen, aber natürlich auch in der Politik auf.

ZOE: Ihr letzter Gedanke in Ihrem Buch «Generation Greta» lautet: «Wer die Generation Greta ernstnimmt, kommt nicht umhin zu denken, hätten wir doch früher auf sie gehört, denn das Klima ist erst der Anfang.» Was macht Sie hoffnungsvoll bezüglich der Veränderungskraft der nachfolgenden Generationen?

Hurrelmann: Es macht mich hoffnungsvoll, dass die junge Generation Themen betont, die in jedem Management-Lehrbuch als zukunftsweisend gelten: der intuitiv offene Zugang zur Digitalisierung, die Ablehnung von formalistischen Hierarchien, der kollegiale Umgang, die Betonung von Betriebsklima, Eigeninitiative, Sinnsuche und persönlicher Beteiligung am Arbeitsprozess. Jeder Mitarbeitende ist anders, und als Führungskraft muss man auf diese unterschiedlichen Stärken und Schwächen eines Menschen eingehen und den richtigen Platz für die Menschen im Unternehmen suchen. Genau das wollen diese jungen Leute ja erreichen, jedoch wehren sie sich dagegen, wenn ihnen das in einer frühen Phase, in der sie noch Novizen sind, nicht zugestanden wird. Und das ist vielleicht auch das Missverständliche.
Wenn wir jedoch in der Lage sind, souverän auf sie zu hören und sie so beteiligen, wie wir das im Gespräch hier an mehreren Beispielen diskutiert haben, dann kann das nur zum Vorteil des Unternehmens sein. Angehörige einer jungen Generation haben natürlich einen ganz anderen Blick auf die Zukunft, und sie reflektieren und spüren mit ihrer Grundhaltung in gewisser Weise seismographisch, welche Entwicklungen kommen und wichtig sind. Gut gefiltert dies bei Entscheidungen zu berücksichtigen und in den Unternehmensalltag einfließen zu lassen, wird das den Unternehmen nicht schaden. Und da die jungen Frauen, ich habe es schon angedeutet, bei den Jüngeren besonders dominieren, ist das auch immer damit verbunden, dass man sensibel auf ihre Einschätzungen und Akzente achtet. Auch das hat Unternehmen noch nie geschadet. Aus vielen Untersuchungen wissen wir, dass eine stärkere Beteiligung von Frauen am betrieblichen Leben, auch in die Führungsetagen hinein, einem Unternehmen sehr gut bekommt.

ZOE: Woraus zieht die jüngere Generation ihre Veränderungskraft?

Hurrelmann: Diese speist sich aus dem Willen, dass sie ihre Idee von einem sinnvollen und nachhaltigen Leben und Arbeiten umsetzen kann. So utopisch und so realitätsfern das aus heutiger Sicht erscheint – diese Vision kann für Unternehmen und die Gesellschaft neue, wichtige Entwicklungsimpulse hervorbringen.

ZOE: Herr Professor Hurrelmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hurrelmann
Professor of Public Health and Education, Hertie School of Governance

 

Literatur:

Hurrelmann, K. & Albrecht, E. (2020). Generation Greta. Was sie denkt, wie sie fühlt und warum das Klima erst der Anfang ist. Beltz.
Schnetzer, S. & Hurrelmann, K. (2022). Jugend in Deutschland – Trendstudie Sommer 2022. Jugend im Dauerkrisen-Modus – Klima, Corona, Krieg. Datajockey.

 


Die neue Impact Economy

Eine wachsende Bewegung von Unternehmen macht Nachhaltigkeit und Enkelfähigkeit zum neuen Paradigma der nächsten Wirtschaft

Es gibt sie: die Unternehmen, die Impact erzeugen – und Unternehmensführungen, welche Verantwortung in einer ökologischen sozialen Marktwirtschaft übernehmen. Sie sind Vorboten einer nächsten Wirtschaft, die konsequent auf die konkreten Probleme der Menschheit ausgerichtet ist: Die sogenannte Impact Economy denkt Herausforderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt radikal neu.

Impact Economy bedeutet die Gestaltung einer Wirtschaft, in der es nicht darum geht, zu gewinnen oder zu verlieren, sondern möglichst lange mitzuspielen. Die planetaren Grenzen setzen den Rahmen für ein wertorientiertes Wirtschaften. Geld verdienen ist dann primär ein Mittel für das, was wirklich zählt: ein gutes Leben für alle – Menschen und Umwelt. Ein Modell für die Erfassung des Impacts liefert die Wirkungstreppe (Abbildung 1).

Dies sind die wichtigsten Wegbereiter dieser nächsten Ökonomie:
Impact Investing: Nachhaltiges Investieren, das auf direkte, messbare gesellschaftliche und ökologische Wirkungen zielt. Ausschlaggebend sind die ESG-Kriterien: Environmental (ökologische Nachhaltigkeit), Social (soziale Nachhaltigkeit) und Governance (nachhaltige Unternehmensführung). In Deutschland stieg das Vermögen nachhaltiger Fonds zwischen 2017 und 2021 von 83 Euro auf 361 Milliarden Euro an, global von 2,1 auf 4,1 Billionen Euro (vgl. Handelsblatt 5.11.2021).
Impact statt Exit: Die Start-up-Szene wird enkelfähig, viele Gründende haben das Streben nach möglichst schnellem Wachstum satt. Der Begriff des Einhorns für Unternehmen, die eine Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar erreichen, wurde überstrapaziert. Schon 2017 formulierten vier Gründerinnen deshalb die alternative Idee des Zebras: «Zebras fix what Unicorns break» (vgl. Brandel et al. 2017). Bereits seit 15 Jahren verfolgt der Impact Hub in Wien das Ziel «Building better Business»: Die weltweit mehr als 100 Impact Hubs unterstützen Sozialunternehmen, die sich an sozialen und ökologischen Werten orientieren (impacthub.net). In Deutschland hat sich die noch junge Impact Factory zu einem europäischen Hot Spot für Impact Start-ups entwickelt (impact-factory.de).
Gemeinwohlökonomie (GWÖ): Die GWÖ beschreibt eine neue, nachhaltige Wirtschaftsform, geleitet von der Vision «Gut leben in einer Welt, in der die Wirtschaft im Einklang mit ethischen Werten ist». Unternehmen oder Organisationen, die nachhaltig und sozial wirtschaften, können ihr Wirken mit der Gemeinwohl-Matrix messen und in einer Gemeinwohl-Bilanz publizieren – mehr als 2.000 Organisationen tun dies bereits (ecogood.org).
B Corporations: Das «B Corp Movement» ist eine wachsende globale Bewegung von Unternehmen, die seit 2006 eine nachhaltige, soziale und faire Zukunft vorantreiben (bcorporation.net). Inzwischen gibt es mehr als 4.500 zertifizierte B Corporations in mehr als 65 Ländern, darunter bekannte Marken wie Patagonia, The Guardian, Danone Waters, Alpro oder Sympatex. Sie alle teilen die Ansicht, dass Unternehmertum verpflichtet, indem sie ihren sozialen und ökologischen Impact regelmäßig messen und kontinuierlich verbessern.
Value Balancing Alliance: Die Initiative, die auf eine Kooperation der Konzerne BASF, Bosch und Novartis mit den Universitäten Oxford und Harvard zurückgeht, vereint multinationale Unternehmen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: die Übersetzung von ökologischen und sozialen Auswirkungen in vergleichbare Finanzdaten – Kennzahlen, die klassische Unternehmensbilanzen bislang nicht widerspiegeln können (valuebalancing.com).
Das Geno-Prinzip: Eine altbekannte Organisationsform hat den Impact-Faktor von Beginn an eingebaut – die Genossenschaften. Das Geno-Prinzip lautet: Was einer allein nicht schafft, können viele zusammen schaffen. Genossenschaften stehen als Wertegemeinschaften ihrer Mitglieder für kooperatives und solidarisches Wirtschaften in Reinkultur. Werte wie Selbstverantwortung, Demokratie, Ehrlichkeit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Vertrauen spielen eine zentrale Rolle – und klingen wie eine Blaupause für die Idee des enkelfähigen Wirtschaftens. Kein Wunder, dass Genossenschaften heute eine Renaissance erleben. 2016 zeichnete die UNESCO die Genossenschaftsidee und -praxis als immaterielles Kulturerbe der Menschheit aus. Weltweit gibt es heute rund drei Millionen Genossenschaften mit mehr als einer Milliarde Mitglieder (in Deutschland sind es rund 7.800 Genossenschaften mit 22,7 Millionen Mitgliedern). Global schaffen Genossenschaften über 100 Millionen Arbeitsplätze – 20 Prozent mehr als multinationale Konzerne.
Die beschriebenen Bewegungen sind nur einige von zahlreichen Impact-Initiativen – die Liste lässt sich ergänzen z. B. durch die Entrepreneurs for Future (denen sich mehr als 5.000 Unternehmen angeschlossen haben, entrepreneurs4future.de), die Leaders for Climate Change (mehr als 1.500 Unternehmen, lfca.earth), Climate Pledge (theclimatepledge.com) oder die Stiftung 2° – Deutsche Unternehmen für Klimaschutz (stiftung 2grad.de). Alle diese Beispiele zeigen, dass die Impact Economy bereits Realität ist. Sie wächst und sie steckt an, indem sie Menschen und Unternehmen begeistert, Verantwortung für nachhaltige Zukunftsfähigkeit zu übernehmen.

Der Übergang zu enkelfähigem Wirtschaften

Die gute Nachricht der Impact Bewegung ist oben skizziert. Die weniger gute Nachricht: es sind noch viel zu wenige Unternehmen, die sich nachhaltig auf den Weg gemacht haben. Jahrzehnte nach dem Big Boom des Konsumkapitalismus geraten wir in eine neue Phase, in der sich der unternehmerische Beziehungsradius erweitert. Eine neue Beziehung des Kapitals zu Gesellschaft, Natur und Individuen entsteht, eine neue Ausrichtung von Innovationen – die nun einen echten Beitrag zur Lösung von Problemen liefern können und müssen, die früher der Politik oder der Gesellschaft zugeschrieben wurden.

«Die Neuformung von Wirtschaft und Gesellschaft muss zeitnah passieren.»

Die Neuformung von Wirtschaft und Gesellschaft ist notwendig und sie muss zeitnah passieren. Sie gleicht einer Metamorphose: es ist der Sprung auf eine neue Ebene, in einer völlig neuen Umwelt, mit völlig neuen Bewertungskriterien. Um diese Transformation zu schaffen, muss es uns gelingen, die Übergänge (Transitionen) auf das nächste Level zu gestalten. Denn das große Ziel ist zwar klar, wie wir dort hinkommen vielen jedoch noch nicht. Dafür stellt dieser Beitrag das Impact Business Design vor, ein systemisches Vorgehensmodell, welches hilft, nachhaltige Strategien zu designen und umzusetzen.

Die Impact Economy braucht u. a. folgende Übergänge:
• Vom Shareholder Value zum Stakeholder Value,
• von zerstörerischen Marken zu Transforming Brands,
• vom Massenkonsum zu neuem Wachstum,
• vom Raubbau an der Natur zum regenerativen Kreislauf,
• von Gewinnmaximierung zu Purpose,
• vom Zwang wirtschaftlicher Ergebnisse zu gesellschaftlicher
Verantwortung,
• von negativen Finanzhebeln zur positiven Lenkungswirkung
der Finanzmärkte.
Übergänge auf eine neue Ebene sind kein Selbstzweck. So werden einige Unternehmen mit eher leichten Adaptionen auskommen: Sie sind schon lange resilient und adaptiv, nachhaltig «tief aus dem Herzen» und werden auch unter veränderten Umweltbedingungen blühen und gedeihen. Einige davon sind echte Kopföffner, es sind Vor-Macher die zeigen, wie Wirtschaften unter neuen Bedingungen funktionieren kann. Viele andere Unternehmen werden in diesem Jahrzehnt ihre Wertschöpfungsketten auf radikale Weise umbauen und umstellen müssen – oder sie werden vom Markt verschwinden. Das ist an sich nichts Neues, das Spiel nennt sich Wirtschaft. Allerdings sind die Regeln nun andere als in den vergangenen 50 Jahren während der Blütezeiten des fossilen Kapitalismus.

Für die Weltmärkte der Zukunft

Klima-, Umwelt-, und Artenschutz sind Weltmärkte der Zukunft. Es ist Zeit, dass sich Unternehmen, Organisationen und Verbände auf die Chancen konzentrieren, die in den kommenden Jahrzehnten des Klimaschutzes liegen. Die Märkte der Zukunft sind klimaneutral. In der Wirtschaft sehen wir, dass Unternehmen aus unterschiedlichem Antrieb nachhaltige Strategien entwickeln.
Im Äußeren Antrieb
• Die Regulatorik fordert es, z. B. die Finanzmärkte, EU-Taxonomie, CO2 Preis, CSR(D) Reporting und Offenlegungsverordnung, Lieferkettengesetz, ESG u. w. Eine Nichterfüllung zieht massive Schäden und Haftungsrisiken mit sich.
• Die Konsumenten ändern ihr Kauf- und Nutzungsverhalten z. B. bei Lebensmitteln, Verpackungen, Reisen, Mobilität, Wohnen und grundsätzlich im Vertrauen gegenüber Marken, die die Umwelt schonen und derer die sie zerstören.
Im Inneren Antrieb
• Aus der intrinsischen Motivation, dass Wirtschaften nicht gegen die Regeln und auf Kosten der Natur und planetaren Grenzen passieren darf. Das Bewusstsein intrinsisch motivierter Führungskräfte, Vorstände und Geschäftsführer ist höher als bei denjenigen, die meist verspätet auf äußere Antriebe reagieren, statt sie proaktiv zu gestalten.

Die Entwicklung einer wirkungsvollen Strategie ist immer die Verbindung des Äußeren und des Inneren Antriebs. Um nachhaltige Transformation umzusetzen, brauchen Unternehmen ein neues Strategie-Design. Beim Impact Business Design geht es einerseits um die Entwicklung einer nachhaltigen Strategie – keiner Nachhaltigkeitsstrategie – und andererseits um die Gestaltung der Transitionen. Der Schlüssel ist der systemische Ansatz und die Vernetzung des Unternehmens in seine Umwelt mit dessen Auswirkungen. Um ein bestehendes Unternehmen, Geschäftsmodelle oder Produkt nachhaltig zu entwickeln, ist die Impact Business Map eine wirkungsvolle systemische Methode, die wir am Zukunftsinstitut entwickelt haben und die ich nun für die Entwicklung und Umsetzung nachhaltiger Unternehmenstrategien einsetze.

 

Neues Wachstum – nachhaltige Strategien

Die Impact Business Map (Abbildung 2) ist ein Leitfaden für Unternehmen in ihrer Strategieentwicklung. Die Methode führt Unternehmen Schritt für Schritt durch den Prozess.
Impact Pioniere denken in Kontexten des Wandels und integrieren sich in die Welt – und umgekehrt. Daraus speisen sie ihre Kraft – ihren Antrieb – den stärksten Hebel den ein Unternehmen nutzen kann.

Die Wirkung des Antriebhebels

Der Äußere Antrieb umfasst die Veränderungsbewegungen – die Trends und Megatrends aber auch Risiken und Regulatorik. So zeigt der weitreichende Wandel der Trends für Unternehmen neue Grenzen auf – und aktualisiert die Potenzialbewertung. Solange zum Beispiel der Megatrend Neo-Ökologie am Anfang steht, werden Unternehmen der Circular Economy oder der Post Carbon Socitey noch eher kleine Nischenanbieter bleiben. Beschleunigt sich der Megatrend, so wird dieser zum Mega-Antrieb für Unternehmen. Im Weiteren folgt daraus die Fokussierung auf kurz- und mittelfristige Umfeld-Einflüsse: Neben den technologischen und digitalen Einflussfaktoren werden rechtliche, soziale und ökologische Elemente die Geschäftsmodelle der Zukunft bestimmen. Den Kern eines jeden Impact-Unternehmens bildet im Inneren Antrieb der Corporate Purpose also der Unternehmenszweck. Hier geht es nicht um plumpes Purpose-Marketing, sondern um das wirkliche «Wofür»: Wofür wird das Unternehmen benötigt? Nur durch diese Zweckbestimmung kann das Geschäftsmodell eine klare Demarkation vornehmen und zu seiner Identität finden. Sprich: Das Unternehmen kann eindeutig eine Grenze zwischen dem Innenraum und dem Außenraum (Unternehmensumfeld) vornehmen. So entstehen klare Konturen und Rahmenbedingungen. Das enkelfähige Anliegen des Unternehmens wird eindeutig.
Pioniere der nächsten Unternehmensgeneration denken ihr Geschäft immer vom Potenzial nachhaltiger Lösungen, und zwar in drei Dimensionen.

Die Wirkung des Potenzialhebels

Es gibt drei Potenzialhebel nachhaltiger Geschäftsmodelle: Markt, Kunden und Konsumenten, Partner- und Organisationspotenziale. Bei allen dreien ist ein Human-Experience Design handlungsleitend. Dies bedeutet, dass das Potenzial vom Menschen gedacht wird. Dabei hilft z. B. der Lebensstile-Ansatz des Zukunftsinstituts, weil diese die Sicht auf Kund*innen, Partner und Mitarbeiter*innen verändern. Sie beinhalten neben demografischen Merkmalen die Individualität der Lebenssituationen (Bedürfnisse und Motivationen) und bieten so einen Fixstern zur Orientierung. Impact Pioniere denken immer vom Menschen her – und zwar selbstverständlich. Kunden werden in ihren menschlichen Bedürfnissen erkannt und wahrgenommen. Partner werden nicht über Unternehmen definiert – sondern über die Menschen, mit denen man zu tun hat. Und die eigene Organisation wird nicht als Maschine mit Ressourcen bewertet, sondern als soziales System, welches durch die Menschen besteht und seinem inneren Antrieb folgt.

«Partner werden nicht über Unternehmen definiert.»

Zunächst gilt es also, im Potenzialhebel bei den Kundenpotenzialen die Bedürfnisse und Probleme der Menschen zu identifizieren. Hierbei stehen die Menschen im Vordergrund, die im Antriebshebel eine hohe Wirksamkeit aufweisen. Auf Basis der identifizierten Kundinnen können nun die Partnerpotenziale und Organisationspotenziale abgeleitet werden. Bei den Partnern stehen die vorhandenen und benötigten Netzwerke im Vordergrund der Betrachtung, welche ein funktionsfähiges Ökosystem bilden können. Innerhalb der Organisation sind insbesondere Ressourcen, Skills und Haltungen einzuschätzen, um ein erfolgreiches Impact-Geschäftsmodell aufzubauen. Auf Basis dieser lässt sich wiederum das notwendige Organisationsdesign feststellen – nach dem Motto: Form follows Humans. Im dritten Schritt kümmern sich Impact Pioniere um das Angebot und Wertversprechen. Hier folgen sie dem Prinzip des Werthebels.

Die Wirkung des Werthebels

Der Werthebel kommt im Wertangebot zur Geltung. Fokus des Angebots sind die drei Dimensionen Produkt, Dienstleistung und Information. Durch diese Kombination werden Kunden*innen zunehmend an das Unternehmen gebunden, und eine langfristige Beziehung kann entstehen. Das Wertangebot bildet die Basis der Einnahmen und des Profits. Das gesamte Angebot bezieht sich auf die zuvor im Antriebshebel und Potenzialhebel erkannten und definierten Grundlagen: Was treibt uns an? Was bewegt die Welt? Für wen und mit wem können wir unseren Antrieb realisieren? Und erst dann: Welches Wertangebot ergibt sich daraus? Zuletzt gilt es, mit der Wertbotschaft Wirkung und somit Resonanz in den Kommunikations-Kanälen zu schaffen. Auch hier ist ein Fokus auf Basis der Bedürfnisse-Typologie empfehlenswert, um die Kernaussagen der Angebote passend zu den Ansprüchen ihrer Zielgruppen zu kommunizieren. Die Antworten auf den Potenzialraum ergeben die Logik der Kanäle und nicht umgekehrt.

Nachhaltige Zukunft: Systemische Würze statt vorschnelle Antworten
Die Wirtschaft und Teile der Gesellschaft der letzten Jahrzehnte haben den Bezug zur Welt über weite Strecken ignoriert und sabotiert. Unsere Wirtschaft braucht einen Neustart. Sie braucht Unternehmer*innen, die neu denken, neue Modelle und Werkzeuge einsetzen und nachhaltige Zukunft als Möglichkeitsraum sehen. Die in diesem Artikel beschriebenen Denkansätze und die Kurzvorstellung der Impact Business Map sollen Ihnen dabei helfen.
Hinter der Impact Business Map liegen tiefgründige systemische Fragestellungen. Strategien entwickelt man nicht in einigen Workshops. Schon gar nicht, wenn Sie sich und Ihr Unternehmen in eine nächste Bewusstseinsstufe bringen wollen. Dieser Prozess braucht eine neue Expertise, denn so hat es schon Albert Einstein formuliert: «Sie können ein Problem nicht mit derselben Denkweise lösen, wie es entstanden ist.»
Um die Prinzipien des Impact Business Design zu aktivieren, braucht es einen fundierten Blick auf die aufgeworfenen Fragen. Pioniere haben dieses Fundament oft im Blut. Sie sind angetrieben von ihrer Idee, die Welt zu verändern. Impact Pioniere leben nach dem Kalkül der Wirksamkeit durch eine Vision: Wer keine Vision hat, sollte zum Arzt gehen, so das Motto. Doch nicht alle Organisationen können durch eine intrinsische Visionskraft bewegt werden. Oft gilt es, diese erst freizuschaufeln und neue Strategien im Sinne der nächsten Generation zu entwickeln.
In anderen Worten: Klassische Planung und reines Wachstumsversprechen reichen nicht, um nachhaltige Strategien für die Wirtschaft und Gesellschaft von morgen zu erzeugen. Es bedarf der Fähigkeit der klugen Vernetzung von Gedanken, Beobachtungen und Erfahrungen, um nachhaltige Strategien zu designen. Werden Sie selbst zum Impact Designer. Starten Sie jetzt.

Stephan Grabmeier
Zukunfts-Designer u. a. am Zukunftsinstitut, Experte für nachhaltige Business Transformation, enkelfähiges Wirtschaften und New Work


Nordstern ökologischer Wandel

Die Debatte darüber, ob Klimawandel existiert, ist abgeschlossen. Nun geht es darum, bei Staat und Wirtschaft Einigkeit über die notwendige Tiefe der damit verbundenen ökologischen Transformation herzustellen. Wo wir hier derzeit in Deutschland und Europa stehen und welche Anstrengungen aller es weiterhin bedarf, erläutert Prof. Dirk Messner, Präsident des Bundesumweltamts. Eins ist dabei schon jetzt klar: Die für eine lebenswerte Welt notwendige Veränderungsarbeit können wir nur gemeinsam leisten.

ZOE: Corona hat uns umwelttechnisch eine «Verschnaufpause» beschert, spätestens seit der sukzessiven Öffnung geht es wirtschaftlich wieder aufwärts und damit auch mit den Emissionen. Was haben wir aus Corona für nachhaltiges Wirtschaften gelernt?

Messner: Nach den Lockdowns während der Pandemie gingen die Emissionen in Deutschland, Europa und weltweit wieder nach oben. Wir haben noch sehr viel zu tun. Dennoch: im Vergleich zur Finanzkrise in 2008/09, hat sich einiges fundamental verändert. Während in ihrem Nachgang vor allem Wachstum, Wachstum, Wachstum propagiert und Klima- und Nachhaltigkeitsfragen ausgeblendet wurden, führen wir in Deutschland und auch Europa im Kontext der Pandemie nun eine ganz andere wirtschaftspolitische Debatte.

ZOE: Woran erkennen Sie das?

Messner: Wir haben am Umweltbundesamt 2020 über 120 Reports aus vielen Ländern ausgewertet, die sich damit beschäftigten, wie Unterstützungsprogramme aussehen sollten, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu bekämpfen. Das interessante Ergebnis: nahezu alle setzen auf Klimaschutzinvestitionen, grüne Infrastrukturen, Umbau zu Nachhaltigkeit. Green Recovery, also die Frage wie wir soziale, wirtschaftliche und ökologische Folgen der Corona-Krise adressieren, wurde zum neuen Mainstream. Grünes Wachstum kann einen nachhaltigen, widerstandsfähigen und klimaneutralen Wandel ermöglichen – und stellt langfristig den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen für die kommenden Generationen sicher. Der European Green Deal steht für diese Neuorientierung. Hierüber besteht auf europäischer Ebene, aber auch global Einigkeit, was sich in Glasgow gezeigt hat. Man kann sagen, dass Klimaneutralität das neue Leitbild für eine weltwirtschaftliche Debatte ist. Nun geht es darum, dass Investitionen sich daran grundlegend ausrichten, das muss in den 2020er Jahren passieren. Derzeit kann man noch nicht von einer weltweiten ökologischen Transformation sprechen. Mit den tiefgreifenden, systemischen Veränderungen, die nötig sind, um wirklich Klimaneutralität zu erreichen, fangen wir gerade erst an.

ZOE: Unternehmen übernehmen ökologische Aspekte mittlerweile immer stärker in ihre Zielbilder und Strategien. Wie ernst ist es ihnen mit der Umsetzung?

Messner: Auch hier hat sich in der letzten Dekade viel getan. Nachhaltigkeit und damit verbundener ökologischer Wandel sind der neue Nordstern, an dem sich viele Unternehmen nicht nur orientieren, sondern diesem bereits folgen. Das ist auch bei den Unternehmen und Wirtschaftsverbänden angekommen. Die BDI-Studie «Klimapfade 2.0» aus dem letzten Jahr zeigt anschaulich, wie man in Deutschland Klimaneutralität erreichen kann und konkrete Szenarien, Pfade und Ziele formuliert. Wir streiten uns also nicht mehr über das «Ob», sondern sind uns einig hinsichtlich der notwendigen Tiefe der Veränderung, die wir nur gemeinsam erreichen können. Das zeigt sich auch bei der Stiftung KlimaWirtschaft: Sie produziert und kanalisiert ein großes Interesse einer steigenden Anzahl an Unternehmen, die wirtschaftliche Wertschöpfung und Nachhaltigkeit ganzheitlich verstehen und umsetzen wollen. Langfristig kann es nur darum gehen, Klimaschutz zum Geschäftsmodell und Klimaneutralität zu einem internationalen und exportfähigen Markenzeichen des Wirtschaftsstandorts Deutschland bzw. Europa zu machen.

«Langfristig kann es nur darum gehen, Klimaschutz zum Geschäftsmodell zu machen.»

ZOE: Wenn Unternehmen all das leisten können, wozu braucht es dann überhaupt noch den Staat?

Messner: Den Staat braucht es für die Rahmenbedingungen, damit unternehmerisches Handeln durch Nachhaltigkeit möglich wird. So hat die Bundesregierung 2021 einen CO2-Preis für Wärme und Verkehr eingeführt. Über diesen nationalen Emissionshandel erhält der Ausstoß von Treibhausgasen beim Heizen und Autofahren einen Preis. Investitionen in den Klimaschutz werden forciert. Die Bundesregierung reinvestiert die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung in Klimaschutzmaßnahmen oder entlastet die Bürgerinnen und Bürger. Ergänzt wird der CO2-Preis durch klimaorientierte Sektorpolitik: Aufbau von Ladeinfrastruktur im Verkehr, Standards für klimaneutrales Bauen, Regeln für klimaschonende Landwirtschaft. Ein weiteres Beispiel ist die Kreislaufwirtschaft, also Produktion und Verbrauch, bei dem bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden. Diese muss mit der gleichen Wucht vorangetrieben werden wie Klimaneutralität. Da brauchen wir Anreize: technische Standards, um Zirkularität zu vereinfachen, Bepreisung von Ressourcenverbräuchen oder Forschung, um Innovationen zu stärken. In der zirkulären Wirtschaft ist noch sehr viel zu tun. Zudem bedarf es Schutzzonen für Biodiversität, damit die Ökosysteme als «Netzwerke des Lebens» stabilisiert und Kipp-Punkte im Erdsystem vermieden werden. Und nicht zu vergessen: All das Neue muss sozial ausgewogen eingeführt werden, sonst erzeugt man Widerstand. Dabei ist die Rolle des Staates essenziell. Um schnell klimaneutral zu werden und die ambitionierten Klimaziele der Bundesregierung und der EU zu erreichen, haben wir leider nur wenig Raum für Selektivität. Fast alles was möglich ist, muss gemacht werden. Und dabei darf der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht auf der Strecke bleiben.

ZOE: Deshalb schauen auch zivilgesellschaftliche Organisationen genau hin…

Messner: Ja, sie halten den Druck aufrecht oder wie es unsere ehemalige Kanzlerin Angela Merkel einforderte: «Fallen Sie uns weiter penetrant auf die Nerven, damit die Politik sich bewegt». NGO, Bürgerräte und auch die Wissenschaft spielen neben Staat und Unternehmen eine zentrale Rolle und das ist gut so. Dabei sollten wir uns nichts vormachen, denn in vielen Ländern gibt es auch zivilgesellschaftliche Gegentransformationen, die eine ökologische Wende in Frage stellen, autoritäre Muster und Nationalismus predigen, Wissenschaft angreifen. Ich denke, zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Ziel der Klimaneutralität nur im globalen Verbund erreicht werden kann, bei dem Staat, Wirtschaft, Zivilgesellschaft, Wissenschaft und übrigens auch multilaterale Organisationen enger zusammenwirken müssen als bisher.

«Es gibt zivilgesellschaftliche Gegentransformationen, die eine ökologische Wende in Frage stellen.»

ZOE: Wie kann dieses interorganisationale Zusammenspiel aussehen, wo doch die Zielsetzungen unterschiedlicher nicht sein könnte?

Messner: Es kommt jetzt darauf an, dass der Staat klare Rahmenbedingungen schafft, die es Unternehmen und Organisationen erleichtern, den nächsten Schritt zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Wertschöpfung zu gehen. Wie wir aus der Organisationstheorie wissen, sind Organisationen nicht nur «Anpassungsmaschinen». Der Druck zu nachhaltigem Wirtschaften kommt auch von innen, in vielen Organisationen arbeiten immer mehr Menschen, die es für unumgänglich halten, Nachhaltigkeit als oberstes Leitprinzip zu verfolgen.

ZOE: Sie sprechen neue Generationen an, die ganz anders auf Arbeit und ihr Arbeitsumfeld schauen?

Messner: Ja, der Generationenwechsel in Organisationen ist ein zentraler Hebel für die notwendige Dynamik. Während ältere Generationen nicht selten Schwierigkeiten haben, sich eine grüne Produktion vorzustellen und Pfadabhängigkeiten im Denken und Handeln wirksam bleiben, ist das für junge und noch folgende Arbeitnehmergenerationen mehr oder weniger gesetzt. Umbrüche wie ein ökologischer Wandel werden nicht nur akzeptiert, sondern bewusst eingefordert.

ZOE: Sie sprachen von einer Transformation durch Reduktion. Wie verhält sich eine unternehmerische Profitorientierung mit reduzierten Wachstumserwartungen?

Messner: Der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedmann sprach davon, dass die einzige Verantwortung von Unternehmen darin besteht, Profit zu machen. Das greift offensichtlich zu kurz. Unternehmen übernehmen heute Verantwortung, die weit über Profit hinausgeht. Sie umfasst Aspekte des sozialen und gesellschaftlichen Miteinanders ebenso wie Umwelt oder Moral und Ethik. Das Wohl von Menschen und Umwelt sollte dabei Ziel des Wirtschaftens sein. Hier reden wir nicht von blumigen Botschaften in Jahresberichten, sondern gänzlich neuen Geschäftsmodellen. Um global wirkliche Transformationswirkungen spüren zu können, müssen wir über die Unternehmens- und Landesgrenzen hinausschauen – die nachhaltige Ausrichtung globaler Wertschöpfungsketten wird immer wichtiger. Erst wenn wir global vernetzt handeln, was Unternehmen und Staaten umfasst, werden wir den Ansprüchen einer auch in Zukunft lebenswerten Welt gerecht.

ZOE: Was genau heißt das für die Ausrichtung von Organisationen?

Messner: Im Kern geht es um die Entwicklung neuer, ambitionierter Geschäftsmodelle, die neben ökonomischen auch normative Handlungsprämissen beinhalten, die auf Klimaschutz einzahlen. Wir müssen anerkennen, dass wir für Erdsystemstabilität verantwortlich sind. Hierfür empfehle ich die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Sie fassen regelmäßig den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand über die Beeinflussung des Erdsystems durch die Menschheit und daraus entstehender Auswirkungen zusammen. Wir Menschen sind der größte Einflussfaktor auf das Klima und verantwortlich für die Klimakrise. Wenn wir dieses Wissen mit globalem Handeln verbinden, landet man bei globaler Gerechtigkeit.
Schon heute lösen die Folgen der Klimakrise massive Ungleichgewichte in der Welt aus, die wir uns bewusst machen müssen. Nicht zuletzt sollte eine intergenerationale Perspektive Teil unseres Handelns und der Debatten in Organisationen sein. Wir handeln im Interesse einer Zukunft, die wir vermutlich nicht mehr selbst erleben werden, aber dennoch für sie verantwortlich sind. Wenn man diese  Handlungsprämissen als Grundlage nimmt, entsteht ein normativer Führungs- und Gestaltungsanspruch für organisationale Wertschöpfung.

ZOE: Was kann die Umsetzung fördern?

Messner: Immanuel Kant spricht so trefflich von den «Bedingungen der Möglichkeit». Diese haben wir in den letzten 20 Jahren geschaffen. Wir sind aber zu langsam. Auch Zielbilder haben wir, wie die Sustainable Development Goals, den European Green Deal oder das Klimaschutzgesetz. Damit diese umgesetzt werden, benötigen wir institutionelle Rahmenbedingungen. Diese müssen so aufgesetzt sein, dass Unternehmen oder Bürgerinnen und Bürger ihr Handeln danach ausrichten. Sie schaffen also einen neuen Kontext, der Transformation ermöglicht. Die Menschen fordern diesen schon heute ein, das zeigt u. a. unsere Umweltbewusstseinsstudie. Es ist also keine Frage des Wollens, sondern eher des Könnens.

ZOE: Wie müssen wir einen Wandel gestalten, der Wege in eine grüne Zukunft aufzeigt?

Messner: Für mich geht es hier um fünf Dinge, um die Motivation von Menschen für den Wandel zur Nachhaltigkeit zu stärken: (1) Das Problem und die damit verbundene Dringlichkeit und Notwendigkeit muss klar und verständlich sein. (2) Gleichzeitig müssen wir Lösungen anbieten, die umsetzbar und leistbar sind. Hier haben wir enorme technologische, aber auch regulatorische Fortschritte gemacht. (3) Es müssen Zugänge und Gestaltungsmöglichkeiten aufgezeigt werden, die jeder und jede von uns nachvollziehen kann. Aktive  Beteiligungsmöglichkeiten unterstützen den Wandel. Hier spielt Kommunikation eine wichtige Rolle, aber letztendlich müssen Menschen erleben, dass sie Treiber und Treiberinnen des Wandels und nicht Getriebene sind. Das mag für Menschen, die sich täglich beruflich mit Veränderung beschäftigen nicht bahnbrechend sein, trotzdem stehen wir in einigen dieser Themen noch am Anfang. (4) Bei alledem muss es fair und gerecht zugehen. (5) Wir müssen Klima- und Ökosystemschutz verbinden mit Entwürfen attraktiver Zukünfte. Das motiviert Menschen mitzumachen. Viel zu oft schauen wir auf vermeintliche Zumutungen des Klimaschutzes, auf das, was dieser uns abverlangen könnte. Das halte ich für irreführend. Klimaschutz ist Risikovorsorge und kann mit mehr Lebensqualität verbunden werden.

ZOE: Derzeit herrscht Krieg in Europa, was Vieles grundlegend auf den Kopf stellt. Was bedeutet das für die Klimapolitik?

Messner: Die Entwicklungen in Osteuropa bereiten mir wie sicher vielen anderen Menschen große Sorgen. Daneben treibt mich um, dass wir für einen globalen Klimawandel eine globale Kooperationsarchitektur benötigen, die derzeit eher wankt und taumelt, denn vorangeht. Bei der Resolution im UN-Sicherheitsrat im Februar 2022 gegen den Einmarsch Russlands in die Ukraine haben sich gut 30 Länder enthalten. Darunter wichtige aufstrebenden Staaten, wie China und Indien, aber auch eine signifikante Zahl afrikanischer Länder, die wir für die Bekämpfung des Klimawandels dringend brauchen. Ich interpretiere das als Signal, dass man dem Westen nicht mehr so folgt, wie wir uns das eventuell wünschen. Wir müssen uns selbstkritisch fragen, warum es in Teilen der Welt eine gehörige Skepsis gegenüber dem Westen gibt: der Irak-Krieg, Abu Graib, die ungleiche Verteilung der Impfstoffe während der Pandemie; die Liste an Vorbehalten ist lang. Damit sich die Aggression Russlands nicht in eine umfassende Weltordnungskrise übersetzt und dabei auch die Klimaverhandlungen erschüttert, müssen wir in unsere internationalen Netzwerke investieren. Wir sollten den Konflikt um die Ukraine nicht als «Russland gegen der Westen» framen: hier geht es um universelle Grundprinzipien der globalen Ordnung. Es sind fundamentale Fragen, die der Krieg aufwirft.

ZOE: Wie verändert sich dadurch die klimapolitische Diskussion in Deutschland?

Messner: Hierzulande beobachte ich nicht, dass unsere gesetzten Ziele für Klimaschutz in Frage gestellt würden. Stattdessen scheint die Entwicklung der vergangenen Monate den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu beschleunigen. Zugleich muss man nüchtern feststellen, dass der Krieg die Aufmerksamkeitsökonomie verändert: wir müssen hart daran arbeiten, die Klima- und Nachhaltigkeitsthemen auf der Agenda zu halten. Zudem können öffentliche Investitionen nicht beliebig ausgebaut werden, so dass es kein Selbstläufer ist, die notwendigen
Ressourcen in die Klimaneutralität zu lenken. Die Ziele der Klimaneutralität zu erreichen und weltweit die Leitplanke von 1,5 – 2°C nicht zu reißen, wird im Kontext der schwierigen internationalen Lage eine Herkulesaufgabe. Aber: manchmal lassen sich gerade in Krisenzeiten kühne Vorhaben leichter durchsetzen als in «Normalzeiten».

 

Prof. Dr. Dirk Messner
Präsident des Umweltbundesamtes

 

Literatur:

BDI-Studie «Klimapfade 2.0 – Ein Wirtschaftsprogramm für Klima und Zukunft» (2021).
European Green Deal.
Fünfter Sachstandsbericht des IPCC.
Klimavertrag der Bundesregierung.
Stiftung KlimaWirtschaft.
Ziele für nachhaltige Entwicklung.


Die Berge wegdenken

Warum Macht im Wandel oft ausgeblendet wird

Strebt man Veränderungen in einer Organisation an, ist es ratsam, Machtfragen mitzudenken. Darüber hat ZOE-Redakteur Heiko Roehl mit Fritz B. Simon gesprochen. Ein Gespräch über Macht, Hierarchie und neue Frisuren.

ZOE: Herr Simon, was muss man über Macht wissen, wenn man Veränderungsprojekte betreut?

Simon: Was mir generell auffällt, ist, dass die bestehenden Machtverhältnisse in Veränderungsprozessen oft von Kunden wie Beratenden nicht mitkalkuliert werden. Oft herrscht bei den Beteiligten die Auffassung, mit genügend wohlmeinenden Leuten könne man jede Organisation verändern – auch gegen den Willen derer, die über die formale Macht verfügen. Das halte ich für einen Denkfehler. Hierarchie in einer Organisation ist ja nichts generell Böses, sondern etwas hoch Funktionelles. Deswegen kann man sie nicht einfach abschaffen, sondern muss sie mitdenken, wenn man Veränderungen in einer Organisation anstrebt. Man muss strategisch planen, wie sich die entsprechenden Strukturen nutzen lassen. Und dazu gibt es spezifische Ansatzpunkte. Wenn man die bestehenden hierarchischen Strukturen nicht als Ausgangspunkt wählt, begibt man sich gewissermaßen auf eine Wanderung ins Gebirge und denkt sich die Berge weg.

ZOE: Warum neigen Menschen dazu, das Thema Macht auszublenden? Wir sehen das bei der Pandemie im Moment ja auch ziemlich deutlich.

Simon: Ich glaube, es gibt zwei Tendenzen, die auch in der Pandemie beobachtbar sind. Die eine besteht in dem Irrglauben, den schon Margaret Thatcher vertrat, dass es keine Gesellschaft gibt, sondern nur Individuen. Soziale Systeme sind in diesem Denkmodell nur lose aus Individuen zusammengesetzte Gruppen, und wenn die Individuen motiviert oder von etwas überzeugt werden, kann man soziale Verhältnisse verändern. Wie falsch diese Auffassung ist, kann man an der Corona-Impfkampagne sehen. Wenn zwanzig Prozent der Bundesbevölkerung sich nicht impfen lassen, ist die Pandemie offenbar nicht zu stoppen. Überzeugte Impfgegner wird man auch durch noch so bemühte Motivationsversuche nicht zum Impfen bringen. Sie folgen ihrer individuellen Rationalität. Anders dürfte das Ergebnis sein, wenn man die sozialen Spielregeln verändert und, beispielsweise, eine Impfpflicht einführt; das heißt, den Fokus der Aufmerksamkeit auf eine andere Systemrationalität lenkt. Der Einzelne muss sich nicht mehr für eine Impfung entscheiden oder dazu motiviert werden, sondern er muss sich nun gegen sie entscheiden und die sozialen Konsequenzen tragen. Was für soziale Systeme rational ist, ist oft etwas Anderes als es für Individuen ist. Die Frage ist immer: Welches System will man verändern? Die Rationalität sozialer Systeme resultiert nicht aus der Addition der Rationalität von Individuen. Darin liegt, glaube ich, der konzeptuelle Irrtum.
Der zweite Aspekt ist meines Erachtens, dass es seit den 1968ern Jahren und Bewegungen starke antihierarchische Affekte bei den meisten Leuten gibt. Ich bin ja alter 68er und habe die damaligen Umwälzungen miterlebt und -gemacht. Der erste Bereich, in dem ich Organisation als Mitarbeiter kennen gelernt habe, war eine große psychiatrische Anstalt. Sie war so etwas wie ein Naturpark für Organisationsformen. Da gab es tradierte hierarchische Systeme, z. B. Stationen, deren Stationspfleger schon in dritter Generation diese Rolle innehatte. Die Häuser, in denen sie wohnten, hießen bezeichnenderweise «Wärterhäuser». Sie hatten Rolle und Wohnung von ihren Vätern übernommen, und die hatten sie von ihren Vätern übernommen. Das waren Feudalsysteme, in denen die Patienten oder Patientinnen sich ihre Zigaretten verdienen konnten, indem sie die Autos der Pfleger wuschen. Auf der anderen Seite gab es basisdemokratische Abteilungen, sogenannte «Therapeutische Gemeinschaften» – ich war als Arzt für so eine verantwortlich –, in denen die Patienten kollektiv Entscheidungen treffen sollten. Heute würde man dies unter dem Namen Agilität verkaufen. All das war für mich ein wunderbares und gruseliges Erfahrungs- und Übungsfeld. Leute, die etwas verändern wollen, sehen hierarchische Strukturen in der Regel als ein Problem. Oft zu Recht, weil Hierarchen häufig schwachsinnige Entscheidungen treffen und überhaupt nicht wissen, wovon sie reden. Denn sie verfügen oft gar nicht über das notwendige, kleinteilige operative Wissen. Aber die Alles-oder-Nichts-Alternative: Entweder basisdemokratisch oder autoritär-tyrannisch, die wird weder der täglichen Praxis in den Organisationen gerecht, noch sind daraus wirklich sinnvolle Veränderungsmodelle abzuleiten.

«Hierarchie in einer Organisation ist etwas hoch Funktionelles.»

ZOE: All diese Ansätze, Agilität, Basisdemokratie, die ganzen großen Revolutionen, haben die etwas daran geändert, wie Macht in Organisationen funktioniert? Oder ist es nicht so, dass das eine Vorderbühnenfassade ist, hinter der alles eigentlich genauso wie immer läuft? Ist es gelungen, Macht in Organisationen wirklich zu demokratisieren?

Simon: Nein. Ich glaube auch nicht, dass es Sinn macht, Macht zu demokratisieren in Organisationen. Natürlich kann und sollte man sie als Rolleninhaber höchst unterschiedlich nutzen. Und ich glaube, dass sich das Selbstverständnis von Führungskräften in den letzten 50 Jahren radikal verändert hat. Heute spielen da auch systemtheoretische Führungskonzepte eine wichtige Rolle. Die eigentliche Frage ist meines Erachtens ja nicht, ob es Hierarchien geben sollte, sondern: Was ist eigentlich die Funktion von Hierarchie bzw. von formaler Macht? Wenn ich einen Arbeitsvertrag in einer Organisation unterschreibe, heißt das, dass ich bestimmte Spielregeln akzeptiere. Systemtheoretisch gesehen bin ich als Individuum ein autonomes und durch meine eigenen psychischen Strukturen gesteuertes Wesen. Ich kann im Prinzip immer machen, was ich will. Ich nutze diesen Freiraum aber als Mitarbeiter einer Organisation nicht aus. Ich könnte zur Arbeit gehen, mich nackt ausziehen und auf dem Schreibtisch tanzen. Doch da ich meinen Job behalten will, tue ich das schlauerweise nicht. Es gibt jede Menge Spielregeln, die für alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen als Prämissen ihrer – immer noch – autonomen Entscheidungen fungieren. Eine davon lautet, dass sie den Bereich, in dem sie autonom entscheiden dürfen, als begrenzt akzeptieren müssen. Das heißt, es wird erwartet, sich in bestimmte Strukturen einzuordnen. Es gibt Kommunikationswege, die eingehalten werden müssen, d. h man muss jemandem «berichten» und er oder sie hat «das Sagen», um es ganz platt auszudrücken. Das heißt, man muss Entscheidungen anderer Leute als Grundlage seiner eigenen Entscheidung akzeptieren.
Die Funktion von Hierarchie besteht darin, eine riesige Zahl autonomer Akteure und Akteurinnen – bei Großkonzernen geht das in die Hunderttausende – die ja eigentlich alle nackt auf dem Tisch tanzen könnten, dazu zu bringen, sich in bestimmte Prozesse einzufügen und zu kooperieren. Solche Strukturen werden durch Erwartungs-Erwartungen hergestellt und aufrechterhalten. Ihr Zweck ist, dass jede und jeder autonom so entscheidet, dass im Idealfall eine kollektive Leistung erbracht wird. Kurz gesagt: Die Funktion von Hierarchie besteht in der Koordination von Aktionen und Akteuren. Hierarchen müssen gar nicht entscheiden, aber sie müssen dafür sorgen, dass die Aktionen vieler autonomer Leute nach bestimmten vorgegeben Spielregeln koordiniert werden bzw. sich – selbstorganisiert – koordinieren. Ohne Hierarchie ist dies extrem unwahrscheinlich. Und deshalb funktioniert Organisation auf Dauer nicht ohne Hierarchien irgendwelcher Art (mit Betonung auf «irgendwelcher Art», d. h. es muss keine Hierarchen geben, denn auch ein akzeptiertes Verfahren zur Entscheidungsfindung kann die hierarchische Funktion übernehmen).

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Fritz B. Simon – Biografie

Studium der Medizin und Soziologie. Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker, systemischer Familientherapeut. Gründungsprofessor (Lehrstuhl für Führung und Organisation) des  Instituts für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke. Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter des Carl-Auer-Verlags, Heidelberg, und des Organisationsberatungsunternehmens Simon, Weber & Friends GmbH. Jetziger Arbeitsschwerpunkt: Organisationsforschung und -beratung. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind.

 

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ZOE: Gibt es nicht ein gewisses Autonomieversprechen in Familie, Gesellschaft und Organisation, besonders an die jüngeren Generationen: Gestalte dein Leben und Arbeiten frei, lebe deinen Traum? Was bedeutet das für Macht in Organisationen?

Simon: Es führt dazu, dass es erheblich schwieriger ist, einen interpersonellen Konsens über das herbeizuführen, was die Organisation als handelnde Einheit tun soll. Üblicherweise heißt das erst einmal nur: Man braucht einen höheren Kommunikationsaufwand. Aber es heißt auch, dass man womöglich Entscheidungen, wenn sie für das soziale System im Sinne der Systemrationalität notwendig sind oder auch der Zeitaufwand für die kommunikative Entscheidungsfindung zu groß ist, auch ohne Konsens durchsetzen kann. Die Autonomie des/der Einzelnen endet ja immer dort, wo die Rechte anderer durch seine oder ihre Rechte beeinträchtigt sind. Die Impfpflicht betrifft zwar keine Organisation und ist deshalb nicht wirklich ein gutes Beispiel, aber da sie aktuell so leidenschaftlich diskutiert wird, nehmen wir sie als exemplarisch für dieses allgegenwärtige Dilemma. Der Staat wird vielleicht nicht um sie herumkommen, genauso, wie er eine Gurtpflicht beim Autofahren eingeführt hat, um die Zahl der Verkehrstoten zu reduzieren. Dafür gibt es staatliche Macht. Sie verfügt über Durchsetzungsmöglichkeiten. Das heißt in der Konsequenz nicht, dass jemand zwangsweise geimpft würde, aber jeder Einzelne muss dann eine neue Kosten-Nutzen-Rechnung anstellen: Entweder er oder sie hält sich an die Regeln oder wird bei Zuwiderhandlung belangt. Dadurch ändern sich die individuellen Entscheidungskriterien. Die Freiheit ist dem Einzelnen – zumindest theoretisch – nicht genommen, aber seine Wahlmöglichkeiten sind verändert.

ZOE: Aber heißt das nicht, dass wir auf eine ganze Reihe von Enttäuschungen zusteuern? Auch in den Organisationen? Dem Individuum wird durch die sozialen Medien suggeriert, du darfst hier mitspielen, du bist hier relevant, deine Stimme wird gehört. Jeder darf ein News Feed starten, und 150.000 Menschen folgen.

Simon: Tatsächlich wird dieses Autonomieversprechen ja nicht gehalten. Du darfst lediglich so tun, als ob du wichtig wärst. Selbst wenn dir 150.000 Leute im Netz ihre Likes zukommen lassen, hat das letztlich ja keine Relevanz. Denn andere Leute haben auch 150.000 Follower, und noch andere Leute haben 200.000. Das heißt, in der Menge dieser Äußerungen, die zwar alle irgendwo autonom gepostet wurden, bist du als Einzelner gar nicht viel wichtiger als jemand, der sich früher am Stammtisch auf die Schulter klopfen ließ. Früher hattest du sechs Leute, die dir zugehört haben, und dann Prost gesagt haben, heute sind es eben 150.000, die dir zuprosten. Das hat erst einmal keinerlei Wirkung, sondern ist nur ein Hintergrundrauschen. Es hat allerdings dann eine weitergehende Wirkung, wenn darauf die formalen Amtsträger und Amtsträgerinnen aus der Politik reagieren. Und darin liegt auch das eigentliche Risiko von Telegram und anderen derartigen Plattformen. Das hat man gesehen, als unsere Politiker und Politikerinnen vollkommen ohne Not in Sachen Corona rote Linien verkündet haben. Zu sagen, es wird nie wieder einen Lockdown geben oder es wird keine Impfpflicht geben, ist mehr als fahrlässig. Es ist einfach dumm, sich selbst seine Optionen zu nehmen, nur um irgendwelche potenziellen AfD-Gefolgsleute oder «Querdenker» zu beruhigen. Leider wird so nur der gegenteilige Effekt erzielt. Sie beruhigen sich gar nicht, sondern fühlen sich bestätigt, wenn der Lockdown oder die Impfpflicht schließlich trotz aller Versprechen und Schwüre kommt.

ZOE: …und fühlen sich bestätigt, dass sie es doch mit einem autoritären System zu tun haben, gegen das man rebellieren muss.

Simon: Das Problem ist, dass nicht die Funktion von Autorität gesehen wird, sondern nur einzelne Autoritäten, die teilweise ja auch höchst fragwürdige Figuren sind. Es gibt durchaus machtgeile Leute, die ihre Funktion ausnutzen und irgendwelche narzisstischen Ego-Trips fahren. Insofern ist das Misstrauen ja nicht unberechtigt. Es allerdings auf die Funktion von Hierarchie generell zu übertragen, ist ebenso unsinnig, wie zu sagen: Es gibt Mütter, die ihre Kinder vernachlässigen, deswegen sind wir Müttern gegenüber prinzipiell misstrauisch.

ZOE: Zurück zur Macht in Organisationen. Sie sagen: Wenn wir mit Macht vernünftig umgehen, wenn wir sie einkalkulieren, auch in Interventionen, und wenn Macht gut gelebt wird, dann funktioniert das mit dem Wandel. Warum aber klappt das dann so selten?

Simon: Ich vermute, das ist ein neurotischer Aspekt, den wir womöglich aus der Familie mitbringen oder aus der Schule. Der Großteil der Menschen arbeitet in Organisationen, aber wir lernen nichts über Organisationen. Organisationstheorie ist kein Lehrstoff in der Schule. Also übertragen wir ein Familienoder bestenfalls noch ein Schulmodell auf Organisationen und konzeptualisieren alle organisationalen Beziehungen nach dem Modell von Familienbeziehungen oder Eltern-Lehrer- bzw. Peerbeziehungen. Dann werden also Hierarchen plötzlich in eine väterliche oder mütterliche Rolle gebracht, und sie sehen sich womöglich selber darin. Wahrscheinlich haben Sie ja auch schon tausend Mal in Organisationen gehört: «Wir sind eine große Familie …»

ZOE: Allerdings…

Simon: Das ist vollkommen irreführend. Organisationen und Organisationseinheiten sind keine Familien. Mitarbeitende müssen sich nicht lieben, sie müssen sich nicht einmal gegenseitig mögen (obwohl das natürlich das Arbeiten angenehmer macht). Deswegen sind Hierarchen auch weder strenge Väter noch fürsorgliche Mütter. Nichts dergleichen. Organisationen sind ganz andere Typen sozialer Systeme. In ihnen geht es primär um sachorientierte Kommunikation, um die dauerhafte Lösung sachlicher Aufgaben, z. B. um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Und deswegen ist auch die Rolle des Einzelnen ganz anders als in einer Familie.
Es ist natürlich sehr kränkend zu sehen, dass man in «seiner» Organisation nicht als «ganzer Mensch», sondern nur selektiv in einer bestimmten Funktion gebraucht wird. Jeder möchte gerne als ganzer Mensch gesehen werden. Das übernehmen in unserer Gegenwartsgesellschaft andere soziale Systeme, in denen die Kommunikation personenorientierter ist: Paarbeziehungen, Familien, Freundschaften (womit nicht die bei Facebook gemeint sind). Teams sind deshalb so attraktiv, weil man sich dort gegenseitig wieder «als Mensch» sieht. Was ja für viele Aufgaben wichtig und hilfreich ist, beispielsweise wenn es um Kreativität geht, aber nicht generell.

«Wir konzeptualisieren organisationale Beziehungen nach dem Modell von Familienbeziehungen.»

ZOE: Dass ich in einem Team innerhalb einer Organisation ich selbst ein darf, bleibt eine Illusion, Herr Simon?

Simon: Ein Merkmal von Organisationen ist – und das unterscheidet sie grundlegend von Paarbeziehungen und Familien –, dass jeder im Prinzip in seiner Funktion austauschbar ist und auch austauschbar bleiben muss. Natürlich kann ich einzelne Mitglieder eines Teams austauschen, aber dann wird auch das Team aufgrund der relativ starken Personenorientierung der Kommunikation ein anderes. Insofern ist ein Teammitglied nicht in gleichem Maße austauschbar wie beispielsweise ein Fließbandarbeiter.

ZOE: Schauen wir mal in Richtung Organisationsentwicklung. Was rufen Sie denn aus der Machtperspektive internen Organisationsentwickler*innen zu?

Simon: Seid bescheiden in eurem Ziel. Setzt lieber kleine Meilensteine und lasst euch positiv von einem unerwartet großen Erfolg überraschen. Das dient der Frustrationsprophylaxe. Und vielleicht noch ein weiterer Satz dazu: Seid euch klar darüber, dass ihr gelegentlich Aufträge bekommt, die eigentlich die Aufgabe der Führungskräfte wären – oder an denen Führungskräfte schon gescheitert sind. Diese Aufträge sind meist kaum ausführbar und kaum Selbstwert fördernd.

ZOE: Aber manchmal Karriere fördernd.

Simon: Ja, das kann schon sein.

ZOE: Und was ist für externe Berater*innen der Organisationsentwicklung in Bezug auf die Machtfrage essenziell?

Simon: Schafft euch reiche Eltern an! Nein, im Ernst: Macht euch nicht abhängig von einzelnen Kunden. Es gibt Berater und Beraterinnen, die 80 Prozent ihres Umsatzes in einer einzigen Firma machen. Das ist riskant und existenzgefährdend. Sorgt dafür, dass ihr mindestens zwei (oder mehr) Kunden habt und unabhängig bleibt. Also sorgt für deren Austauschbarkeit. Zweitens, da kommen wir aufs Operative: Es gibt einen Unterschied zwischen Weg- und Zielaufträgen. Meine Theorie dazu kann ich kurz erläutern: Üblicherweise sind unsere Kunden ja professionelle Problemlöser. Dabei kommen sie aber manchmal an einen Punkt, wo sie mit ihrer erprobten Lösungsstrategie scheitern. Was machen sie dann? Meistens: Mehr desselben. Paul Watzlawick und Kollegen haben gut beschrieben, wie der Lösungsversuch das Problem erhält: Durch den Lösungsversuch wird die Situation nicht besser, sondern oft noch schlimmer. Irgendwann kommen diese Problemlöser – Führungskräfte – auf die Idee, sich einen Experten für dieses Problem zu holen. Und dazu suchen sie sich, und das ist die große Falle, einen Profi, der die gleiche Erklärung für das Problem verwendet wie sie selbst. Das heißt, sie suchen sich jemanden, der professionell das macht, womit sie schon gescheitert sind, und dafür bekannt ist. Es ist die Steigerung des Mehr-desselben-Prinzips.
Man kann daher als Berater oder Beraterin, ob extern oder intern, eigentlich davon ausgehen, dass man aus den falschen Gründen engagiert wird. Also muss man aufpassen, dass man nicht in diese Falle tappt, sondern sich eine klare Zieldefinition für eine erfolgreiche Beratung geben lässt. Und dann muss man sich vom Kunden die Erlaubnis geben lassen, einen anderen Weg zum Ziel zu gehen, als er sich dachte. Ganz häufig ist es so, dass man einen Auftrag bekommt, bei dem überhaupt kein Ziel vorgegeben wird, sondern lediglich das Thema. Zum Beispiel «Wir brauchen eine Teamentwicklung». Es wird also ein «Wegauftrag» gegeben und nicht ein «Zielauftrag». Lässt man sich dagegen einen Zielauftrag geben und mit der Freiheit ausstatten, den Weg zum Ziel selbst zu bestimmen, wird der Kunde aller Wahrscheinlichkeit nach am Ende auch zufrieden sein.

ZOE: Ist es nicht viel einfacher, den Standpunkt zu vertreten «wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing»?

Simon: Aber was heißt das denn, wenn alle nach den falschen Noten singen? Wenn ich in den Laden gehe, fragen die mich doch auch «Was hätten Sie denn gerne?». Das Problem vieler Berater ist, dass sie denken, sie müssen hellseherisch herausfinden, was der Kunde eigentlich will oder braucht, ohne dass dieser das selbst formulieren muss. Dann passieren eben solche Sachen, dass jemand in den Laden geht und Kartoffeln haben will, und am Schluss mit einer neuen Frisur rauskommt.

ZOE: Herr Simon, ich danke Ihnen für das Gespräch.

 

Literatur

• Simon, F. B. (2021). Einführung in die systemische Organisationstheorie, 8. Aufl., Carl-Auer.
• Simon, F. B. (2019). Anleitung zum Populismus, oder: Ergreifen Sie die Macht! Carl-Auer.
• Simon, F. B. & Kriz, J.; Ohler M. (Hrsg.) (2019). Der Streit ums Nadelöhr. Körper, Psyche, Soziales, Kultur. Wohin schauen systemische Berater. Carl-Auer.
• Simon, F. B. (2018). Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen, Carl-Auer.
• Simon, F. B. (2012). Einführung in die Theorie des Familienunternehmens, Carl-Auer.


Wir machen jetzt Dailys

Wie Unternehmen agile Methoden konterkarieren

Weil sich die digitale Geschäftswelt immer schneller dreht, bilden sich Teams nur noch, um eine bestimmte Aufgabe zu erledigen, und lösen sich dann wieder auf. So zu arbeiten, lässt sich aber nicht einfach verordnen. Neun Irrtümer über agile Methoden – und wie es doch noch klappen kann.

Kaum ein Unternehmen verzichtet heute darauf, agile Methoden auszuprobieren. Ob Vendor Management, regulierte Industrie oder eine Bank, fast überall geht es inzwischen darum, agil zu handeln oder sich agil aufzustellen. Am häufigsten setzen die Teams auf Scrum, danach folgen Kanban, DevOps sowie Lean und Design Thinking. Das zahlt sich aus. Wer sich agil neu erfindet, bekommt meist mehr raus, als er oder sie vorher reingesteckt hat. 89 Prozent der Teams, die agile Methoden nutzen, erzielen Ergebnisse, die den Aufwand rechtfertigen. Sie liefern ihre Projekte schneller ab, machen dabei weniger Fehler und gehen seltener Risiken ein, wie die Hochschule Koblenz in einer Studie mit mehr als 600 Teilnehmenden aus 20 Ländern zeigt (Komus et al., 2020). Trotz dieser guten Erfahrungen kommen Unternehmen aber nicht immer zum gleichen Ziel, obwohl sie von sich sagen, den gleichen Aufwand zu betreiben. Einige meinen, die Erfolgswahrscheinlichkeit gleiche einem Münzwurf. Wie kann das sein?

Agil handeln versus agil sein

Auch wenn es agile Methoden heißt, ist Agilität keine Methode. Es ist auch kein Werkzeug, um bessere Software zu schreiben oder ein Framework, das jeder lernen und anwenden kann, wie die Regeln eines Spiels. Vielmehr setzt sich Agilität aus verschiedenen Werten und Prinzipien zusammen, oder kurz: aus Glaubenssätzen, um besser zu entscheiden und schneller zu einem Ergebnis zu kommen. Das agile Manifest (Beck et al., 2001) nennt vier dieser Glaubenssätze, an denen sich z. B. Scrum, Kanban & Co. orientieren:

1. Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge.
2. Funktionsfähige Produkte sind wichtiger als umfassende Dokumentationen.
3. Zusammenarbeit mit Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlung.
4. Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans.

Wer diese Glaubenssätze liest, fragt sich häufig, wie er oder sie jetzt danach handeln soll, um agil zu sein. Gerade Neulinge auf diesem Gebiet wissen nicht gleich, wo sie starten sollen, und suchen deshalb zunächst nach agilen Werkzeugen, nach etwas, das sich sofort anwenden lässt und von anderen wahrgenommen wird. Simon Powers (2006) nennt das die agile Zwiebel (agile onion) in deren Kern bewährte Werkzeuge und Techniken für agiles Arbeiten stecken (vgl. Abbildung 1). Dazu gehören beispielsweise Daily Meetings, Retrospektiven und Story Points. Doch genau wie ein Hammer niemanden zum Handwerker macht, machen agile Techniken allein niemanden zum Pionier für Agilität. Wichtiger noch als die Werkzeuge, die für jeden sichtbar sind, weil sie offensichtlich etwas an der Art zu arbeiten verändern, sind die zu verinnerlichenden Werte. Sie lassen sich weniger leicht erkennen, sind es aber, die erst zu den gewünschten Ergebnissen im Unternehmen führen. Menschen verständigen sich am besten über Werte, nicht über Abläufe, denn das macht sie nahezu beliebig austauschbar – und verhindert Spitzenleistungen. Grund dafür ist einer der wichtigsten Werte im Arbeitsleben: Vertrauen zwischen Menschen. Genau das aber geht verloren, wenn Menschen nur noch in einen vorher festgelegten Ablauf vertrauen, statt sich gegenseitig Vertrauen zu schenken. Mit dem Vertrauen verlagert sich zudem auch die Verantwortung auf den Prozess, weil das Individuum nicht mehr selbst zu entscheiden braucht, was zu tun ist. Das verstößt nicht nur gegen die agilen Glaubenssätze, sondern erfüllt gleich zwei von fünf Kriterien, die Patrick Lencioni identifiziert hat, warum Teams scheitern (Lencioni, 2002). Die weiteren drei sind, neben fehlendem Vertrauen und fehlender Verantwortung, die Angst vor Konflikt, fehlende Verbindlichkeit (Commitment) und Unaufmerksamkeit gegenüber den Resultaten. Deshalb dürfen flache Hierarchien und kleine Teams, die selbst verantwortlich sind und entscheiden sollen, nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben. Beides leitet sich unmittelbar aus dem agilen Mindset ab (vgl. Hofert, 2018, S. 20ff.). Der Personaldienstleister Hays hat festgestellt, dass agile Teams nicht nur besser entscheiden und Prioritäten richtig setzen, sondern auch die Beteiligten besser einbinden und sich viel stärker an dem orientieren, was Kund*innen sich wünschen (Hays 2015, S. 16). Aktuellere Studien kommen zu ähnlichen, wenn auch weniger detailliert aufgeschlüsselten Ergebnissen. Was sie alle gemeinsam haben: Sie beziehen sich auf Organisationen, die agile Glaubenssätze bereits verinnerlicht haben.

 

Ansonsten würden die Führungskräfte nicht entlastet, sondern wären damit beschäftigt, agile Werkzeuge einzuführen und ihr Team zwar mit anderen Methoden zu steuern, aber eben doch immer noch zu steuern. An genau dieser Schwelle stehen viele Unternehmen. Sie führen agile Werkzeuge ein und trainieren sich an, danach zu handeln. Doch agile Glaubenssätze tatsächlich zu verinnerlichen und dafür zu sorgen, dass sich die Teams wirklich selbst verantwortlich fühlen, sie zu ermutigen, selbst zu entscheiden, das ist für viele noch ein weiter Weg (vgl. Lasnia & Nowotny, 2018, S. 41ff. und S. 82f.). Dafür müssen sich Unternehmen in Teilen neu erfinden. Wenn man so will, geht es darum, den Sprung aus dem Kern der Zwiebel (vgl. Abbildung 1) in die äußeren Schalen zu schaffen. Dorthin, wo die agile Organisation anfängt, sich zu verselbständigen. Daran, an dem letzten Quäntchen Mut, scheitert manch agile Transformation.

Neun Irrtümer im agilen Alltag

Wie schmal der Grat zwischen gerade noch klassisch und gerade eben schon agil sein kann, sollen die folgenden Beispiele aus der Praxis zeigen. Wer regelmäßig in agilen Teams oder in Teams arbeitet, die es noch werden wollen, dürfte sich hier wiederfinden.

1. Wir sind jetzt agil. Wir machen Dailys. Darin stecken gleich zwei falsche Annahmen. Die Aussage ersetzt nur eine Methode durch eine andere. Über den Individuen stehen, anders als das agile Mindset vorschlägt, weiterhin Prozesse. Wer so spricht, befindet sich tief im Innern der agilen Zwiebel und vermutet wohl, dass sich durch die agilen Werkzeuge automatisch ein besseres Ergebnis einstellt. Daraus ergibt sich eine mögliche Gefahr: Cherry Picking, also sich aus klassischen und agilen Methoden das auszusuchen, was dem Entscheider gerade nützt. Dann fühlt es sich für die Mitarbeitenden so an, als wäre Agile nur eine zusätzliche Belastung, weil das Daily eben täglich stattfindet, statt des vormals wöchentlichen Jour Fixes. Praktisch heißt das, es geht so weiter wie bisher. Das Unternehmen gewinnt dadurch nichts, denn: «A fool with a tool is still a fool» (Ron Weinstein). Scrum, aus dessen Baukasten das Daily stammt (vgl. Abbildung 2), ist eine Heuristik. Sie bedient sich der agilen Glaubenssätze, um hochkomplexe Probleme zu lösen, die sich nur schwer beschreiben und deshalb schwer in die klassische Wasserfallplanung übersetzen lassen. Die Dailys dienen dazu, sich gegenseitig auf den aktuellen Stand zu bringen und zu besprechen, wer was als nächstes tut – sie sind nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in einem normalen Scrum Cycle alles passiert.

 

2. Wir brauchen keinen Plan. Wir sind agil. Agil sein, heißt nicht, auf einen Plan ganz zu verzichten. Wer so vorgeht, lässt seine agilen Teams nackt im Wind stehen. Zwar brauchen die Kolleg*innen keinen bis zur Abnahme getakteten Plan. Wohl aber eine Idee, Vision oder Zielvorgabe, worauf das agile Projekt hinlaufen soll. Dazu gehört auch, Pläne zu schmieden, und zwar kontinuierlich, kleinteilig und innerhalb des Teams. Von außen muss deshalb das Warum oder das Was kommen sowie Grundvertrauen darin, dass sich ein agiles Team selbst organisiert (vgl. Triest & Arend, 2019, S. 157ff.) und aufgabenbezogen Pläne fasst.

3. Ich entscheide nichts. Auch nicht der Product Owner. Viele Unternehmen trauen sich nicht oder nur zaghaft, Verantwortung an den Product Owner eines agilen Teams abzugeben. Wenn es wirklich wichtig wird, sollen immer noch Gremien entscheiden oder diejenigen, die vor einer agilen Transformation schon auf den richtigen Stühlen saßen. Das geht fast immer schief, weil sich ein Product Owner dann verhält wie jemand, der ein Projekt leitet – und so zum Spielball der Geschäftsleitung verkommt. Tatsächlich sollen Product Owner aber die einzigen sein, die ins Team kommunizieren und Anforderungen formulieren. Ihre Aufgabe ist es, Bedürfnisse innerhalb der Organisation zu erkennen und zu priorisieren. Wo das nicht passiert, sollten die Unternehmen ihre agilen Rollen klären (vgl. ebd. S. 105ff., 159ff. und Schmiedlinger, Rasche, Thonfeld & Tuchen, 2021, S. 53ff., insb. S. 60–63).

4. Wer zum Teufel hat das verbockt? Das ist eine gefährliche Frage, weil sie nach Schuldigen sucht, statt zu betonen, was das Team aus einem Fehler gelernt hat. Fehler zu machen, ist in der agilen DNA fest verankert, weil es darum geht, sich einem großen Problem in kleinen Schritten zu nähern und ständig zu schauen, was funktioniert und was nicht. Dahinter steckt ein völlig anderes Menschenbild als jenes der industriellen Revolution, die Arbeitsteilung, Planung und möglichst wenig Irritationen als ideal betrachtet (Taylorismus). Agile Teams gehen von einer systemisch-konstruktiven Haltung aus: «Jeder Mensch handelt aus seiner Sicht im jeweiligen Augenblick und Kontext sinnvoll» (Oestereich & Schröder, 2019, S. 18). Mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, untergräbt dieses Ideal und unterminiert den freien Fluss der Ideen in Teams, weil jeder damit rechnen muss, an den Pranger gestellt zu werden.

5. Unsere Kundenberater*innen wissen am besten, was die Kund*innen wollen. Hinter dieser häufig getroffenen Fehlannahme steckt die Idee, dass Mitarbeitende und Kund*innen gleich oder zumindest äquivalent handeln und denken. Was wir gut finden, finden sie auch gut. Wer aber auf unterstellten Wünschen beginnt, ein Projekt durchzuführen, riskiert viel. Schlauer ist es, ständig zu validieren, ob das, was das eigene Unternehmen gerade entwickelt, dem entspricht, was der Markt will. Immerhin basiert das gesamte agile Mindset darauf, die Welt als ständig in Bewegung wahrzunehmen. Diese Bewegung aber können Mitarbeitende erfahrungsgemäß nicht simulieren, weil sie sich permanent mit ihrem eigenen Anschauungsobjekt – dem neuen Produkt oder dem nächsten Update – auseinandersetzen. Kund*innen dagegen beschäftigen sich damit nur genau in dem Augenblick, in dem sie ein Angebot nutzen. Darum gilt: So früh wie möglich die Zielgruppe um Rat fragen und sie dauerhaft einbinden.

6. Wir bauen den goldenen Henkel schon im MVP. Ein MVP – Minimal Viable Product – ist das am ehesten lauffähige Produkt und darum notwendigerweise nicht perfekt. «Verabschiede dich von perfekt, freunde dich an mit erledigt», schreibt Maria-Xenia Hardt (2021) über ihre Doktorarbeit, die sie teils unter erheblichem Zeitdruck erstellt hat. Das gilt beispielhaft für jedes agile Projekt. Nicht, dass man es nicht besser machen könnte, doch dafür bleibt noch Zeit, wenn es erstmal funktioniert. Zudem bestehen zwei gravierende Risiken, falls das MVP bereits einen vermarktungsfähigen Zustand (MMP) erreicht. Erstens wird häufig das Budget gekürzt, weil das Produkt angeblich fast fertig ist, und zweitens verlängern sich die Release-Zyklen, da sich niemand traut, ein unfertiges Produkt zu veröffentlichen. Reihenhäuser statt Luftschlösser bauen, führt eher zum Erfolg.

7. Straffer Zeitplan und knappe Ressourcen? Mit Scrum bekommen wir das hin! Die Wahrheit ist, dass sich Projekte mit Scrum meist aufwändiger, weniger schnell und mit höheren Kosten als mit einem vergleichbaren, klassisch als Wasserfall geplanten Projekt umsetzen lassen. Der Grund: Scrum versteht sich nicht als Liefermaschine, sondern als Heuristik um zu lernen. Wenn keine Zeit dafür besteht, Wissen aufzubauen, auszuprobieren und zu lernen, eignet sich Scrum nicht für das vorgesehene Projekt. Vielmehr baut die Entscheidung, Scrum einzusetzen, unnötigen Druck auf das Scrum-Team auf, bloß rechtzeitig fertig zu werden. Das Problem: Scrum macht inspect and adapt stark (vgl. Sutherland, 2002, S. 15–17), nicht follow suit, also stumpf dem zu folgen, was andere vorgeben – und sei es nur die Vorgabe, einfach zu machen, statt dem Sinn und Zweck agiler Methoden zu genügen und den Teams die Zeit einzuräumen, die sie brauchen, um zu lernen und sich zu verbessern. Besonders gefährlich ist dieses Vorgehen, wenn es bereits erfolgreiche Scrum-Projekte im Unternehmen gibt. Deren Sinn droht nachträglich Schaden zu nehmen.

8. Selbst mitdenken müssen, stand aber nicht in der User Story. User Stories müssen einfach geschrieben sein und nicht mit zu vielen Details überladen. Hänge das Bild im Kinderzimmer 1,50 Meter über dem Boden, 2 Meter von der rechten Wand entfernt mit einem 3cm Nagel auf und setze den Hammer im 45-Grad-Winkel an und schlage genau dreimal kräftig zu, ist keine sinnvolle User Story, wenn es darum geht, ein Bild aufzuhängen, ohne, dass es runterfällt. Im schlimmsten Fall trifft derjenige, der diese Anweisungen ausführt, die Stromleitung. Details auszuarbeiten und auftretende Schwierigkeiten zu umgehen, gehört zu den Kernaufgaben des agilen Teams. Vorab sollten alle beteiligten Personen klären, ob jeder den Kontext und das Ziel des Kunden – die User Story im wörtlichen Sinne – versteht. Das reicht. Anderenfalls gilt das berühmte Sprichwort: shit in, shit out.

9. Ich habe leider keine Zeit für die Retro. Wer die Retrospektive schwänzt, um keine Zeit für den nächsten Sprint zu verlieren, höhlt inspect and adapt (vgl. ebd.) aus und verhindert so, dass das Team lernt. Zudem bauen sich möglicherweise Spannungen auf, falls sich jemand im Team übergangen oder nicht ausreichend gewürdigt fühlt. Diesen Konflikt tragen Betroffene mit sich herum und stecken damit schlimmstenfalls alle anderen an. Weil niemand von diesen Befindlichkeiten weiß, bleibt unentdeckt, ob es sich um einen unglücklichen Einzelfall handelt oder um etwas, das andere Kolleg*innen genauso empfinden. Ein womöglich ernstes Problem bleibt unausgesprochen. Das ist Gift für die gesamte Firmenkultur. Wer skeptisch zu den Retros eingestellt ist, lässt sich häufig mit einer Scrum-Simulation überzeugen, dass sie sinnvoll sind und das Team weiterbringen.

Agilität richtig verankern

Fast alle diese Beispiele, warum Agilität im Unternehmen scheitert, lassen sich darauf zurückführen, dass viele Führungskräfte die neuen Methoden einfach verordnen. Ihnen ist nicht klar, dass sie sich für mehr als nur einen Werkzeugkasten entscheiden. Wer agile Teams fördern und deren Erfolg sicherstellen will, muss sich auf einen kulturellen Wandel einlassen, der auch Auswirkungen auf etablierte Führungskräfte hat. Dafür sollten sich Organisationen bewusst entscheiden (vgl. Schmiedlinger, Rasche, Thonfeld & Tuchen, 2021, S. 3–14). Das setzt auch voraus, zuerst das richtige Umfeld zu schaffen, damit agile Methoden florieren – agil sein zu wollen, weil das jetzt alle machen, führt dagegen nahezu sicher zu Frustrationen. Führungskräfte sollten nicht bloß imitieren was andere machen oder was in Büchern steht. «Being Agile» und «Agile Doing» unterscheiden sich stark voneinander, insbesondere darin, was erreicht werden soll – in der Beratersprache ist das der Impact. Und der findet vor allem im Kopf statt. Scrum, Kanban & Co. zielen darauf, das Lernen zu vereinfachen. Sie schaffen Räume, um sich auszutauschen und stellen Formate und Methoden vor, die das agile Mindset fördern. Sie stellen das Warum über das Wie. Darum ist agil sein auch so anstrengend, weil sich agile Teams das Warum permanent vergegenwärtigen müssen und keinen vorab gefassten Plan abarbeiten. Agilität gilt als ein Wertesystem zweiter Ordnung, das für obligatorisch und nicht optional hält, das Wozu und Wohin immer wieder von neuem auszuleuchten (Oestereich & Schröder 2019, S. 22).

Auf diese Klärung lassen sich alle agilen Methoden und Frameworks zurückführen. In seinem Aufsatz «Aufbruch in das Ungewisse» in OrganisationsEntwicklung Heft 4/2020 nennt Alexander Nicolai dies die «Logik des iterativen Innovierens», die sich innerhalb der agilen Teams abspielt und die für Unternehmen als übergeordnetes Leitbild dienen sollte, und erklärt, warum es sich dabei um einen «zeitlosen Kern» von Agilität handelt. Er beschreibt, wie aus der Not und einer simplen Webseite heraus Airbnb entstand. Die ersten drei Buchungen waren der MVP und noch nicht das fertige Produkt. Transferwise, Dropbox oder die Digitalbank N26 seien auf eine ähnliche Weise großgeworden. N26 ist auch deshalb ein gutes Beispiel, weil das Unternehmen derzeit mit der Bankenaufsicht im Clinch liegt. Im Juli 2021 hat die BaFin gegen N26 eine Geldbuße von 4,25 Mio. Euro verhängt, weil die Bank Lücken bei der Geldwäscheprävention nicht rechtzeitig geschlossen hat (BaFin, 2021). Hier prallen zwei völlig verschiedene Weltbilder aufeinander. Nicolai rät deshalb, Iterationsbarrieren abzubauen und sich eine flexible Distanz zum «operating core» zu erlauben: «Weit genug entfernt, um möglichst frei iterieren zu können, nah genug, um erfolgskritische Ressourcen hebeln zu können …» (Nicolai 2020).

Wer sich für dieses Mindset öffnet, bleibt ständig in Bewegung. Zwar gibt es auch in einer agil organisierten Arbeitswelt hin und wieder Aufgaben, die keinen Spaß machen. Eine Routine, die nicht selten zum Boreout führt, stellt sich dagegen kaum ein, weil verinnerlichte Agilität bedeutet, niemals an einem bestimmten Ziel anzukommen. Kein Unternehmen kann insofern jemals abschließen, sich agil zu transformieren. Auf den erreichten Gipfel folgt immer schon der nächste Change (vgl. Schmiedlinger, Rasche, Thonfeld & Tuchen 2021, S. 180–192). Wer agil mit Hilfe eines Transformationsteams werden möchte, sollte sich deshalb davor hüten, dieses Team später aufzulösen, sondern sich stattdessen fragen, wie es dazu beitragen kann, die agile Botschaft im Unternehmen weiterzutragen.

 

Sophie Hummel
Partner Senacor Technologies

Ann-Katrin Stehle
Senior Consultant Senacor Technologies, Frankfurt am Main

 

Literatur

• BaFin (2021). N26 Bank GmbH: BaFin setzt Geldbußen fest. https://zoe.ch/bafin
• Beck, K. et al. (2001). Agile Manifesto. www.agilemanifesto.org, zuletzt abgerufen am 6. Oktober 2021.
• Hardt, M.-X. (2021). Silicon-Valley Methoden im Studium: Verabschiede dich von «perfekt», freunde dich an mit «erledigt». Der Spiegel. https://zoe.ch/erledigt-statt-perfekt
• Hays AG (2015). Von starren Prozessen zu agilen Projekten: Unternehmen in der digitalen Transformation. https://zoe.ch/haysdigitransformation
• Hofert, S. (2018). Das agile Mindset: Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten. Springer-Gabler.
• Komus, A. et al. (2020). Studie Status Quo (Scaled) Agile 2019/2020. Hochschule Koblenz. www.status-quo-agile.de
• Lasnia, M. & Nowotny, V. (2018). Agile Evolution: Eine Anleitung zur agilen Transformation. BusinessVillage.
• Lencioni, P. (2002). The Five Dysfunctions of a Team: A Leadership Fable. Jossey-Bass.
• Nicolai, A. (2020). Aufbruch in das Ungewisse: Die Logik des iterativen Innovierens als zeitloser Kern agiler Innovationsmethoden. OrganisationsEntwicklung, Heft 4/2020, 46–51.
• Oestereich, B. & Schröder, C. (2019). Agile Organisationsentwicklung. Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisationen. Vahlen.
• Powers, S. (2006). What is Agile? Adventures with Agile. https://www.adventureswithagile.com/2016/08/10/what-is-agile/
• Schmiedlinger, C., Rasche, C., Thonfeld, E. & Tuchen, K. (2021). Agile Transformation. Der Praxisguide zum Change abseits des Happy Paths. Hanser.
• Sutherland, J. (2015). Die Scrum-Revolution. Management mit der bahnbrechenden Methode der erfolgreichsten Unternehmen. Campus.
• Triest, S. & Ahrend, J. (2019). Agile Führung: Mitarbeiter und Teams erfolgreich führen und coachen. mitp Verlag.


Kooperation als Grundsatzentscheidung

Facilitator Adam Kahane im Gespräch

Zusammenarbeit ist kein Wert an sich, sondern eine Abwägung von Kosten, Nutzen und der Mühsal der Auseinandersetzung mit anderen. Ein Gespräch mit Facilitator Adam Kahane, Direktor von Reos Partner in Montréal, über das Beseitigen von trennenden Hindernissen und die Entscheidung, welche Gesamtheit an Interessen gerade von Bedeutung ist.

ZOE: Bei der Lektüre Ihres Buchs hatte ich irgendwie die Vorstel­lung, dass Ihnen da jeder mehr oder weniger zustimmen müsste. Warum scheitern wir trotzdem so oft in der Zusammenarbeit?

Kahane: Das ist eine gute Frage. Das Interessante daran ist: Wenn es derart einleuchtend ist, warum denken dann so viele Leute, dass sie konventionelle Kollaboration machen müssen – und welche Risiken birgt das? Sie haben da einen nützlichen Begriff verwendet: Es ist eine rationalistische Herangehensweise. Mein Lehrer Kees van der Heijden argumentiert, dass die Arbeit der rationalistischen Schule zu Unternehmensveränderung und -strategie sowohl ubiquitär als auch lächerlich ist. Denn wenn man sich die Bedingungen ansieht, die für einen rationalistischen Ansatz in der Praxis notwendig sind, wird man erkennen, dass sie fast nie erfüllt werden. Man kann also sagen, dass irrationalerweise ein rationalistisches Paradigma dominiert.

Die Leute mögen die Idee von Zusammenarbeit zwar gut finden, tatsächlich aber ist Zwang die kulturelle Norm. Man könnte es auch als die eigennützige Option bezeichnen. Das hat zur Folge, dass Leute oft behaupten, dass sie zusammenarbeiten, aber eigentlich Zwang anwenden. Das ist pure Manipulation. Deshalb habe ich den Begriff Stretch gewählt: Es ist eine Dehnung wie beim Work-out im Fitnessstudio. Sie fühlt sich unbequem, seltsam und schmerzhaft an, bis man sich daran gewöhnt hat.

ZOE: Sie haben in der ganzen Welt gearbeitet, häufig Friedens­ prozesse moderiert, etwa in Südafrika, Kolumbien, Ecuador oder Thailand. Gibt es da signifikante Unterschiede oder ist es dieselbe Art der Zusammenarbeit wie in Unternehmen?

Kahane: Diese Situationen sind alle unterschiedlich und doch alle gleich. Von meinem Naturell her interessiere ich mich für das, was gleich ist, ich nähere mich diesen Dingen im Guten wie im Schlechten auf einer hohen Abstraktionsebene und sehe die Ähnlichkeiten.

Ich würde nicht sagen, dass meine Arbeit zwangsläufig Friedensarbeit ist, aber sie findet, ebenso wie die Arbeit von Reos Partners, zu hundert Prozent in Multi-Stakeholder-Systemveränderungsprozessen statt. Dabei handelt es sich um Personen, die i. d. R. in keiner formalen hierarchischen Beziehung stehen. Es kann durchaus gewichtige Macht- oder Ressourcenunterschiede zwischen ihnen geben, aber sie befinden sich nicht in derselben Organisationshierarchie.

Normalerweise kann niemand verfügen oder erzwingen, wie etwas gemacht wird. Zumindest nicht im Projekt an sich. Meiner Erfahrung nach verlangt eine Systemveränderung mit vielen Stakeholdern die Konzentration auf echte Zusammenarbeit, weil keiner eine Antwort erzwingen könnte. Alle Beteiligten haben immerzu die Option, auszusteigen. Sie sind freiwillig da und weil sie jederzeit gehen können, besteht der Bedarf nach Zusammenarbeit – es muss aufrichtig zugehen, kollaborativ und mehrere Gesamtheiten müssen bedient werden.

ZOE: In Ihrem neuen Buch «Facilitating Breakthrough» geht es um die vertikale und horizontale Dimension der Zusammenarbeit. Wie beeinflussen diese Zusammenarbeit?

Kahane: Das Buch gibt eine Neudefinition des Facilitators als jemand, der die Zusammenarbeit unterstützt. Diese Rolle kann von einem Berater, einer Führungskraft oder einem Manager, einem Teammitglied oder einem Coach übernommen werden. Konventionelle Zusammenarbeit ist meistens das, was ich vertikale Kollaboration nenne. Vertikal bedeutet hier lediglich, dass es ein Hierarchiegefälle zwischen dem Größeren und dem Kleineren sowie dem Oberen und dem Unteren gibt. Zum Beispiel, dass die einzelne Person gegenüber der Abteilung nachgeben muss, diese wiederum gegenüber  dem  Unternehmen als Ganzes sowie der Junior gegenüber dem Senior und der Nicht-Experte gegenüber dem Experten. Vertikale Facilitation ist durch die Gewichtung charakterisiert, beziehungsweise die Verwendung von Hierarchie, um einen Weg zu finden. Ich würde sagen, dass vertikale Facilitation die häufigste Form ist, sogar unter Facilitatoren, die sich selbst als sehr egalitär verstehen. Die Vorstellung, dass der Größere über dem Kleineren und der Obere über dem Unteren steht, ist in den meisten Kontexten derart grundsätzlich, dass sie Standard ist.

Dann gibt es eine weitere gebräuchliche Art der Facilitation: Ich nenne sie horizontale Facilitation. Hier ist Gleichwertigkeit das Prinzip. Oberste Priorität hat nicht das Wohl des Teams, des Unternehmens oder der Aktion als Ganzes, sondern das Wohl jedes einzelnen Teilnehmenden. Die Vorteile horizontaler Facilitation sind Autonomie und Vielfalt. Die Nachteile sind Zersplitterung und völliger Stillstand.

Leute behaupten oft zusammenzuarbeiten, aber eigentlich wenden sie Zwang an.

ZOE: Also braucht es letztlich eine Entscheidung für die eine oder für die andere Richtung?

Kahane: In meinem Buch argumentiere ich auf Basis dieser Definition, dass wir sowohl vertikale als auch horizontale Facilitation anwenden müssen, wenn wir systemischen Wandel ermöglichen wollen – sei es in Unternehmen oder in anderen sozialen Kontexten. Das ist eine klassische Polarität, wie sie Barry Johnson in seinem Buch über Gegensätze beschreibt, deshalb geht es nicht darum, die eine oder die andere Möglichkeit zu wählen. Es geht auch nicht darum, einen Kompromiss zu finden, sondern darum, zwischen horizontal und vertikal zu wechseln. Genau das nenne ich «Transformative Facilitation». Diese wechselt zwischen vertikaler und horizontaler Facilitation, um die oben erwähnten Nachteile zu reduzieren. Wenn man feststellt, dass man mit der horizontalen Facilitation zersplittert und zum Stillstand kommt, wechselt man zur vertikalen und so weiter. Das Hin- und Herwechseln ermöglicht das Vorwärtskommen.

ZOE: Wir sprechen über Facilitation. Was empfehlen Sie jeman­dem, der in einem Unternehmenskontext versucht, Zusammenar­beit zu fördern und zu unterstützen?

Kahane: Ein Facilitator ist jemand, der Zusammenarbeit möglich macht. Es ist mir wirklich ein Anliegen, den Begriff neu zu definieren. In einer Welt, in der Zwang eine begrenzte Reichweite hat, ist es unabdingbar, dass eine der primären Rollen von Führungskräften, Managern und anderen Teammitgliedern die Rolle des Facilitators ist. Dazu muss ich die Geschichte erzählen, in der das Buch seinen Ursprung hat: 2017 war ich Facilitator in einem Workshop in Uganda, nachdem das Friedensabkommen unterzeichnet worden war. Dieser brachte ehemalige Guerillas, Politiker, CEO und indigene Anführer zusammen, die eben erst einen 52-jährigen Bürgerkrieg beendet hatten. Dabei war auch ein Mann, den ich bereits vorher getroffen hatte und von dem ich überrascht war, ihn dort zu sehen: Francisco de Roux, er ist in Kolumbien sehr bekannt und war früher das Oberhaupt der dortigen Jesuiten. Erst in der Vorwoche war er zum Leiter der Wahrheits- und Versöhnungskommission ernannt worden. Auf die Frage, warum er hier sei, antwortete er, er habe gerade diesen neuen Job übernommen und es könnte dafür hilfreich sein, teilzunehmen. Am Ende des ersten Tages kam er auf mich zu und erklärte: Adam, ich erkenne, was du da tust. Ich antwortete, ok, cool – und was tue ich? Er sagte: Du beseitigst, was den Ausdruck des Geheimnisses behindert.

ZOE: Und was bedeutet das?

Kahane: Dieser Satz war die Inspiration für das neue Buch. Zwei Dinge folgen daraus. Erstens: Die meisten Facilitators, Führungskräfte und Manager denken, ihre Hauptaufgabe bestehe darin, Leute dazu zu bringen, Dinge zu tun. Francisco hat mir geholfen zu realisieren, dass man das so gut wie nie schafft. Ich kann meinen Lebenspartner oder meine Lebenspartnerin nicht dazu bringen, etwas zu tun, nicht meine Kinder, nicht meine Katze. Ich kann Leute, über die ich keine hierarchische Macht habe, nicht dazu bringen, irgendetwas Bestimmtes zu tun. Deshalb ist Facilitation ein sehr interessantes Prinzip. Denn es geht darum, wie man einen Beitrag in der Welt leistet, auch ohne, dass man es schafft, irgendjemanden dazu zu bringen, etwas zu tun. Francisco bringt es auf den Punkt: das Entscheidende ist nicht, irgendjemanden dazu zu bringen, etwas zu tun, sondern das Entscheidende ist, die Hindernisse zu beseitigen. Das ist eine ganz andere Perspektive, auf Facilitation und Management zu blicken.

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Adam Kahane – Biografie

Adam Kahane ist im kanadischen Montréal Direktor von Reos Partners, einem internationalen Sozialunternehmen, das Menschen dabei hilft, bei ihren wichtigsten und schwierigsten Problemen gemeinsam voranzukommen. Als Facilitator ist er rund um den Globus aktiv als Organisator, Gestalter und Vermittler von Prozessen, in denen Führungskräfte aus Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft gemeinsam an der Lösung von Herausforderungen arbeiten. Systemische Transformation, komplexe Situationen und die Lösung von Konflikten sind Adam Kahanes Spezialgebiete. Er hat in über fünfzig Ländern und in allen Teilen der Welt mit Führungskräften, Politikern, Generälen, Guerillas, Beamten, Gewerkschaftern, Gemeindeaktivisten, Vertretern der Vereinten Nationen, Geistlichen und Künstlern gearbeitet.

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ZOE: Was bedeutet es für einen Manager oder eine Beraterin kon­kret, die Hindernisse für Zusammenarbeit zu beseitigen?

Kahane: Von Paul Tillich gibt es das Buch «Liebe, Macht und Gerechtigkeit». Er formuliert sehr spezifische Definitionen, die sich vom üblichen Gebrauch dieser Begriffe unterscheiden. Macht, die alles antreibt, um sich selbst zu realisieren. Liebe als der Antrieb, das Getrennte zu vereinen. Und Gerechtigkeit als Struktur, die dafür sorgt, dass die Macht der einen, nicht die Macht der anderen auslöscht. Ich finde diese Definitionen gewaltig, sie erklärt viele Phänomene, denen wir der der Rolle als Facilitator und Manager*in begegnen. Um die Frage also mittels dieser Definitionen zu beantworten: Macht zu ermöglichen oder Hindernisse zu beseitigen, die Macht verhindern, bedeutet, jeden dazu zu befähigen, zu der zu erledigenden Sache das beizutragen, was er oder sie kann. Das bedeutet, Chancen zur Beseitigung kultureller, hierarchischer oder organisatorischer Hürden – jener Hürden, die eine Beteiligung an einem kollektiven Konzept oder eine Zusammenarbeit verhindern – zu erkennen, solche Chancen zu kreieren und ihnen Raum zu geben.

ZOE: Gibt es da noch mehr?

Kahane: Eine weitere praktische Umsetzung ist, die Hindernisse vor jenem zu entfernen, was ich Liebe nenne, quasi der Antrieb, das Getrennte zu vereinen. Auch hier gibt es strukturelle Hürden, die verhindern, dass unterschiedliche Einheiten miteinander verbunden sind und sie so zu Silos machen. Hindernisse für die Beziehung zwischen Kunden und Unternehmensmitarbeitenden oder zwischen Community-Mitgliedern und Mitarbeitenden. Hindernisse für die Beziehung zwischen dem Unternehmen und seinem sozialen und natürlichen Umfeld. Man könnte auch hinzufügen: Hindernisse für die Beziehung zwischen einer Person und ihrem eigenen Selbst. Das sind alles trennende Dinge. Und die praktische Aufgabe ist es, diese Hindernisse zu entfernen.

Das nächste Phänomen ist Gerechtigkeit, die für mich ein neues Element im Buch ist. Ich habe lange gebraucht, um das zu entpacken, um deutlich zu machen, dass die Strukturen entscheiden, ob einige Menschen etwas beitragen und sich verbinden, andere Menschen hingegen außenvorbleiben. Üblicherweise sind es meist Leute in höheren Positionen, die mehr Freiraum haben. Sie dürfen mit anderen sprechen, sie dürfen zu Meetings gehen, sie dürfen sich äußern, sie dürfen frei reden, sie dürfen neue Ideen vorschlagen. Wohingegen Leute in niedrigeren Positionen, Angehörige marginalisierter Gruppen, Minderheiten, Frauen oder Mitarbeitende mit direktem Kundenkontakt in den meisten Unternehmen weniger Möglichkeiten haben, etwas beizutragen und sich zu verbinden. Das ist unfair, ungerecht und hemmt Zusammenarbeit. In diesem Sinn versuche ich, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, welche Veränderungen man in der Struktur anstreben muss, um Beitrag, Verbindung und Gleichheit zu ermöglichen.

ZOE: Wenn Sie sich heute Ihren Ansatz ansehen: Was überrascht Sie selbst am meisten?

Kahane: Mich überrascht, dass der Gedanke an Alternativen zu Zwang, zu Herumkommandieren oder brutaler Hierarchie wahrscheinlich schon sehr lange existiert. Als ich «Collaborating with the enemy» geschrieben habe, war mir bewusst, dass die konventionelle Zusammenarbeit eine vertikale ist, aber nicht, dass ich mich einseitig auf die Nachteile konzentriere. Bei Shell arbeiteten wir mit Charles Hampden-Turner, der von Dilemmata spricht, statt von Gegensätzen. Sein Kernpunkt: Es ist der große Fehler von Unternehmen, fälschlicherweise zu glauben, sie hätten die Wahl, wenn sie vor einem Dilemma stehen. Tatsächlich – und das ist bemerkenswert – identifizierte Hampden-Turner ein Bündel an Dilemmata bei Shell, das in seiner Präzision so schockierend war, dass es intern im Unternehmen nur informell herumgereicht wurde. Sein eigentlicher Punkt war wunderbar: Zentralisierung versus Dezentralisierung oder explizite Dienstleistungsverträge versus informelle Absprachen sind z. B. keine Wahlmöglichkeiten, sondern Dilemmata. Und wer denkt, er hätte die Wahl, wird zehn Jahre Zentralisierung bekommen und dann zehn Jahre Dezentralisierung.

ZOE: Es gibt also kein Entweder-­oder?

Kahane: Der erste Satz meines Buches lautet: «Building forward together is becoming less straight forward.» Mein Wortspiel mit dem Ausdruck «straight forward» enthüllt, dass Zusammenarbeit eben nicht geradlinig ist. Sie ist eine Spirale. Man muss sich in ihr zurück- und vorwärts bewegen. Die wesentliche Fähigkeit ist dabei, wahrnehmen zu können, was gerade passiert und welchen Schritt man als nächstes machen muss. Das kann man nicht im Voraus prognostizieren.

ZOE: Mr. Kahane, vielen Dank für das interessante Gespräch.


Können Sie Change?

Was Veränderungskompetenz ausmacht

Veränderungskompetenz ist ein vielschichtiges Konstrukt. In sich stetig im Wandel befindenden Unternehmen spielt sie eine immer größere Rolle. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sowie ein agiles Mindset (Hofert, 2018) kennzeichnen mittlerweile die Anforderungsprofile im Recruiting sowie der Personalentwicklung. Die Lust und Fähigkeit zur Veränderung wird zur Schlüsselkompetenz auf allen Ebenen in den Unternehmen. Doch was ist eigentlich eine «Veränderungs-kompetenz»? Um sie rekrutieren und entwickeln zu können, müssen wir unter die Oberfläche schauen.

Zunächst umfasst Veränderungskompetenz als sog. Meta-Kompetenz ein Set an Ressourcen, mit dem kognitive und praktische Fähigkeiten sowie soziale Verhaltenskomponenten wie Haltungen, Emotionen, Werte und Motivation mobilisiert werden. Das bedeutet ganz praktisch, Veränderungen aktiv mitzugestalten, ist nicht nur eine Frage des Könnens, sondern vor allem eine Frage des Wollens. Wissen und Können sowie die individuelle Motivation zum Wandel müssen zusammenspielen. So bedeutet das Vorhandensein von Veränderungsfähigkeiten (leider) noch lange nicht, dass die entsprechende Bereitschaft, sich auf das Neue einzulassen, ebenso ausgeprägt sein muss. Diesen Aspekt gilt es in Personalauswahl und -entwicklung zu berücksichtigen. Schauen wir uns dieses Zusammenspiel genauer an. Ein umfassendes Konzept zur Veränderungskompetenz von Mitarbeitenden legt Szebel (2015) vor. Veränderungskompetenz umfasst zunächst die Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft (das Können und Wollen). Wissen und Erfahrung in Bezug auf  Veränderungsprozesse ist ein ebenso wichtiger Bestandteil wie die individuellen Persönlichkeitsdispositionen. Eingebettet ist der Mitarbeitende in den organisationalen Kontext und damit auch in den jeweiligen Veränderungskontext. Dieser stellt einen wichtigen Einflussfaktor vor allem auf die sog. spezifische Veränderungsbereitschaft dar (siehe Abbildung 1).

 

Verändern können – Zusammenspiel von Persönlichkeit und Fähigkeiten

Kompetent mit Veränderungen umzugehen, verlangt zum einen nach einem ganzen Set an verschiedenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Wichtig ist hierbei festzustellen, dass Mitarbeitende über ein möglichst breites Verhaltensrepertoire sowie entsprechende entsprechende Handlungsstrategien verfügen, welche ihnen einen flexiblen Umgang mit verschiedenen Veränderungssituationen erlauben. Dieses Phänomen bezeichnet Szebel als «agile Anpassungsfähigkeit» (Szebel, 2015, S. 110). Sie umfasst die Selbststeuerung (Selbstreflexion, Resilienz) sowie die Flexibilität auf verschiedene Situationen entsprechend zu reagieren (Problemlösefähigkeit, Umgang mit Informationen) als auch die Fähigkeit zur Umsetzung (Fokussierung, Zielorientierung).

Zum anderen kommen auf Seiten der Persönlichkeit stabile, überdauernde Eigenschaften ins Spiel wie z. B. Selbstwirksamkeit, Optimismus, positives Selbstwertgefühl, Offenheit für Neues, Extraversion, Risikofreude, Ambiguitätstoleranz (einen Überblick liefert Vakola et al., 2013). Stabile Merkmale der Persönlichkeit bieten in Bezug auf Personaleinstellung oder -entwicklung die Möglichkeit der standardisierten Messung mit Hilfe von Fragebögen (z. B. NEO Fünf-Faktoren Inventar nach Costa & Mc Crae, 2008). Doch was damit erfasst wird, indiziert eher das Vorhandensein einer allgemeinen Veränderungsbereitschaft der Mitarbeitenden.

Verändern wollen — Bedeutung der spezifischen Veränderungsbereitschaft

Die Unterscheidung in eine allgemeine und spezifische Veränderungsbereitschaft klärt die verschiedenen Reaktionsweisen von Mitarbeitenden im Wandel auf (siehe Abbildung 2).

Die spezifische Bereitschaft stellt eher eine emotionale und kognitive Einstellung gegenüber dem konkreten Veränderungsvorhaben dar. Sie ist damit durch den jeweiligen Veränderungskontext, also durch die Gestaltung des Change-Projektes, beeinflussbar. Wohingegen die allgemeine Veränderungsbereit als zeitlich stabil und änderungsresistent anzusehen ist, da sie auf Persönlichkeitsdispositionen beruht. Personen können sich demnach generell im Unternehmen als veränderungsbereit zeigen, «einen spezifischen Veränderungsprozess jedoch ablehnen» (Szebel, 2015, S. 106). Dies hat Implikationen für die Personalauswahl: Selbst wenn bei der Einstellung eine neue Mitarbeiterin z. B. Offenheit für Neues bewiesen hat (stabile, messbare Persönlichkeitseigenschaft), kann sich diese Mitarbeiterin trotzdem im konkreten Veränderungsprojekt gegen den Wandel stellen (spezifische, negative Veränderungsbereitschaft). Im konkreten Change-Vorhaben lässt sich jedoch die spezifische Haltung des Einzelnen durch die Gestaltung des Veränderungskontextes durch z. B. Kommunikation und Involvement beeinflussen. Damit wird die Bedeutung der motivierenden Change-Kommunikation nochmal deutlich (vgl. Dold & Röbcke-Gronau, 2018).

 

«Veränderungen aktiv mitzugestalten, ist nicht nur eine Frage des Könnens, sondern vor allem eine Frage des Wollens.»

Demnach sollte bei der Einstellung neuer Mitarbeitender auf die Ausprägung der Persönlichkeitseigenschaften geachtet werden, die positiv mit der allgemeinen Veränderungsbereitschaft zusammenhängen. Ebenso können die einzelnen Fähigkeiten zur Veränderung wie z. B. Selbstreflexion oder Problemlösefähigkeit mit etablierten Methoden der Eignungsdiagnostik wie simulative Verfahren oder biografische Verfahren erfasst werden. Geht es jedoch um die konkrete Bereitschaft, in einem Change-Projekt aktiv mitzuwirken, sind wir gefordert den organisationalen Kontext beziehungsweise den Change-Prozess zu gestalten.

 

Resistance to change oder readiness for change?
Die persönliche Entscheidung für oder gegen den Wandel hängt vom Veränderungskontext ab. Besonders Aspekte wie «die wahrgenommene Unterstützung durch die Führungskraft, die Kommunikation der Veränderung, Möglichkeiten der Partizipation» (Szebel, 2015, S. 108) fördern die Veränderungsbereitschaft von Mitarbeitenden in Bezug auf ein spezifisches Veränderungs-vorhaben. Diese Faktoren zur Gestaltung von Change-Projekten sind nicht neu. Ihre besondere Wirkung jedoch auf die spezifische Bereitschaft jedes Einzelnen erklärt, warum Change Agents trotz einer agilen Belegschaft auf Widerstand stoßen – auch als resistance to change bekannt (Erwin & Garman, 2010).

«Die persönliche Entscheidung für oder gegen den Wandel hängt vom Veränderungskontext ab.»

Grundsätzlich wird empfohlen Widerstand als eine Form von Auseinandersetzung der Beteiligten zu verstehen, die hilfreich ist, um die Qualität organisationaler Entscheidungsprozesse im Change zu verbessern. Bedenken der Mitarbeitenden sprechen daher eher für eine aktive Auseinandersetzung und für ein gewisses Involvement, welches positiv zu sehen ist, im Gegensatz zu einer eher gleichgültigen Haltung gegenüber der Veränderung (Ford et al., 2008, Bateh et al., 2013). Damit ist die Wahrnehmung bzw. Reaktion der Organisation auf die Bedenken der Beteiligten entscheidend für den Erfolg eines Veränderungsprojektes. Erwin & Garman (2010) fassen zusammen, welche Faktoren in Veränderungsprozessen den Widerstand von Mitarbeitenden beeinflussen können: die Qualität von Kommunikation und Information über das Veränderungsvorhaben, das Verständnis der Beteiligten bezüglich der konkreten Erwartungen an sie, die persönliche Einschätzung, wie der Prozess ihr Arbeitsumfeld verändern wird und wie sie dabei tatsächlich unterstützt werden. Des Weiteren sollte die konsistente Kommunikation der Führungskräfte eine Einheit zwischen Inhalt und Verhalten darstellen (Vorbildwirkung des Managements). Ziel sollte es sein, Vertrauen bei den Beteiligten zu schaffen und Offenheit gegenüber der Veränderung zu erzeugen.

Widerstand kann jedoch nur zu Beginn eines Change-Programmes antizipiert werden und somit in die Planung integriert werden. Anders ist es bei der sogenannten readiness for change, dem proaktiven Verhalten gegenüber dem Change (Oreg et al., 2011). Readiness for change steht für eine umfassende Einstellung oder Haltung, die Veränderung kognitiv und emotional zu akzeptieren und daher den Status quo aktiv verlassen zu wollen. Wichtig ist hier die kognitive und emotionale Ebene im Change zu adressieren, z. B. über die Kommunikation oder Führung. Eine positive Veränderungsbereitschaft kann vor allem im Vorfeld des Change-Prozesses beeinflusst werden. Die zentralen Stellschrauben dafür lauten (Holt et al., 2007):

• Unter welchen Rahmenbedingungen findet der Change statt? – Interner Kontext
• Was genau soll geändert werden? – Changespezifischer Inhalt
• Wie sieht der Veränderungsprozess genau aus? – Transparenz über den Prozess

Für die spezifische Veränderungsbereitschaft ist es wichtig, dass die beteiligten Personen glauben, dass die Veränderung notwendig ist, dass sowohl sie als auch die Organisation über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen, den Wandel zu bewältigen (Selbstwirksamkeit), und dass die Veränderung einen positiven Nutzen für sie hat (Rafferty et al., 2013). Die Handlungsempfehlungen, die sich in Bezug auf den Umgang bzw. die Gestaltung von resistance to change und readiness for change ableiten lassen, finden sich in Abbildung 4.

Fazit

Um Veränderungskompetenz zu fördern, muss man sowohl konkrete Fähigkeiten und Bereitschaften sowie Persönlichkeitsdispositionen des Mitarbeitenden in den Blick nehmen. In der  Personalauswahl und -entwicklung ist es hilfreich folgendes zu unterscheiden: stabile, messbare Merkmale, die der Personalauswahl dienen können und weniger stabile Merkmale, die beeinflussbar sind und im konkreten Change adressiert werden können. Für veränderungsresistente Persönlichkeiten wird es in Zukunft immer schwerer werden, in den sich stetig im Wandel befindenden Unternehmen Akzeptanz zu finden. Hier werden dringend Konzepte benötigt, eine Persönlichkeitsentwicklung zumindest mittelfristig zu ermöglichen. Die Entscheidungshoheit liegt letztlich bei den Unternehmen: Der Wert bzw. Beitrag eines Menschen in der Organisation hängt vielleicht (?) nicht einzig und allein von dem Merkmal der Veränderungskompetenz ab.

 

Prof. Dr.-Ing. Ina Kohl
Business & Law School Berlin, Professorin für Wirtschaftspsychologie

 

Literatur

• Bateh, J., Castaneda, M. E. & Farah, J. E. (2013). Employee Resistance to Organizational Change. International Journal of Management & Information Systems (IJMIS), 17(2), 113-116.
• Costa Jr, P. T. & McCrae, R. R. (2008). The Revised NEO Personality Inventory (NEO-PI-R). Sage Publications, Inc.
• Dold, S. & Röbcke-Gronau, C. (2018). Aufwärts, abwärts, seitwärts. Worum es bei erfolgreicher Kommunikation im Wandel heute gehen muss. OrganisationsEntwicklung, 37(4), 29-68.
• Erwin, D.G. & Garman, A.N. (2010). Resistance to organizational change: Linking research and practice. Leadership & Organization Development Journal, 31(1), 39-56.
• Ford, J. D., Ford, L. W. & D’Amelio, A. (2008). Resistance to change: The rest of the story. Academy of management Review, 33(2), 362-377.
• Hofert, S. (2018). Das agile Mindset. Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten. Springer Gabler.
• Holt, D. T., Armenakis, A. A., Feild, H. S. & Harris, S. G. (2007). Readiness for Organizational Change: The Systematic Development of a Scale. The Journal of Applied Behavioral Science, 43(2), 232-255.
• Oreg, S., Vakola, M. & Armenakis, A. (2011). Change recipients’ reactions to organizational change: A 60-year review of quantitative studies. The Journal of applied behavioral science, 47(4), 461-524.
• Rafferty, A. E., Jimmieson, N.L. & Armenakis, A. A. (2013). Change Readiness: A multilevel Re-view. Journal of Management, 39(1), 110-135.
• Szebel, A. (2015). Veränderungskompetenz von Mitarbeitern. Eine empirische Untersuchung zur differentiellen Konstrukterschließung der individuellen Veränderungskompetenz von Mitarbeitern unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses dispositionaler Persönlichkeitsfaktoren. Dissertation, Universität zu Köln.
• Vakola, M., Armenakis, A. & Oreg, S. (2013). Reactions to organizational change from an individual differences perspective: A review of empirical research. In S. Oreg, A. M. & R. By (Hrsg.): The Psychology of Organizational Change: Viewing Change from the Employee’s Perspective (pp. 95-122). Cambridge University Press.